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Bundesliga

Oliver Fritsch | Dienstag, 4. Mai 2004 Kommentare deaktiviert für Bundesliga

„Sprengstoff in Stuttgart – geht Trainer Magath?“ (NZZ) – Haareraufen in Berlin – „Meisterschaften und Meineide“ (FAZ), 100 Jahre Schalke 04, und alle gratulieren u.v.m.

VfB Stuttgart – VfL Bochum 1:1

Noch bevor der Boss überfahren wird, muss die Nachfolgeregelung in der Schublade liegen

Martin Hägele (SZ 4.5.) bemerkt Wut und Ruhe in der Stuttgarter Trainerdiskussion: „Der Getränkehändler und sein Freund aus Steinenbronn, die Dauerkarten beim VfB für den exklusiven Korridor zwischen Presseblock und Vip-Logen besitzen, waren außer sich. Die laute Wut des Duos entlud sich in der Aufforderung an die Journalisten, endlich die Wahrheit über Felix Magath zu schreiben: der Stuttgarter Teammanager sei ja längst ein Bayer, er solle schnell weiterziehen Richtung München. Magath habe seine Mannschaft mit der Nominierung des Schweizers Hakan Yakin absichtlich geschwächt, er spiele jetzt schon für den neuen Arbeitgeber und tue alles dafür, dass die Herrschaften von der Säbener Straße am Saisonende in der Tabelle vor dem VfB Stuttgart stünden. Ihre Informationen über den anstehenden Trainerwechsel hatten die beiden heißgelaufenen Fans aus Bild am Sonntag bezogen. Der Co-Autor der Enthüllungsgeschichte über die Trainer-Pläne der Bundesliga (Magath zu Bayern, Augenthaler zu Hertha, Daum zurück zum VfB) musste sich deshalb die Frage gefallen lassen, ob er mit Christoph Daum, dem Meistertrainer von Fenerbahce Istanbul, vor dieser Story eine Wasserpfeife geraucht habe. Das Blatt beruft sich jedenfalls auf ein Treffen zwischen Daum und einem VfB-Delegierten in einem Istanbuler Golfklub. Nun gehört das Spekulieren mit den wenigen großen Namen immer mehr zum Mediengeschäft, und die Lauscher aus Springers Frontorgan gelten gewöhnlich als gut informiert, auch weil von interessierten Kreisen Botschaften dort lanciert werden. Unvorstellbar erscheint freilich das Comeback Daums am Neckar. Der Mann hat im und ums Rote Haus zu viel verbrannte Erde hinterlassen. Und der neue Vorstandsvorsitzende Erwin Staudt sowie Aufsichtsratschef Dieter Hundt, die bei ihrer Personalpolitik zuvorderst auf das Attribut seriös achten, werden das mühevoll reparierte Image des Cannstatter Traditionsklubs nicht mit einem am Kokain gescheiterten Bundestrainer-Kandidaten belasten, der wie noch kein anderer Trainer zuvor Millionen an der Nase herum geführt hat. In der Stuttgarter Zeitung, dem wichtigsten Blatt am Ort, wird Christoph Daum, der vor ein paar Monaten ja noch Türke werden wollte, nicht einmal erwähnt. Dort schließt VfB-Chef Staudt allerdings nicht aus, „dass uns Felix Magath verlässt“. Der ehemalige IBM-Vorstandsvorsitzende: „In der Wirtschaft gibt es eine goldene Regel, die lautet: Noch bevor der Boss überfahren wird, muss die Nachfolgeregelung in der Schublade liegen.“ Die Gesetzmäßigkeiten im Fußball-Metier hat Staudt schnell verinnerlicht.“

Michael Ashelm (FAZ 4.5.) fügt hinzu: „Der FC Bayern München spielt in den Überlegungen des VfB Stuttgart derzeit eine besondere Rolle. Seit Wochen befinden sich die Schwaben im Wettstreit mit dem deutschen Rekordmeister um den zweiten direkten Qualifikationsplatz für das große Fußballgeschäft in der Champions League. Nach dem mageren 1:1 mußte in diesem Zweikampf ein Rückschlag hingenommen werden. Doch für mehr Aufregung sorgen in diesen Tagen die immer öfter diskutierten Wechselgerüchte um den Trainer und Stuttgarter Teammanager Felix Magath, der von einigen schon spekulativ zur nächsten Saison als Nachfolger von Ottmar Hitzfeld beim FC Bayern gesehen wird. Dem widerspricht nun der VfB-Präsident Erwin Staudt gegenüber dieser Zeitung: „Mein Umfeld ist total ruhig. Ich habe keine Indizien, daß Magath weggeht. Wenn ich mit ihm darüber rede, sagt er mir immer, daß es keinen Anlaß zur Besorgnis gebe.“ Das klingt zwar logisch, hört sich aber nicht so stark an, als würde Staudt selbst hundertprozentig darauf vertrauen. So betont der Präsident, daß der Klub „auf alle Eventualitäten vorbereitet“ sei.“

Ich habe viel für den VfB getan, da kann ich auch einmal an mich denken

Oliver Trust (FR 4.5.) ergänzt: “Klar ist, die Stuttgarter befinden sich drei Spieltage vor Saisonschluss in einer brisanten Lage. Tauchen bei Hitzfeld in München immer mehr Zweifel auf, ob es gut geht, wenn er sein „Gnadenjahr“ in München bis 2005 durchzieht, so gibt es diese Zweifel auch in Stuttgart. Bei der schwachen Vorstellung gegen Bochum murrten Teile des Publikums. Die Stimmung könnte schnell gegen Magath kippen, wenn Siege auf der Zielgeraden ausbleiben und kein klares Bekenntnis sowie eine Vertragsverlängerung folgen. Magath aber sitzt da wie immer und sieht aus wie ein Rätsel aus Fleisch und Blut. Mit stoischer Ruhe rührt er im Pfefferminztee. „Zu München sage ich nichts mehr“, sagt er und grinst in die enttäuschten Gesichter. Ende der Durchsage. Der 50-Jährige hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass ein Vertrag bei Bayern eine Art Lebenstraum wäre. „Ich habe viel für den VfB getan, da kann ich auch einmal an mich denken“, sagt er zu seiner Weigerung, seinen Vertrag in Stuttgart jetzt schon zu verlängern. In der Führungsetage der Schwaben regt sich Verständnis für Magath. „Ich kann das Gänsehautgefühl bei einem Trainer verstehen, wenn ihm der Branchenführer ein Angebot vorlegt“, sagt Staudt. „Wir reden in der Mannschaft nicht über dieses Thema“, behauptet Keeper Hildebrand. So entspannt wie möglich saß er auf der Interview-Couch des Südwestrundfunks. „Wir lachen über all die Spekulationen.“ Erst wenn die Kameras abgeschaltet sind, gestehen die Spieler, dass sie das Thema Magath sehr wohl beschäftigt.“

Tobias Schächter (taz 4.5.) verlangt Klarheit statt Gerüchten: „Nach dem 1:1 kündigte der Spielervermittler Dusan Bukovac in einem Hintergrundgespräch spektakuläre Trainer- und Managerwechsel in der Bundesliga an. In einem mit Pressevertretern heillos überfüllten Nebenzimmer eines kirgisischen Restaurants in Bad Cannstatt bat der Bulgare um Stillschweigen. Bukovac gab den Wechsel von VfB-Trainer Felix Magath zu Fenerbahce Istanbul bekannt. Die Stelle in der Türkei wird frei, weil Christoph Daum eine Lehre als Chemielaborant bei Bayer beginnt und nebenbei Leverkusens Fußballer zur Meisterschaft führen soll. Den Werksklub verlässt Klaus Augenthaler und geht zur Hertha. Berlin sei schließlich viel weiter von Augenthalers Wohnort in Niederbayern entfernt; mit dem vielen Geld von der Kilometerpauschale wolle sich der leidenschaftliche Angler in seinem Garten einen künstlichen Teich voller dicker Fische anlegen. Sensationell auch der Wechsel von Uli Hoeneß zum VfB Stuttgart, der Ottmar Hitzfeld als Nachfolger Magaths am Neckar präsentieren will. In München soll Manfred Ommer, der ehemalige Präsident des FC Homburg, Hoeneß beerben. Der neue Bayern-Trainer heißt Jimmy Hartwig. Chaos brach aus. Die Journalisten brüllten in ihre Handys. Jeder wollte der Erste sein, der diese sensationelle Rotation der Öffentlichkeit preisgab. Ach, wärs doch nur so gewesen. Endlich herrschte Klarheit und niemand müsste länger die immer tollkühneren Volten des Boulevards ertragen. Solange keine offizielle Bestätigung für den Wechsel des Fußballtrainers Felix Magath von Stuttgart zu den Münchner Bayern besteht, wird weiterhin viel Bemerkenswertes dem Geraune aus dem Reich der Spekulation weichen.“

Können „lahme Enten“ Bayern und den VfB trainieren? Klaus Hoeltzenbein (SZ 4.5.) ist skeptisch: „Solche Abschiede, mögen sie noch so rührig inszeniert sein, haben ja stets auch einen pekuniären Hintergrund – es gibt wie in jedem Ehevertrag Klauseln und Kleingedrucktes. Daran fühlt sich Bayern-Manager Uli Hoeneß gebunden, es ist mehr als ein Lippenbekenntnis, wenn er darauf beharrt, Hitzfelds Kontrakt bis 2005 ausleben zu wollen. Er tut dies jedoch in Kenntnis der Tatsache, dass die Beziehung erst einmal das dramatische Saisonfinale, das Heimspiel am Samstag gegen Werder Bremen, sowie die folgende Auswärtspartie beim VfB Stuttgart ohne weiteren Schaden überstehen muss. Und dass in dieser Phase vielleicht der VfB Bereitschaft signalisiert, Felix Magath schon im Sommer 2004 ziehen zu lassen. Für Sommer 2005 darf der Transfer Magath für Hitzfeld ohnehin als fest verabredet gelten. Warum also die Sache nicht vorziehen, statt in der nächsten Saison zwei Spitzenklubs mit Führungskräften auf Zeit (engl. lame ducks = lahme Enten) zu beschweren? Weil all dies im Fluss zu sein scheint, hat Hitzfeld am Freitag sein persönliches Langzeit-Finale in München angekündigt. Das war kein emotionaler Akt, nicht von ihm, dem Mathematiker und Champions-League-Strategen. Nun hat er wieder die Option des Handelns, ist nicht mehr abhängig davon, ob in der Bayern-Troika Franz Beckenbauer oder Karl-Heinz Rummenigge womöglich einem anderen Plan als Hoeneß folgen. Er kann die guten von den schlechten Angeboten trennen, und bei der EM im Juni in Portugal abwarten, was sich ergibt aus deren Verlauf. Für DFB-Teamchef Rudi Völler wird der Name Hitzfeld in den Gruppenspielen gegen die Niederlande, Tschechien und Lettland ein ständiger, lästiger Begleiter sein. Denn Hitzfeld ist frei. Er ist auf dem Markt. Offen nur, ob die Trennung über kurz oder lang erfolgt.“

Schalke 04 – Hertha BSC Berlin 3:0

Christoph Biermann (SZ 4.5.) plaudert aus dem Nähkästchen: „Vor etlichen Jahren arbeiteten Trainer Hans Meyer und Verteidiger Marko Rehmer schon einmal bei Union Berlin zusammen. Der Traditionsklub aus dem Osten der Stadt war damals Drittligist und hoffte darauf, zum ersten Mal in die Zweite Bundesliga aufzusteigen. Als es kurz vor Saisonende nach Erfurt ging, wartete das Team morgens im Bus auf Rehmer. Doch bald schon eilte der Platzwart herbei und teilte mit, der Verteidiger habe sich gerade abgemeldet. Der Hund seiner Freundin sei entlaufen und er müsse bei der Suche helfen. So reiste Union Berlin ohne den späteren Nationalspieler ab und spielte in Erfurt nur remis. Abends rief Rehmer bei Hans Meyer an und meldete glücklich („das Wichtigste zuerst“), dass der Hund wiedergefunden worden sei. Dann dankte er dem Coach für sein Verständnis. Meyer legte wortlos auf. Als der Verteidiger 1998 in der Nationalmannschaft debütierte (2:1 gegen Malta), saßen Hans Meyer und seine Frau vor dem Fernseher. Er wies sie auf seinen ehemaligen Spieler hin, und Frau Meyer erinnerte sich sofort: „Ach, der Hunde-Rehmer.“ Wahrscheinlich hat Hans Meyer das am Sonntagabend in der Arena AufSchalke auch gedacht. Und sollte ihm die Geschichte wirklich in den Sinn gekommen sein, dürfte er sich nichts sehnlicher gewünscht haben, als dass im Hause Rehmer wieder ein Hund entlaufen wäre.“

Richard Leipold (FAZ 4.5.) hätte Verständnis für Hans Meyer, wenn Meyer sich die Haare raufen würde: “Nach der Niederlage in Gelsenkirchen schien dem Trainer von Hertha BSC Berlin sogar der von ihm gerne benutzte Fluchtweg in die Ironie versperrt. Dem 0:3 vermochte nicht einmal Hans Meyer etwas Erheiterndes abzugewinnen. Seine Mannschaft hatte in Gelsenkirchen nicht bloß ein Fußballspiel verloren. Sie hatte den gut aufgelegten Schalkern den Sieg geradezu aufgedrängt und sich selbst für die zweite Liga empfohlen Drei Spieltage vor Ultimo ist Hertha nur noch ein Punkt vom 16. Tabellenplatz und den Abstiegsrängen entfernt. Statt süffisant zu lächeln, lamentierte Meyer. Er habe sich an der Seitenlinie genauso hilflos gefühlt wie die Hertha-Fans auf der Tribüne. Näher wollte er diesen Befund nicht erläutern: „Ich werde nicht mein ganzes Seelenleben ausbreiten.“ Schon vor den beiden Platzverweisen gegen Marko Rehmer und Malik Fathi sah es so aus, als spielten die Berliner in Unterzahl. (…) Was sich auf dem Rasen zugetragen hatte, verdarb dem zum Sarkasmus neigenden Fußball-Lehrer die Laune so gründlich, daß er es vermutlich kaum erwarten kann, in drei Wochen abermals in den Ruhestand zu treten.“

100 Jahre Schalke 04

Meisterschaften und Meineide

Sehr lesenswert! „Auf Schalke ist alles anders. An diesem Dienstag läuten Gelsenkirchens Kirchenglocken zu Ehren des Klubs.“ Jörg Stratmann (FAZ 4.5.) gratuliert zum 100. Geburtstag: „Seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts gehört es zu den Plattitüden der Fußballberichterstattung, daß dieser Klub bei allen sportlichen Verdiensten zugleich für Schock und Skandal steht. Für Meisterschaften ebenso wie für Meineide und sorgsam gestrickte Mythen, denen beispielsweise auch die jüngst in Auftrag gegebene Aufarbeitung der Nazi-Zeit auf Schalke nichts wird anhaben können. Der FC Schalke 04 ist ein gewachsener Widerspruch in den Vereinsfarben Blau und Weiß, der gleichwohl eine Anhängerschar versammelt hat, deren Zahl landauf, landab nur noch von den Freunden des FC Bayern München übertroffen wird. Die Unsicherheit der ernsthaften Chronisten, das räumen sogar die Sprecher der wohlorganisierten Schalker Fangemeinde ein, beginnt schon mit dem Datum der Vereinsgründung. War es tatsächlich der 4. Mai 1904, als sich eine Gruppe 14 und 15 Jahre alter Jungen auf einer unebenen Wiese am zerfallenen Herrschaftssitz „Haus Goor“ an der einstigen Hauergasse zusammentat? Auf ein Protokoll haben diese acht halbwüchsigen Gründer des Vorgängervereins Sportclub Westfalia Schalke aus naheliegenden Gründen verzichtet. (…) In seinen späten Jahren hat Ernst Kuzorra vor allem von den Anfängen geschwärmt. Wie er beispielsweise ausgerechnet am Sonntag seiner Konfirmation nachmittags erstmals auf Schalke gekickt habe, leider in den guten Schuhen, was ihm eine ordentliche Tracht Prügel der Mutter eingetragen habe. Danach verklärte sich manch andere Erinnerung, wenn der alte Mann auf seinem Lieblingsplatz des Vereinslokals im Schatten der denkmalgeschützten Tribüne des ersten klubeigenen Stadions „Glückauf-Kampfbahn“ bei Pils und Korn den Blick zurückschweifen ließ. Davon erzählen heute noch Stammgäste, wo ein kleines Messingschild an das berühmteste Klubmitglied erinnert. Doch zuletzt hat sich der Mann, der wie kein anderer für sportliche Größe und Tradition des FC Schalke 04 steht, auch sehr über aktuelle Vorkommnisse und Entwicklungen neben dem Rasen erregen müssen. 1990 ist Kuzorra vierundachtzigjährig gestorben. Bis zuletzt pflegte er, umgeben von dicken Schwaden der unvermeidlichen Brasil, über „dat schöne Schalke“ von damals zu sinnieren. Denn „dat schöne Schalke“ komme niemals wieder. „Dat nich.“ Dabei hat er die Zeit der Sonnenkönige und Zufallskandidaten unter den Präsidenten gar nicht mehr erlebt. Doch das schönste Schalke schon in Kuzorras Meisterjahren war ja schon zum skandalträchtigen Schalke geworden. Keinerlei Legendenbildung kommt am ersten Eklat vorbei: Als der sportliche Erfolg dem Verein zu gewissem Reichtum verholfen hatte, wollte nämlich die Mannschaft partizipieren, mit fünfzig Mark vor dem Spiel und zehn statt der erlaubten fünf Mark Spesen. Der Verband sperrte die Spieler wegen Verstoßes gegen die Amateurbestimmungen und schloß auch acht Vorstandsmitglieder aus. Willi Nier, für die Vereinsfinanzen zuständig, nahm sich das zu sehr zu Herzen und stürzte sich deshalb in die Emscher. Oder nebenan in den Rhein-Herne-Kanal, wie andere Quellen berichten. Jedenfalls nahm er die Bücher, die er noch vergeblich zu verfälschen versucht hatte, mit. Bei dieser traurigen Geschichte blieb es nicht. Auch der damalige Kassenwart Radecke und Präsident Möritz wußten kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund bekanntgewordener Unregelmäßigkeiten keinen anderen Ausweg, als sich das Leben zu nehmen. Es gehört zur Schalker Geschichtsschreibung, daß diese so tragisch endenden Verfehlungen mit mildem Mitgefühl verklärt werden. In dieser Region sei halt verständlich, heißt es, daß erst der geliebte Verein und dann lange Zeit nichts komme. Das mag auch mit dem gesellschaftlichen Umfeld zu tun haben, in dem dieser Arbeiterverein gewachsen ist. Dessen Mitglieder stammten zum großen Teil aus Familien, die aus Masuren oder Ostpreußen in den industriellen Ballungsraum Ruhrgebiet eingewandert waren. Und die erfolgreichen Kicker von Schalke 04 mit den oft polnisch klingenden Namen kompensierten das, was Soziologen den „sozialen Minderwertigkeitskomplex der Arbeiterschaft“ nennen. Das ist so geblieben in einer Stadt, deren Strukturwandel jeden Fünften arbeitslos gemacht hat.“

Vielleicht wäre ich der Putzer des Kaisers geworden
SZ-Interview mit Rolf Rüssmann über den runden Geburtstag

SZ: Eine der besten Schalker Mannschaften beteiligte sich am schlimmsten Skandal der Bundesliga – der Bestechungsaffäre um Arminia Bielefeld, 1971. Auch Sie waren verwickelt.
RR: Ich rede nicht gern darüber, aber wenn Sie mich danach fragen – es gehört ja auch dazu. Das ist damals so entstanden, dass unser ehemaliger Spieler Waldemar Slomiany zu Arminia Bielefeld gegangen war und noch Freunde in der Mannschaft hatte. Bielefeld stand im Abstiegskampf, und dann haben einige ältere Spieler von uns gesagt: „Wir müssen doch dem Walusch helfen“ (prompt verlor Schalke 0:1 gegen Arminia/Red.). Verdient haben wir keinen Pfennig dabei – im Gegenteil, fünf, sechs Jahre haben wir bezahlt dafür, da ging alles drauf.
SZ: 2300 Mark gab es für die Schiebung, schon damals eine bescheidene Summe für Fußballer. Warum haben Sie mitgemacht?
RR: Ich hatte nicht die Größe, mich dagegen zu wehren. Der einzige, der das getan hat, war Reinhard Libuda. Als dieser Vorschlag kam in der Kabine – „die haben da Geld für uns, sollen wir das machen?“ –, hat der Stan gesagt: „Nein, mache ich nicht.“ Eigentlich gab es dann nicht mal einen richtigen Beschluss, es hat sich einfach so ergeben, auch im Spiel. So ein Blödsinn.
SZ: Dieser Blödsinn hat Schalke über Jahre geprägt. Mit Ermittlungen, Prozessen, Zivilverfahren. Schalke war abgestempelt als Skandalklub.
RR: In diese Rolle ist Schalke zu Unrecht gedrängt worden, ich hab“ ja nun genügend Erfahrung in der Bundesliga und weiß, dass andere Vereine keinen Deut besser waren. Natürlich hat der Skandal dem Ruf geschadet. Wir haben einen Fehler gemacht, aber weniger aus materiellen Gründen – es war einfach eine Eselei. Ich will das nicht runterspielen mit so einem Begriff. Das Ganze war verwerflich, Betrug am Zuschauer, und ich habe das immer wieder bereut und aufzufangen versucht mit sozialen Geschichten. Aber was ich einfach sagen will: Es hat eine Mannschaft kaputt gemacht, die ganz Großes hätte leisten können.
SZ: Schalke hätte sogar dem FC Bayern Konkurrenz machen können, der zu der Zeit zum Riesen heranwuchs.
RR: Durch den Skandal ist unser Potenzial völlig verschüttet worden. Als das 1971 passierte, wurden Klaus Fichtel, Reinhard Libuda und ich für die Nationalelf und die Europameisterschaft gesperrt – „Bannstrahl“ hieß das. Ich erinnere mich an ein Länderspiel gegen Albanien, wo ich plötzlich ausgeladen wurde. Da hat der Georg Schwarzenbeck debütiert. Vielleicht wäre ich sonst der Putzer des Kaisers geworden.
SZ: Der „FC Meineid“ war geboren.
RR: Hinterher wurde uns Eidesnotstand zuerkannt, so dass wir aus der Geschichte rauskamen und im Januar 1974 begnadigt wurden und wieder spielen durften. 1976 hat der DFB den Klaus Fischer und mich auch wieder für die Nationalmannschaft zugelassen. Von Schalke kam zu dieser Zeit noch der junge Rüdiger Abramczik dazu, der neue Libuda.
SZ: Der alte Libuda bleibt aber doch einzigartig?
RR: Natürlich. Libuda gehört in die Reihe dieser großen Schalker Szepan und Kuzorra, fußballerisch war er eine Rakete. Ein anständiger Kerl, ein schlichtes Gemüt, ein Gefühlsmensch, geprägt von dieser Stadt. Bei ihm hing zwischen Himmel und Hölle alles zusammen, und das hat die Leute fasziniert.
SZ: Ein berühmter Gelsenkirchner Glaubenssatz besagte: „An Jesus [of: Jesus?! Ich dachte immer, am lieben Gott…] kommt keiner vorbei – außer Stan Libuda.“
RR: Ich erinnere mich daran, als es 1985 das letzte Grubenunglück in Gelsenkirchen gab. Acht oder neun Bergleute sind gestorben. Ich war noch Spieler in Dortmund. Dann habe ich die 72er-Mannschaft für ein Spiel in der Glückaufkampfbahn zusammengebracht und alle Meisterspieler aus den Dreißigern kommen lassen, die noch lebten. An einem Ostermontag kamen gegen eine Stadtauswahl von Gelsenkirchen mehr als 20 000. Sie können sich nicht vorstellen, wie die Leute Stan gefeiert haben.
SZ: Die Verehrung für die Größen des Klubs dauert bis heute an und musste von allen Präsidenten geachtet werden. Überliefert ist, wie Günter Eichberg 1990 aus Florida zu spät zur Beerdigung Ernst Kuzorras kam – und die Zeremonie einfach wiederholt wurde.
RR: Das hat der Charly Neumann arrangiert, typisch. Der hat den Oberbürgermeister noch mal rangeschafft, den Kranz und die Fahne herausgeholt, und dann wurde das alles fotografisch festgehalten. Aber die viel schönere Geschichte ist die, wie 1974 Fritz Szepan beerdigt wurde. Da war zufällig auch noch eine andere Beerdigung, die den unglaublich langen Trauerzug von der Glückaufkampfbahn zum Friedhof Rosenhügel kreuzte. Prompt sind dann die Leute hinter dem falschen Zug hergelaufen. Alle waren tieftraurig und hatten den Kopf gesenkt – und dann pfiff einer auf zwei Fingern und rief: „Hier ist der Fritz!“ Und all die Tausend Leute schwenkten um, wie die Ameisen.

Hans Dieter Baroth (Tsp 4.5.) reiht sich ein: „Die Elf von Schalke 04 galt als von den Nationalsozialisten gehätschelt. Es wurden Schriften auf den Markt gebracht, in denen der Aufstieg der Nazis mit dem Erfolg der Schalker ideologisch auf eine Stufe gestellt wurde. Erst Jahrzehnte später erfuhren die Fans, dass ihr Spieler Fritz Szepan Wahlaufrufe für die NSDAP unterschrieben hatte. Deshalb verweigerte der Rat der Stadt, in Gelsenkirchen eine Straße nach ihm zu benennen. Während des Krieges wurden Schalker Spieler nicht eingezogen. Die Elf blieb fast komplett zusammen, was auch ihre Stärke ausmachte. Die Männer um Hans Klodt, Fritz Szepan, Ernst Kuzorra, Hermann Eppenhoff, Otto Tibulski und Co. spielten zu lange ohne eine Verjüngung der Elf. Die Zäsur erfolgte am 18. Mai 1947 in Herne beim Endspiel um die Westfalenmeisterschaft. Bei strömenden Regen unterlag Schalke gegen Dortmund 2:3. Die Enttäuschung war so groß, dass die Männer um Ernst Kuzorra nicht zur Siegerehrung erschienen. Es war die Geburtsstunde einer tiefen sportlichen Feindschaft. Die Borussia wurde in dem vergangenen halben Jahrhundert mehrfach Deutscher Meister, Schalke nur noch einmal.“

Was macht Schalke so besonders? Andreas Morbach (FTD 4.5.) antwortet: “Die Fans. Der stets hoch gelobte Stolz des FC Schalke, in der laufenden Saison verantwortlich für 42 100 verkaufte Dauerkarten. „Mittelprächtige Stimmung bei uns schlägt Superstimmung in Dortmund“, behauptet Olaf Thon, das letzte berühmte Eigengewächs des Klubs. Obwohl sich mit dem Umzug in die moderne Multifunktionsarena „AufSchalke“ auch das Publikum verändert hat. In den Business-Seats und VIP-Logen vergnügen sich heute Menschen, die diesen Verein vor ein paar Jahren noch gemieden hätten wie einen Leprakranken. Jetzt sind sie da, und weil das so ist, wird selbst in dem bei jedem Fußballspiel bis unters Dach gefüllten Stadion schon mal auf die Stimmung drückt. Aber die Gutverdiener finanzieren mit ihren teuren Tickets eben auch die 15 000 Nordkurven-Stehplätze zu 8 Euro das Stück mit. Das ist, so zu sagen, der klubinterne Kohlepfennig des FC Schalke, der sich auch vier Jahre nach Schließung der allerletzten Zeche in der „Stadt der tausend Feuer“ beharrlich mit dem Flair des Arbeitervereins umgibt. Der Kult um den Klub entstand, als Ernst Kuzorra und Fritz Szepan in der 1930er Jahren den berühmten Schalker Kreisel schufen, das verwirrende Kombinationsspiel, in dem die Gegner erst die Orientierung und dann die Spiele verloren. Sechs seiner sieben Meisterschaften holte der Verein während des NS-Regimes. Und die Nationalsozialisten jubelten auf dem Schalker Markt fleißig mit. Den Stars wurde nicht immer nur Respekt entgegengebracht. Ein Geizkragen sei dieser Kuzorra gewesen. Sagen die, die mit dem 1990 verstorbenen Idol in der Vereinskneipe neben der Glückauf-Kampfbahn abwechselnd Korn und Pils in die Rachen schütteten und heute noch immer am Tresen lehnen. Geld spielte auf Schalke stets eine große Rolle.“

Die Schalker haben die Wirklichkeit bis an die Schmerzgrenze gebeugt

Richard Leipold (FAS 2.5.) erinnert an eine traurige Geschichte: “Was sich in Gelsenkirchen abspielt, böte genug Stoff für einen Film mit Überlänge. Eine (Spiel-)Zeitverschiebung an diesem Samstagnachmittag gegen 17 Uhr 15 hat Illusion und Realität einander so stark angenähert, daß sie für 4 Minuten und 38 Sekunden deckungsgleich scheinen. In Schalke ist das Spiel zu Ende, und das Parkstadion verwandelt sich in ein großes Kino. Auf der Videowand sieht man die Münchner. Die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmt, bis sie nicht mehr vorhanden ist. Wird in Hamburg noch gespielt, oder ist das nur ein Zusammenschnitt der wichtigsten Szenen? Ein Fernsehreporter behauptet, die Antwort zu kennen. In Hamburg sei Schluß, Bayern habe verloren. Nun fühlt sich auch Manager Rudi Assauer als Meister; ein Feuerwerk erfüllt die Betonschüssel mit bunten Blitzen, Böllerschüsse kündigen den großen Knall an. Dann bricht die Wirklichkeit via Bildschirm ins Parkstadion ein und vertreibt die Schalker aus dem Paradies – unbarmherzig und brutal. Der Münchner Verteidiger Patrik Andersson nutzt einen Freistoß in der Nachspielzeit zum Ausgleich, Bayern ist Meister. Die Fans des FC Schalke, die Spieler und auch Manager Assauer weinen wie Kinder. Nicht einmal Trainer Huub Stevens, ein vom Leben früh zur Härte erzogener Mann, kann die Tränen unterdrücken. Die kolossale Schüssel Parkstadion wird zu einem Tränenmeer, in dem Assauer die Titanic des Fußballs versinken sieht, auch wenn die Kapelle hier in Gelsenkirchen längst aufgehört hat zu spielen. Diese 4 Minuten und 38 Sekunden auf einem Parcours zwischen Glück und Grauen, zwischen Traum und Albtraum erzählen mehr von dem, was Schalke berühmt macht, als es der Gewinn der achten deutschen Meisterschaft vielleicht vermocht hätte. Auch und gerade der Umgang mit den Launen des Schicksals macht diesen Klub zum Mythos. (…) Die Wirklichkeit kann unbeugsamer daherkommen, als es die Schalker Volksseele wahrhaben will. Dieses Gesetz zu ignorieren, sich dagegen aufzulehnen; der untaugliche, zuweilen bis zur Selbstzerfleischung betriebene Versuch, Grenzen zu verrücken, hebt Schalke 04 in den Rang eines Phänomens, das die Menschen fasziniert. Die Schalker haben die Wirklichkeit bis an die Schmerzgrenze gebeugt – und darüber hinaus. Als der damalige Präsident Günter Eichberg zur Beerdigung Ernst Kuzorras eingeflogen kam, saß die Trauergemeinde schon beim Leichenschmaus. Doch Eichberg bestand darauf, die Ikone selbst zu Grabe zu tragen. Der Sarg wurde exhumiert und abermals beigesetzt. „Dann waren alle zufrieden, auch der Ernst“, sagt Mannschaftsbetreuer Karl-Heinz Neumann. An jenem Tag im Mai aber mußten die Schalker sich fügen. Seitdem weigert sich Assauer, den Fußball als Ersatzreligion anzuerkennen. „Ich glaube nicht mehr an den Fußballgott, weil er nicht gerecht war und ich seine Grausamkeit nicht verstehen kann.“ Die verpaßte Meisterschaft hat das naive Urvertrauen erschüttert.“

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