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Er hält den energetischen Fluss des Balls auf, indem er Napoleon spielt

Oliver Fritsch | Samstag, 29. Mai 2004 Kommentare deaktiviert für Er hält den energetischen Fluss des Balls auf, indem er Napoleon spielt

Fußball-Deutschland sucht den Führungsspieler; René Martens (Wochenzeitung 27.5.) rezensiert, skeptisch, ein Buch über die Nummer 10: „Wenn man eine Liste der Fussballmächtigen aufstellt, nimmt Günter Netzer zumindest im deutschsprachigen Raum eine der vorderen Positionen ein. Der bald Sechzigjährige ist in zweifacher Hinsicht einflussreich: als Repräsentant der in Zug ansässigen Sportrechtefirma Infront sowie – dank seiner Fernsehauftritte bei Spielen der deutschen Nationalmannschaft – als Galionsfigur einer muffigen Ideologie, die mit dem gesunden Fussballvolksempfinden praktisch identisch ist. Wie Netzer tickt, zeigt beispielhaft, was er Ende 2003 der FAZ über den Münchener Mittelfeldspieler Michael Ballack gesagt hat: „Dass er ein Dirigent ist, spreche ich ihm ab. Er besitzt nicht die Mentalität dafür, er hat dafür nicht den Charakter … Er hat die Führungsmentalität nicht verinnerlicht. Er sollte sich bemerkbar machen, wenn es am schwierigsten ist für die Mannschaft. Aber in diesen Situationen nimmt er zu wenig Einfluss auf das Spiel. Diese Qualität hat er nicht, daher kann man ihm gewisse Aufgaben nicht übertragen.“ Obwohl sich der Oberkritiker der Veränderungen, die der Fussball durchlaufen hat, natürlich vollkommen bewusst ist, wirken solche Angriffe stets, als lebe er noch in den sechziger und siebziger Jahren – damals, ja, da gab es noch „Dirigenten“, und Netzer füllte diese Funktion bei Borussia Mönchengladbach und Real Madrid aus, glänzend sogar, wenngleich man das angesichts seiner aktuellen Holzköpfigkeit gar nicht mehr würdigen mag. Genervt vom omnipräsenten Gerede der Netzer-Fraktion, hat sich kurze Zeit später der Franzose Bixente Lizarazu, Weltmeister von 1998 und bis zum Ende der Spielzeit 2003/2004 Mitspieler Ballacks beim FC Bayern, in der Presse geäussert: In Frankreich, sagt der Aussenverteidiger, spreche man nie von einem Führungsspieler, sondern immer von „cadres“, von mehreren leitenden Spielern. „Wir denken mehr im Kollektiv, die Deutschen setzen mehr auf den Einzelnen.“ Einzelstatistiken zum Zweikampfverhalten oder zur Ballkontakthäufigkeit, von deutschen Fernsehsendern nur allzu gern erhoben, hält Lizarazu zum Beispiel für wenig relevant. Wenn einer „Wege für seine Kollegen“ laufe – oder, wie Michael Ballack, häufig in die Spitze stürmt, weil er eine Torgelegenheit wittert –, schlage sich das in den Zahlen nicht nieder. „Diese Denkweise prägt das Verhalten auf dem Platz, dabei entscheidet oft das Spiel ohne Ball ein Match.“ Wer ein Buch macht, das dem Führungsspieler der alten Schule schlechthin, dem Mittelfeldregisseur, gewidmet ist, balanciert auf einem schmalen Grat: Es gilt, die fussballerischen Leistungen der, nennen wir sie mal: Generation Netzer zu würdigen, ohne dabei aber in jenen Kulturpessimismus abzudriften, demzufolge unter den legendären Regisseuren attraktiverer Fussball gespielt wurde. Heisst: dem Befund Rechnung zu tragen, dass der lange Ball, einst charakteristisch für einen grossen Lenker und der Inbegriff progressiver Spielweise, heute ungefähr so progressiv ist wie so genannter Progressive Rock. „In den zwei bis drei Sekunden, die ein langer Ball unterwegs ist, legen schnelle Deckungsspieler gut zwanzig Meter zurück. Von zwei bis drei Deckungsspielern angegriffen, bleibt dem angespielten Stürmer nur ein Minimalraum zur Ballannahme“, schreibt Klaus Theweleit in „Tor zur Welt. Fussball als Realitätsmodell“. Heute „wäre eine relativ ruhige Konstante wie Günter Netzer ein Störfaktor. Genau wie der von ihm geforderte „Führungsspieler“; ein Störfaktor wäre. Einer, der den energetischen Fluss des Balls aufhält, indem er Napoleon spielt.““

Besprochenes Buch:
Rüdiger Barth & Giuseppe DiGrazia: Die 10 – Magier des Fußballs. 2004, 208 S., 16,90 €.

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