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Fußball am Samstag

Oliver Fritsch | Freitag, 7. Mai 2004 Kommentare deaktiviert für Fußball am Samstag

Vorteil Frankreich, „Galliens Kicker haben die bessere Kinderstube“ (FAZ) – „Anne Grenzstraße“ (FAZ, die Heimat Schalke 04s – SZ-Interview mit Thomas Schaaf über seinen Führungsstil und über den Umgang der Bayern mit Ottmar Hitzfeld – FAZ-Interview mit Bixente Lizarazu über seinen Abschied aus Deutschland – die FAZ empfiehlt Bücher über die WM 54 – vor 30 Jahren gewann der 1. FC Magdeburg den Europapokal, heute hofft „erfolgreichste Mannschaft des DDR-Fußballs“ (Tsp) auf ein bisschen Erfolg u.v.m.

„Galliens Kicker haben die bessere Kinderstube“, schreibt Christian Eichler (FAZ 8.5.), den Fußball Frankreich und Deutschland vergleichend: „Früher war die Welt gerechter: Die Franzosen hatten das bessere Essen, die Deutschen den besseren Fußball. Dazu muß man nur sieben magere Jahre zurückgehen. 1997 war Frankreich noch nicht Weltmeister, auch nicht Europameister, das war Deutschland; im Finale von Champions League und UEFA-Cup standen deutsche Klubs (Dortmund und Schalke, beide gewannen). Heute stehen dort Monaco und Marseille, und das ist, gemessen an den finanziellen Möglichkeiten der Ligue 1, die deutlich weniger TV- und Ticket-Einnahmen hat als die Bundesliga, noch erstaunlicher als die majestätische Stärke der Equipe Tricolore. Die hat den WM-Rückschlag von 2002 mit zuletzt 14 Siegen in Folge weggesteckt und gilt als EM-Favorit. An diesem Samstag könnte die französische Festwoche komplett werden. Falls Werder Bremen mit einem Sieg in München vorzeitig die deutsche Meisterschaft gewinnen sollte, bekäme die begehrteste Salatschale Deutschlands ein französisches Dressing. Die Klasse von Werder fußt nicht zuletzt auf der „French Connection“ von Manager Klaus Allofs, der drei Jahre in Marseille und Bordeaux spielte. Sprachkenntnisse und alte Verbindungen halfen mit, Spielkünstler Micoud und Abwehrkönner Ismaël zu holen. Beide boten beste französische Schule für überschaubares Geld und wurden auf ihren Positionen Bestbesetzungen der Bundesliga. Frankreichs Fußball genießt Bildung am Ball, Esprit durch Erziehung. Ein Genie wie Zidane läßt sich nicht erfinden – aber die anderen zehn, die auch ein Zidane braucht, kann man finden und formen, mit der kostbaren Kombination aus Technik und Taktik, Lockerheit und Freude. Dieses pädagogische Denken, das Deutschland und sein Fußball erst langsam entdecken, praktiziert Frankreich mit seinem vorbildlichen Internatssystem, in das viele französische Klubs mehr investieren als in Stadien oder Räumlichkeiten der Profi-Abteilung. Aus dieser fußballerischen Wertschöpfung resultiert immer wieder neu die Stärke der französischen Klubs.“

Anne Grenzstraße

Seite 3 – Jörg Stratmann (FAZ 8.5.) verortet die Heimat Schalke 04s: „Das Verhältnis des FC Schalke zur Stadt Gelsenkirchen war in der jüngeren Vergangenheit nicht immer das beste. Assauer wäre der letzte, der einen Hehl daraus machen würde – nach all dem Hin und Her Ende der neunziger Jahre, als es darum ging, dem Verein ein neues, zukunftsweisendes Stadion zu errichten. Um das marode Parkstadion, anläßlich der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 erbaut, zu einer reinen Fußballarena umzubauen, wären seinerzeit vierzig bis fünfzig Millionen Mark nötig gewesen. Die hatte Schalke nicht und die Stadt schon gar nicht. Deshalb nahm der Klub, obgleich damals in akuter Abstiegsgefahr, seine Zukunft selbst in die Hand und stemmte das Projekt Arena „Auf Schalke“ auf breiter Grundlage mit der „FC Schalke-04-Stadion-Beteiligungsgesellschaft mbH & Co. Immobilienverwaltungs-KG“. Zu den Gesamtkosten von rund 185 Millionen Euro steuerten schließlich sogar die Fans mehr bei als die finanzklamme Kommune. Während Gelsenkirchen nach heutigem Wert mit rund 4,8 Millionen Euro dabei war, trugen die engsten Freunde des Vereins ein zinsloses Darlehen von gut 7,5 Millionen zusammen, indem sie jeweils für 250 Euro einen Baustein erwarben. Der Klub bedankte sich dafür mit Gutscheinen für den Fanshop, aufgeteilt in zehn Jahresraten zu je 25 Euro, und dem Versprechen, den Namen jedes Spenders deutlich sichtbar im Stadion zu verewigen. So entstand als steinernes Sinnbild der Verbundenheit eine imposante Mauer, vor der jeder, sagt Assauer, seinen Enkeln dereinst einmal vorschwärmen könne: „Guck mal, Opa hat damals mitgebaut.“ So gern Assauer von sich das Bild des knallharten Machers und Machos pflegt, eingehüllt in den Dunst der unvermeidlichen Zigarre – wenn er auf diese Spendenaktion zu sprechen kommt, dann wird die Miene des Managers jedesmal weich. Doch wehe, wenn auch die Kommunalpolitik ins Schwärmen gerät über das neue, weit über die Stadtgrenzen hinaus berühmte Schmuckstück. Dann hebt Assauer die Augenbrauen so kühl, vorwurfsvoll und hochmütig wie in seinen Werbespots, wo ihm die Lebensgefährtin fortlaufend das frisch gezapfte Pils wegtrinkt. Diesen Blick konnte er sich selbst in dem Moment nicht verkneifen, als er kürzlich neben Oberbürgermeister Oliver Wittke (CDU) das Programm der Geburtstagsfeierlichkeiten vorstellte und das Stadtoberhaupt dabei wortreich seinen Stolz auf das Aushängeschild Schalke 04 und dessen Bedeutung für die Kommune hervorhob. Immerhin, man sitzt wieder gemeinsam auf einem Podium. Als er vor sechs Jahren mit den Plänen für die Arena an die Öffentlichkeit ging, beantwortete Assauer die Frage, wie denn Gelsenkirchen diese privatwirtschaftliche Initiative danke, noch mit triefendem Sarkasmus. „Mit 35 Millionen Mark“, sagte der Manager. „So viel durften wir fürs Grundstück zahlen.“ Wie gesagt, das Verhältnis hat sich wieder gebessert. Ohnehin kann einer nicht ohne den anderen. Denn wo liegt Schalke? Als sich 1929 Schwedens König bei Ernst Kuzorra danach erkundigte, soll der berühmteste Kicker der Stadt geantwortet haben: „Anne Grenzstraße“. Das wird Ihrer Majestät nicht weitergeholfen haben, doch war schon damals klar: Dieser Ortsteil liegt nicht nur geographisch gesehen mitten im Herzen Gelsenkirchens.“

Ich weiß gar nicht, wie man sich das Recht herausnehmen kann, Hitzfeld in dieser Art und Weise zu kritisieren
SZ-Interview mit Thomas Schaaf über seinen Führungsstil und über den Umgang der Bayern mit Ottmar Hitzfeld

SZ: Ihr Führungsstil gilt als tolerant.
TS: Es nützt mir jedenfalls nichts, wenn ich alles vorgebe und sage: Du musst das machen und das machen. Eine Mannschaft besteht aus elf Typen, die alle auf ihre Art etwas Besonderes haben. Das darf ich nicht kaputtmachen, sondern muss es in richtige Bahnen lenken.
SZ: Wie ist die berühmte Mittelfeld-Raute mit Baumann, Ernst, Lisztes und Micoud entstanden, mit der Werder meist die Gegner beherrscht? War das allein Ihre Idee oder waren die Spieler demokratisch daran beteiligt?
TS: Natürlich höre ich mir die Meinung von Johan Micoud oder anderen an. Wir haben einfach geguckt, wie es am besten passen könnte.
SZ: Wer ist wir?
TS: In erster Linie ich, Klaus Allofs und meine Co-Trainer. Man probiert ja viel, und irgendwann hatte sich das System so eingespielt, dass jeder es mit Überzeugung annahm. Jetzt funktioniert es, selbst wenn mal zwei fehlen.
SZ: Beim FC Bayern steht schon fest, dass Ihr Kollege Ottmar Hitzfeld spätestens in 14 Monaten gehen muss. Die Klubführung hat öffentlich an ihm herumgemäkelt. Wie wären Sie mit so einer Situation umgegangen?
TS: Diese Situation ist unglaublich. Ottmar Hitzfeld hat mit seinen Mannschaften schon so viele Erfolge gehabt und tolle Leistungen gezeigt. Ich weiß gar nicht, wie man sich das Recht herausnehmen kann, so einen Mann in dieser Art und Weise zu kritisieren.
SZ: Hätten Sie lieber gleich Konsequenzen gezogen?
TS: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was ich einmal zu den Werder-Verantwortlichen sagte: Wenn ihr der Meinung seid, es passt nicht mehr, sagt mir das. Dann braucht man nicht rumzueiern.
SZ: Wie kann man normal bleiben in diesem Geschäft, in dem mancher Ihrer Kollegen der Hybris, dem Alkohol oder dem Verfolgungswahn anheim fällt?
TS: Das ist eine Frage des Naturells.
SZ: Und des Humors? Sie haben die Premiere-Zuschauer neulich mit einer Anleihe an Ihren Lieblingshumoristen Loriot verblüfft.
TS: Die haben mir einen Zettel zum Vorlesen in die Hand gedrückt für einen Trailer, der die Sonntagsspiele ankündigen sollte, da war überhaupt keine Rhythmik drin. Als ich den verhauen habe, sagte ich: ¸¸Ich heiße Erwin Lindemann, bin seit 66 Jahren Bremer und am Sonntag spielt Bochum gegen Bremen.“ Da haben sich alle köstlich amüsiert. Aber ich wusste nicht, dass die das tatsächlich senden. Das war natürlich ein schönes Ding von den Kollegen.

Die Kleinen und die Großen in Bremen sind derzeit ziemlich gaga

Jan Christian Müller (FR 8.5.) beschreibt Bremer Vorfreude: “Renate von Rehbinder ist seit mehr als 40 Jahren Grundschullehrerin. Aber so etwas hat die gestrenge 62-Jährige noch nie erlebt: „Morgens, wenn ich in die Klasse komme, laufen die Jungen im Kreis herum und singen das Werder-Lied. Und die Mädchen schauen zu und lachen.“ Die Kleinen und die Großen, sie sind alle derzeit ziemlich gaga in Bremen. Wegen Werder. Am Samstag trifft sich die halbe Stadt auf dem Domshof, um auf einer Großbildleinwand das Spiel beim FC Bayern München zu verfolgen. Der Hit schlechthin in der Liga. s war gar nicht so einfach, das in Bremen zu organisieren. Fußball ist ein kompliziertes Geschäft geworden, und so stand die Übertragung erst, nachdem die Agenturen Infront, Buli GmbH und ISPR, die DFL und der Pay-TV-Sender Premiere ihr Okay gegeben hatten. Das kostbare Gut soll schließlich nicht regelmäßig vor Zigtausenden versendet werden. Eine adäquate Lizenzgebühr machte die Beteiligten schließlich gefügig: Pay-per-view unter freiem Himmel. Ach beim Tennisclub Rot-Weiß, gleich hinter der Ostkurve des Weserstadions, wird es wieder drunter und drüber gehen. Der Verein hat eigens für die Übertragungen 3000 Euro in Leinwand und Beamer investiert. Es ist zuletzt regelmäßig derart voll gewesen im Clubheim, dass die Gäste Getränke per Handy an der Bar bestellt haben, weil die Bedienungen nicht hinterherkamen. Es finden sich dieser Tage eine ganze Menge Verrückter unter den notorisch Bodenhaftung bewahrenden Bremern. Bernhard Schulze zum Beispiel, dessen Frau Melitta es noch immer nicht ganz fassen kann, dass ihr Gatte das halbe Haus grün-weiß gestrichen und zwei Werder-Rauten auf die Fassade gepinselt hat.“

FAZ-Interview mit Bixente Lizarazu über seinen Abschied aus Deutschland

FAZ: Sie haben den FC Bayern stets als Unternehmen gesehen, nicht als Fußballverein. Auch Ihre Beziehung zu dem Klub war eher eine geschäftsmäßige, keine leidenschaftliche.
BL: Überall in Europa ist Fußball doch zum großen Teil Business. Die Spieler versuchen, einen guten Vertrag zu bekommen und Titel zu gewinnen. Und der Verein will auch Titel gewinnen. Die Verantwortlichen kaufen die besten Spieler, und wenn sie nicht gut genug sind, versuchen sie, andere zu finden. Das Problem ist natürlich, daß manchmal das Menschliche auf der Strecke bleibt. Der Verein muß eben das richtige Gleichgewicht finden.
FAZ: Hat Bayern das immer gefunden?
BL: Ja. Es war immer korrekt. Ich werde Bayern in guter Erinnerung behalten. Wir haben uns gut verstanden, wir haben großen Respekt voreinander. Ich denke, jeder ist glücklich. Und ich glaube, wir werden Freunde bleiben.
FAZ: Es war sportlich Ihre erfolgreichste Zeit in München. War es auch die schönste?
BL: Das kommt darauf an, welchen Teil meines Lebens Sie meinen. Wenn man bei einem großen Klub spielt, spielt man alle drei Tage. Da bleibt zwar nicht viel Zeit, andere Dinge zu tun, aber du hast Erfolg. Deshalb war für mein Berufsleben die Zeit hier das Beste. Wenn ich den Beruf und das Privatleben zusammennehme, war Bordeaux die schönste Zeit. Da haben wir einmal in der Woche gespielt, es gab keinen Druck. Ich habe die Hälfte meiner Zeit am Meer verbracht, die andere Hälfte Fußball gespielt.
FAZ: Sie haben sich in Ihrer Heimat Frankreich immer für den deutschen Fußball stark gemacht. Was gab es für einen Grund, außer, daß Sie hier Geld verdient haben?
BL: In Frankreich ist der deutsche Fußball nicht sehr populär. Ich habe immer Werbung für die Bundesliga gemacht. Es gibt gute Mannschaften, eine gute Organisation. Ich bin sicher, daß die WM 2006 ein Riesenerfolg wird. Aber ich war allein und habe gegen Windmühlen angekämpft. Nun bin ich müde, dafür zu kämpfen.

Viele Buchtipps aus der FAZ

Thomas Klemm: „Scheinbare „Parallelwelten“ überschneiden sich, Fußballgeschichte wird zur Lebensgeschichte. Wie in Sönke Wortmanns Film „Das Wunder von Bern“ und dem gleichnamigen Roman von Christof Siemes, in dem die Geschehnisse in der Schweiz mit einer rührseligen Vater-Sohn-Beziehung aus dem Ruhrgebiet rund um den elfjährigen Matthias Lubanski verquickt werden. Oder in dem jüngst erschienenen Sammelband „Fritz Walter, Kaiser Franz und wir“, in dem 22 Autoren ihre ganz persönlichen oder popliterarisch inspirierten Geschichten rund um den Fußball zum besten geben. Für den Rundfunkreporter Manni Breuckmann blieben Pralinen, die er als Junge am 24. Juni 1958 von der Nachbarin erhielt, unverbrüchlich mit dem deutschen 1:3 gegen Schweden verbunden; Christian Eichler, Sportkorrespondent dieser Zeitung, liegt heute noch der Geschmack von „kalter Hundeschnauze“ auf der Zunge, also jenem Kuchen, den er in Wanne-Eickel während der „Hitzeschlacht von León“ 1970 zwischen Deutschland und England (3:2) verputzte; für Frank Goosens Hauptfigur verbindet sich das 0:0 zwischen Deutschland und Österreich 1982 in Gijón auf ewig mit Erdnußflips, Fanta und der Annäherung an die angehimmelte Mitschülerin Carola. Und der Protagonist von Frank Schulz spürt immer noch jenen Knutschfleck, mit dem ihn ein Mädchen während des legendären 3:4 der Deutschen gegen Italien im WM-Halbfinale 1970 überrascht hat. Man muß eben nicht aktiv an Weltmeisterschaften beteiligt gewesen sein, um zu wissen, wie ein Sieg schmeckt oder wie sich eine Niederlage anfühlt. Klaus Theweleit hingegen ist einer, der selbst Fußball gespielt hat und seine große Begeisterung in ein famoses und kenntnisreiches Buch münden läßt, in dem er den Bogen spannt von der Würdigung des niederländischen Fußballs („Brilliant Orange“) bis hin zur Trefferanalyse bei der vergangenen WM. Der Buchtitel ist Programm: Fußball bedeutet für Theweleit das „Tor zur Welt“: „Spielen hieß: Weltanschluß. Die Schnittstelle zwischen ,Ich‘ und ,Welt‘: der Ball.“ Spielend lernt ein Kicker die Welt kennen, bildet auf dem Bolzplatz seine Persönlichkeit, bekommt nebenbei ein Gefühl für die Endlichkeit. Selbst Zuschauen kann der eigenen Entwicklung dienen, so Theweleit, der bis zu seinen Knieverletzungen vor allem als Torwart auflief. „Fußball ist ein unerbittlicher Lehrer in der Anerkennung dessen, was bei Freud Realitätsprinzip (in unfußballerischen Zusammenhängen) heißt. Neunzig Minuten – das ist Spielfilmlänge; das heißt, es ist die Dramaturgie eines Lebensbogens“. Es gibt eben kein richtiges Leben im falschen Fußball.“

Steffen Haffner: „Ein Reiz des Buches liegt in den 215 zum Teil unveröffentlichten Fotos, die, brüniert im Sepiadruck, den 224 Seiten eine nostalgische Handschrift geben. Da ersteht eine versunkene Welt mit Menschen, deren Kleidung mit breitkrempigen Hüten und sackähnlichen Mänteln mehr bedeckt als schmückt. Deren Gesichter aber angesichts des Sensationssiegs leuchten, nicht zuletzt bei dem Triumphzug durch die deutschen Städte, den Michel detailliert beschreibt. Gegen die Begeisterung, die auch die Menschen in der DDR erfaßte, waren die Jubelfeiern nach dem Gewinn der Weltmeistertitel von 1974 und 1990 matte Routineveranstaltungen. Nur der Fall der Berliner Mauer im November 1989 hat die Deutschen ähnlich bewegt wie der Sieg von Bern. Man stelle sich nur vor, daß 90 000 Menschen ins regnerische Berliner Olympiastadion strömten, nur um der Verleihung des Silbernen Lorbeerblatts an die Weltmeister beizuwohnen. Bundespräsident Theodor Heuss dämpfte damals den im Ausland besorgt verfolgten Überschwang, der zum Beispiel DFB-Präsident Peco Bauwens zu einer vielkritisierten nationalistischen Rede hingerissen hatte: „Über diesen Sieg unserer Fußballer in der Schweiz können wir uns alle freuen. . . . Wir wollen aber auch die guten Worte über diesen Sieg nicht überspannen. Man sollte nicht glauben, daß gutes Kicken schon gute Politik sei.“ Rudi Michel hat ein Vermächtnis vorgelegt, das historisch ist, ohne zu historisieren. Ein Buch, das dem Leser den Mythos Bern 1954 bewegend nahebringt.“

Jörg Stratmann: „Zu einem Endspiel gehören schließlich auch Verlierer. Eine Selbstverständlichkeit? Bei Kasza erfährt der Leser zum ersten Mal ausführlich, daß dem deutschen „Wunder“ auf ungarischer Seite eine „Katastrophe von Bern“ mit Folgen weit über das Fußballfeld hinaus gegenüberstand. Und daß dem liebsten Sportgerät der Deutschen damit vor allem diese Titelrolle zugefallen ist: „Fußball spielt Geschichte“. Davon kann Kasza, bei allen Ausflügen in trockene Historie, spannend erzählen. Dabei weist er zugleich auf den einen oder anderen Webfehler in den Mythen hin, die sich um das Endspiel und vor allem seine Auswirkungen ranken. Vom „eigentlichen Gründungsakt der Bundesrepublik“ ist beispielsweise gern die Rede. Doch der Historiker Joachim Fest, früherer Herausgeber dieser Zeitung, erzählt dem Autor, was es mit diesem ihm zugeschriebenen Zitat wirklich auf sich hat. Er habe gesagt, daß es drei Gründungsväter der Republik gegeben habe: „Adenauer im politischen, Erhard im wirtschaftlichen und Fritz Walter im mentalen Bereich.““

Thomas Klemm: „“Ich war sofort gefangen von diesem Ton“, heißt es in der 1994 erschienenen Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ von F. C. Delius, „da sagte ein Erwachsener in wenigen Worten endlich alles, was ich fühlte und nicht fassen konnte, ich sog die Stimme ein, ließ mich von ihr führen, heben und abwärts schaukeln.“ Herbert Zimmermann war in aller Ohren, so daß die Biographie von Erik Eggers den trefflichen Titel trägt „Die Stimme von Bern“. Dabei entstand die enorme Berühmtheit des Reporters, den Eggers als Karrieristen, Zocker und Frauenhelden mit extravagantem Auftreten beschreibt, ein bißchen zufällig: Weil es anfangs zu unüberbrückbaren Differenzen zwischen den Radioreportern Herbert Zimmermann und Kurt Brumme kommt, wer das erste wichtige WM-Spiel gegen die Türkei kommentieren darf und wer bei der weniger bedeutenden Begegnung mit Ungarn ans Mikrofon muß, läßt der Teamchef Robert Lembke einen Münzwurf entscheiden. Brumme gewinnt – aber letztlich triumphiert sein Konkurrent: Weil sich die beiden Reporter abwechseln, darf der NWDR-Sportchef nach dem sensationellen Turnierverlauf das Finale kommentieren. Es war der Höhepunkt einer Radiokarriere. Acht Jahre später, nach der WM 1962 in Chile, wurde Fußball zunehmend zum Fernsehsport. Und kein Fall mehr für Zimmermann, der zuvor bewegte Bilder eher beiläufig kommentiert hatte. (…) Zimmermanns steiler Aufstieg, seine frühen Erfolge und späteren Rückschläge hat Eggers umfassend recherchiert und so sachlich-fundiert geschrieben, daß die wenigen flapsigen Formulierungen und launigen Verweise auf den heutigen Sportjournalismus um so mehr stören. Doch ist es dem Autor famos gelungen, die spannende Biographie des Radiomannes mit wichtigen Aspekten der Mediengeschichte der Nachkriegszeit anzureichern und damit auch Zimmermanns Wortwahl und Duktus zu erklären. Auch wenn Manni Breuckmann mit dessen Reportagestil nicht viel anfangen kann, wie der WDR-Reporter im Vorwort schreibt: „Zu knorrig, zu pathetisch, zu sehr Schlachten-Gemälde, zu wenig Spiel-Bild.“ Rund um das Wunder von Bern wurden viele Bücher geschrieben. Die Lebensgeschichte Herbert Zimmermanns hatte noch gefehlt.“

Besprochene Bücher
Frank Goosen (Hg.): Fritz Walter, Kaiser Franz und wir. Unsere Weltmeisterschaften; Eichborn 2004, 240 Seiten, 16,95 Euro.
Klaus Theweleit: Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell; Kiepenheuer & Witsch 2004, 208 Seiten, 8,90 Euro.
Rudi Michel, „Deutschland ist Weltmeister!“, das offizielle Erinnerungsbuch des Deutschen Fußball-Bundes zur WM 1954, Südwest-Verlag 2004, 224 Seiten, 19,95 Euro.
Peter Kasza: Fußball spielt Geschichte. Das Wunder von Bern 1954, Bebra Verlag 2004, 208 Seiten, 22 Euro.

Michael Rosentritt (Tsp 8.5.) blickt wehmütig auf die Vergangenheit des 1. FC Magdeburg: „Es duftet nach frisch gemähtem Rasen. Aber sonst? Das Ernst-Grube-Stadion, Baujahr 1954, ist eine aktive Ruine. Hier wird tatsächlich noch Fußball gespielt. Vier rostige Stahlträger lassen ihre Flutlichtköpfe hängen. Die große Anzeigetafel sieht jämmerlich aus. Tiefe Risse durchziehen ihre Fassade wie Adern, die Farbe blättert ab. Die ungarische Firma Videoton hat sie 1978 installiert. Ersatzteile gibt es keine mehr. Die kleinen Lämpchen haben den Geist aufgegeben. Oder sind es doch die Relais? Man hat einfach Reklame drübergeklebt, „Schierker Feuerstein“, ein Schnaps aus der Region. Das Stadion ist fertig. Kein Leuchten, kein Funkeln mehr. Der Rest ist Geschichte. Die Geschichte des 1. FC Magdeburg, der erfolgreichsten Mannschaft des DDR-Fußballs. Magdeburg hat eine recht ordentliche Handball-Mannschaft und Bürger, die in Ermangelung wirklicher Helden den Westdeutschen Sven Ottke zum besseren Ostdeutschen umfunktionierten. Hier startete die Karriere des Boxweltmeisters, und hier endete sie vor wenigen Wochen. Ottke trat als Champion ab – ungeschlagen. Zurück blieb eine angeschlagene Stadt. 200 000 Einwohner hat Magdeburg. Die Arbeitslosenquote liegt bei knapp unter neunzehn Prozent. Magdeburg liegt an der innerdeutschen Schnittstelle, aber Frontstadt wie Berlin war sie nie. Magdeburg hat nichts Schrilles, Lautes, Spannendes. Magdeburg wirkt wie aufgesogen vom Bördeland ringsum. Die Stadt wirkt ein bisschen wie versunken, versunken wie ihr großer Fußball. m Samstag kommt noch einmal die Vergangenheit zurück. Es wird keine dieser heißen Europapokalnächte wie vor 30 Jahren. Am 8. Mai 1974 schlug der 1. FC Magdeburg den AC Mailand in Rotterdam mit 2:0 und wurde der erste und letzte Europapokalsieger der DDR. Diesen Samstag kommt der Hallesche FC, ein halbwegs guter Name aus halbwegs guten, alten Tagen der DDR-Oberliga. Auch der HFC hat es nicht geschafft in den 14 Jahren seit der Wende. So wie Dresden nicht, wie Jena, Erfurt oder Leipzig. Der VfB war 1903 erster Deutscher Meister. Jetzt ist der Traditionsverein bankrott. In den kommenden Tagen wird der VfB Leipzig aus dem Vereinsregister gestrichen. Dieses Schicksal ist dem 1. FC Magdeburg erspart geblieben. Sonst aber hat der Verein an Rückschlägen nichts ausgelassen: Spielerausverkauf, Schulden, Chaos, Insolvenz, ein marodes Stadion. Ein Dutzend Trainer ist verschlissen worden, sieben Präsidenten mussten gehen. Was soll’s? Man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Heute werden 1974 bunte Luftballons aus Kinderhänden in den Himmel steigen. An jedem Ballon wird ein Namenskärtchen befestigt sein, auf dem für einen Neubau des Stadions geworben wird. Sogar Franz Beckenbauer wollte kommen, musste aber kurzfristig nach Kuala Lumpur. Malaysia statt Magdeburg.“

Jens Weinreich (BLZ 8.5.) macht einen 30 Jahre alten freistoß:
„De Rotterdamer, 9. Mai 1974: „Der 1. FC Magdeburg ist eine neue Mannschaft in der europäischen Spitze und dokumentiert die enormen Fortschritte des Fußballs der DDR.“
Berliner Zeitung, am 10. Mai 1974: „Einen begeisternden Empfang bereiteten Tausende Magdeburger auf dem Alten Markt der Bezirksstadt ihrem DDR-Fußballmeister und Europapokalsieger. Immer wieder unterbrachen Jubel, Sprechchöre und spontaner Beifall die Begrüßungsansprache des Mitgliedes des Zentralkomitees der SED und 1. Sekretärs der Bezirksleitung Magdeburg, Alois Pisnik. Der Jubel schwoll noch an, als Kapitän Zapf und Torhüter Schulze den Europapokal über ihre Köpfe hoben und schwenkten.“
Neues Deutschland, 10. Mai 1974: „Die Vorzüge des Klubs liegen in der guten athletischen Grundausbildung, hohem Tempospiel, der taktischen Disziplin, guten Willensqualitäten, einer soliden Technik, der Zielstrebigkeit, in der Mitarbeit der Aktiven bei der theoretischen und praktischen Ausbildung.““

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