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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Nachschuss

Bellos, A. – Futebol. The Brazilian Way of Life

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Bellos, A. – Futebol. The Brazilian Way of Life

Der Fußballsport bildet für Bellos letztendlich den Mikrokosmos des größten lateinamerikanischen Landes. In der Welt des brasilianischen Fußballs treten daher alle gesellschaftlichen Widersprüche offen zu Tage, zugleich bleibt er aber das Symbol für harmonische Rassenbeziehungen und nationale Identität. Ein Brasilien ohne Fußball wäre in dieser Sicht kaum denkbar. Der Stil des „Futebol do Brasil“ wird dabei in Kategorien der Musik beschrieben. Mit seiner Betonung des Dribblings, der Tricks und Finten, der Improvisation mit dem ganzen Körper legt dieser Spielstil den Vergleich mit dem Samba (als Tanz und als Lied) geradezu zwingend nahe. Brasilianischer Fußball ist für Alex Bellos eben visionärer Kunst-Fußball und gelebte Volkskunst. Dazu passen sicherlich auch die im Buch angeführten Aussagen des schottischen Fußballers Archie Mc Lean, der ab 1912 für mehrere Jahre in Sao Paulo gespielt hat: „There were great players there, but they were terribly undisciplined. … During a game a couple of players tried to find out who could kick the ball highest“ (S. 35).

In diesem Buch findet man zwar jede Menge Fakten über das fünftgrößte Land der Erde, aber vor allem Geschichten und Mythen rund um den Ball. Der Autor berichtet so zum Beispiel über die brasilianischen Profi-Fußballspieler Marcelo Marcolino, Messias Perreira und Marlon Jorge, die in der ersten Liga der Faröer-Inseln beim Club B68 angestellt und dort den widrigen Wetterbedingungen sowie der rustikalen Spielauffassung ihrer Mit- und Gegenspieler ausgesetzt sind. Weiter erfahren wir, dass gegenwärtig rund 5000 Brasilianer als Profis im Ausland spielen. Neben den Faröern sind diese unter anderem in Armenien, Australien, Haiti, Libanon, Vietnam, China, Senegal oder Jamaika tätig. Zahlreiche dieser Fußballspieler zählen nicht nur zu den besten Botschaftern ihres Heimatlandes, sondern erweisen sich bei genauerem Hinschauen ebenfalls als Arbeitsmigranten, die auf der Flucht vor der Armut der Favela in der ersten Fußballliga eines Entwicklungslandes gelandet sind. Die ebenso facettenreiche wie nachdenklich stimmende Globalisierung des Spiels erzeugt dabei in Brasilien gewissermaßen eine eigene Fußballindustrie: Heute sind dort rund 23000 hauptberufliche Fußballer registriert, die in 500 Profi-Vereinen um eine Anstellung ringen. Diese gigantische Konjunktur des Fußballs lässt Bellos von einem Gewährsmann prägnant kommentieren: „The best way to project yourself in Brazil is either to start a church or a football club. … People use football clubs to serve their own interests“ (S. 21). Diese „Spielauslegung“ ist nun nicht erst seit Berlusconi, Kirch, MV und Co. auch in Europa anzutreffen.

Als interessant erweisen sich ferner auch die Ausflüge in die Geschichte des brasilianischen Fußballsports, die 1894 (sechs Jahre nach Abschaffung der Sklaverei) beginnt. Während zunächst vor allem Anglo-Brasilianer (die mit dem Fußballspiel aber erst nach Beendigung der Cricket-Saison beginnen) oder deutschstämmige Einwanderer (die 1900 in Rio Grande den ersten Fußballverein gründen) das Spiel praktizieren, ist der Fußball schon um 1910 die bei allen Brasilianern populärste Sportart. Das Dickicht der ethnischen Beziehungen in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts dokumentiert nicht zuletzt die Episode um Vasco da Gama, den portugiesischen Club Rio de Janeiros. Dieser Verein wurde 1923 vor allem deshalb Meister der ersten Liga, weil er farbige Spitzenspieler an sich binden konnte. Da eine direkte Bezahlung der Spieler verboten war, wurden diese kurzerhand von portugiesischen Fabrikanten und Ladenbesitzern angestellt. Trotz erheblicher Folgeprobleme mit den anderen Vereinen der Liga war Vasco da Gama der erste brasilianische Fußballclub, in dem die Hautfarbe der Spieler ebenso nebensächlich war wie ihr sozialer Hintergrund.

Weitere Kapitel diskutieren die Aneignung des Fußballs durch die Indianerstämme, stellen die eigenartige brasilianische Fankultur vor oder porträtieren den symbolischen Dualismus von Garrincha und Pelé. Alex Bellos thematisiert des weiteren ein brasilianisches Trauma, dass uns Europäern in seiner nationalen und emotionalen Tragweite bislang kaum geläufig sein dürfte: Die Niederlage im WM-Endspiel 1950 gegen Uruguay. 1:2 im heimischen Maracana-Stadion. Alle Triumphe der folgenden Jahrzehnte haben anscheinend diese als Katastrophe empfundene Niederlage („Our Hiroshima“) nur bedingt kompensieren können. Die besondere Bedeutung dieses Ereignisses wird darauf zurückgeführt, dass es in eine Zeit des demokratischen und ökonomischen Aufbruchs fiel und diese gesellschaftliche Grundstimmung quasi konterkariert habe. Das WM-Endspiel 1950 meint im kollektiven (Unter-) Bewusstsein Brasiliens offenbar Ähnliches, was mit umgekehrten Vorzeichen die WM 1954 für Deutschland repräsentiert. In diesem denkwürdigen Match gelang Friaca übrigens etwas, was weder Garrincha, Pelé, Zico oder Ronaldo vergönnt gewesen ist: Als bislang einziger Brasilianer erzielte er auf heimischen Boden in einem WM-Endspiel ein Tor. Dieser Traum ist – siehe oben – für Herrn Friaca allerdings eher zum Alptraum geworden. Oder wie Alcides Gigghia, der Schütze des Siegtores für Uruguay, noch nach fünfzig Jahren zu Protokoll gibt: „You know, sometimes I feel like I am Brazil´s ghost. I´m always in their memories. In Uruguay we lived the moment. Now it´s over“ (S. 76). Erst achtundvierzig Jahre – und viele Legenden, Stars und Skandale – später hat die brasilianische Fußballnationalmannschaft 1998 wieder einmal ein WM-Endspiel verloren. Und vier Jahre danach den Titel gewonnen. Wenn der Fußball eine Heimat hat, dann ist das eben Brasilien, wo dieser Sport Kunst, Karneval, Religion, Machtinstrument, Spekulationsobjekt und Lizenz zum Gelddrucken sein kann. Und wenn es einen Fußballgott gibt (Bob Marley?!), dribbelt dieser wohl entspannt an der Copacabana und liest bei kühlen Getränken gelegentlich ein Kapitel im Buch von Alex Bellos.

Wie fast schon zu erwarten, endet das Buch mit einem sokratischen Dialog. Gewidmet ist dieser dem WM-Team von 1982 und ihrem Mannschaftskapitän Socrates. Für Bellos bildeten Socrates, Zico, Falcao, Oscar, Serginho und Co. eine der letzten Auswahlmannschaften, die noch genuinen brasilianischen Kunst-Fußball zelebrierte. Und die in günstigen Momenten eine dem Fußball eigene Verbindung von Leidenschaft, Moral und Lebenskunst erahnen ließ. Weltmeister sind sie damals selbstverständlich nicht geworden. Aber wie hat Bellos an anderer Stelle lakonisch festgehalten: „Brazil is not a country of winners. It is a country of a people who like to have fun“ (S. 115).

Abschließend sei noch erwähnt, dass die typisch britische Cover-Gestaltung im wahrsten Sinne des Wortes als vorbildlich bezeichnet werden muss. Auf dem Cover sind als Zeichnungen einige der Entwürfe abgebildet, die dem damals neunzehnjährige Aldyr Garcia Schlee 1953 als Vorlagen für ein neu zu schaffendes brasilianisches Nationaltrikot gedient haben. „Futebol. The Brazilian Way of Life“ gehört für mich zu den Büchern, die man unbedingt gelesen haben muss und immer griffbereit in seiner Nähe wissen will.

Jürgen Schwier

Bellos, A. (2002), Futebol. The Brazilian Way of Life. London : Bloomsbury Publishers (ca. 12,90 ).

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