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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Vermischtes

Europas erfolgreichste Zivilreligion

Oliver Fritsch | Freitag, 11. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Europas erfolgreichste Zivilreligion

„Fußball ist Deutschlands und Europas erfolgreichste Zivilreligion“ (SZ) – Interviews am Spielfeldrand, „eine Art Embedded Journalism in den Stadien“ (SZ) – BLZ-Interview mit Martin Schneider, Assistent von ZDF-Reporter Bela Rethy u.v.m.

Christian Eichler (FAZ 12.6.) denkt nochmal über den WM-Sieg von 1954 nach: „Die Schweiz blieb von Hitlers Krieg verschont. Und so war das Austragungsland jener WM, bei der Deutschland wieder eine „Siegernation“ wurde, eines der wenigen in Europa, in denen ein solches Ereignis, nur neun Jahre nach Ende des deutschen Terrors in Europa, nicht die Volksseele zum Schäumen gebracht und zu Haß auf die Sieger geführt hätte. Für andere war der Anblick triumphierender Deutscher ein kaum zu ertragender Anblick. Etwa die Franzosen. Bei Wiederaufnahme der sportlichen Beziehungen, einem Länderspiel 1952 in Paris, hatte man, um die Zuschauer nicht zu provozieren, auf die Hymnen verzichtet. Nach dem WM-Finale 1954 aber erklang das Deutschlandlied, und Tausende Zuschauer sangen die erste, verbotene Strophe. Das geschah wohl eher aus dem Grund, daß sie die dritte, erst seit kurzem vorgeschriebene, noch nicht kannten, als aus nationalistischem Überschwang. Doch der negative Effekt war groß. Der Schweizer Rundfunk schaltete sich aus der Übertragung aus. „Achtung! Achtung!“ hielt der Reporter der französischen Zeitung „Le Monde“ die verhaßten deutschen Wörter fest. „Zehntausende von Deutschen stehen still. Es regnet. Es regnet, und mir ist kalt. Freudestrahlend, jung, begeistert singen sie mit fester Stimme, auf daß es die ganze Welt hört und weiß, daß Deutschland wieder einmal ,über alles‘ gilt.“ Das war die Schattenseite des „Wunders von Bern“ und doch auch ein Schritt zu einer neuen Normalität: Was folgte, bewies die Belastbarkeit der neuen europäischen Nachbarschaft und die Bereitschaft, Verständigung über Vorurteile zu stellen. Den Befürchtungen eines neuen deutschen Größenwahns, die DFB-Präsident Peco Bauwens mit einer peinlichen Feierrede über „Führerprinzip“ und „die Fahne im Herzen“ verstärkte, machte Bundespräsident Theodor Heuss ein Ende, als er der Mannschaft, die mit ihrem bescheidenen Auftreten in der Stunde des Sieges Sympathien gewonnen hatte, das Silberne Lorbeerblatt überreichte: „Wir wollen aber die guten Worte über diesen Sieg nicht überspannen. Man sollte nicht glauben, daß gutes Kicken schon gute Politik sei.“ Europa spürte, daß in Bern zum ersten Mal ein anderes Deutschland gewonnen hatte: ein Teil des neuen Europa, ein Nachbar, vor dem die alten Ängste nicht mehr nötig waren. Der Geist von Spiez mochte triumphieren, das deutsche Gespenst blieb in der Mottenkiste.“

Com uma força

Michael Reinsch (FAZ 12.6.) schüttelt den Kopf über den offiziellen EM-Song: „In den kommenden drei Wochen wird unsere Seele mit der portugiesischen Zeile „Com uma força“ traktiert werden, wenn sie zum Fußball an die Oberfläche kommt. Für ihre Sängerin Nelly Furtado haben Universal Records die Position „offizieller Song der Euro 2004″ erworben, was vor allem bedeutet, daß sie vor dem Endspiel und damit vor rund einer Milliarde Fernsehzuschauer auftreten wird. Das Feld bereitet ihr unser erstes Programm, indem es den Song mit den so erstaunlich unportugiesischen Trommeln und dem noch erstaunlicheren Banjo drei Wochen lang zu allen Zusammenschnitten dudelt – Universal zahlt dafür. Beim zweiten Programm hat Universal ihre Band Nickelback eingekauft. Als schwämme Portugal nicht in musikgewordenem Gefühl, stammen all diese Musiker aus Kanada. Fräulein Furtado will wenigstens in den Sommerferien erlebt haben, wie tief Fußball ihre portugiesischen Cousins aufwühlt. Dem Song entnimmt man das nicht. Chad Kroeger, der Kopf von Nickelback, hat eine Art Tellerwäscher-Karriere gemacht. Er akquirierte früher Anzeigen für ein Fußball-Blatt. Spielt die deutsche Auswahl so, wie zu befürchten ist, wird uns der Sinn statt nach der unerträglichen Leichtigkeit von Pseudo-Samba und metallisch glänzendem Gitarrenrock eher nach authentischem Fado stehen, nach der sehnsüchtigen Klage Portugals, die allein tiefer Leidenschaft entspringen kann. Wer angesichts der Musikauswahl des deutschen Fernsehens am liebsten die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde, der könnte es ja rhythmisch tun: Klatsch, klatsch, klatsch-klatsch-klatsch. Hörst du, sie spielen unser Lied!“

BLZ-Interview (12.6.) Schneider, Assistent von ZDF-Reporter Bela Rethy. Er hilft ihm während des Spiels:
BLZ: Herr Schneider, Sie sitzen neben Bela Rethy auf der Tribüne. Er kommentiert, was machen Sie?
MS: Wir bereiten uns gemeinsam auf die Spiele vor. Wir erstellen Statistiken, machen uns Listen zu den einzelnen Spielern. Siebzig Prozent der Arbeit findet dann während des Spiels statt. Als Assi bin ich das dritte und vierte Auge von Bela Rethy. Wenn er auf den Monitor guckt, guck‘ ich aufs Spielfeld und umgekehrt. Ich muss dann relativ flott sein, wenn was passiert: Von wem war das Tor? War es Elfmeter, war es keiner? War es Abseits, war es keins? Das bekommt er dann von mir, falls er es selbst nicht genau gesehen hat. Man muss sich gut im Regelwerk auskennen.
BLZ: Wie verständigt man sich während des Spiels?
MS: Wir arbeiten seit acht Jahren zusammen, unser erstes Spiel war 1996 bei der EM. Da haben wir uns schon eine Zeichensprache angewöhnt. Daumen hoch, richtige Entscheidung des Schiedsrichters, Daumen runter, falsche Entscheidung. Ich habe auch Sprechkontakt auf seinen Kopfhörer. Bela ist sehr belastbar, ich kann raufsprechen während er redet. Da kann er sich zwischendurch korrigieren, wenn es sein muss. Wir schieben uns auch Zettel hin und her. Ich schreibe ihm jede Viertelstunde ein Fazit auf, wie ich das Spiel sehe, wie ich es einsortiere, welche Stärken und Schwächen ich ausgemacht habe.
BLZ: Korrigieren Sie ihn auch?
MS: Klar. Bela hat aber eine sehr schnelle Auffassungsgabe. 95 Prozent unserer Beobachtungen sind deckungsgleich. Und wenn man sich nicht sicher ist, wartet man lieber ein paar Minuten, um sich nicht hinterher korrigieren zu müssen.
BLZ: Haben Sie sich schon beide geirrt?
MS: Wir haben 60, 70 Spiele miteinander gemacht, da passiert das schon mal. Mir fällt ein Spiel der deutschen Nationalmannschaft ein, es gab einen abgefälschten Schuss von Arne Friedrich, den wir für den Schützen des Tores hielten. Das Tor wurde aber nachher dem zugeschrieben, der abgefälscht hatte.
BLZ: Wo bekommen Sie auf der Tribüne so schnell Informationen her? Haben Sie Zugriff auf eine Datenbank?
MS: Eine Datenbank haben wir in der Regel nicht, manchmal bieten die Veranstalter Material an, das man aufrufen kann. Aber das meiste ist von uns vorbereitet. Wir haben seit ein, zwei Jahren noch einen Statistiker dabei, der hat dann noch ein paar Specials parat.
BLZ: Seit wann haben Reporter eigentlich Assistenten? Mussten die früher nicht alles selbst wissen?
MS: Das gibt es seit zwanzig Jahren. Bela war vorher Assistent bei Rolf Kramer, das war 1986. Marcel Reif war Assistent von Dieter Kürten.
BLZ: Ist das auch international üblich?
MS: Ja. Die Spanier haben häufig noch einen zweiten Kommentator, einen ehemaligen Nationalspieler. Manche haben sogar drei Leute auf der Tribüne sitzen, von denen einer nur den Schiedsrichter beurteilt. Da gibt es diverse Modelle.
BLZ: Der Zuschauer hört und kennt nur den Reporter. Ist das für den Assistenten nicht deprimierend?
MS: Nein. Bela ist das Gesicht und die Stimme nach draußen. Das stört mich überhaupt nicht.

Katholische Werkgerechtigkeit und protestantische Gnadentheologie

Woran glauben wir, Matthias Drobinski (SZ/Meinungsseite 12.6.)? „Fußball ist Deutschlands und Europas erfolgreichste Zivilreligion, in der Millionen Leid und Erlösung erleben, andere Wirklichkeiten ahnen, Identität finden; das „Tor des Ich zur Welt“ finden, wie der Soziologe Klaus Theweleit formuliert hat. Der Fußball ist die Mischung, die eine Religion des 21. Jahrhunderts attraktiv macht: ekstatisch, undogmatisch und so weit gefasst, dass jeder alles hineinlegen kann – wobei Besinnung und Meditation vielleicht ein bisschen kurz kommen. Das Fußballspiel ist ökumenisch. Nirgendwo sonst vereinen sich so reibungslos katholische Werkgerechtigkeit („wir kämpfen und geben alles, bis dann ein Tor nach dem andern fällt“) und protestantische Gnadentheologie, der zufolge es vom Erbarmen des Herrn abhängt, ob der Ball vor oder hinter der Linie landet. Fußball ist, trotz seiner Regeln, undogmatisch: Ein Spielsystem ist abgelöst, wenn ein neues erfolgreicher ist. Und der Fußballgott ist überhaupt nicht eifersüchtig: Er kennt das Mönchische jener Fans, die ihr letztes Geld geben um auch das fernste Auswärtsspiel zu durchleiden – und er verzeiht, wenn einer nach 45 Minuten die Glotze abschaltet. Vor allem aber ist im Fußball das Verhältnis von Vergangenheit zu Gegenwart aufgehoben. Es lebt in jeder Fangemeinde die Erinnerung an große Spiele, wichtig aber ist das nächste Match, das immer wieder von vorne beginnt. Die Vergangenheit ist auf diese Gegenwart hin ausgerichtet; wohl auch deshalb sind all die haarsträubenden Skandale vom Fußball abgeperlt. Mögen Christen, Muslime, Buddhisten an der Last ihrer Geschichte tragen: der Fußball ist die Religion der totalen Gegenwart. Selbst Himmel und Hölle gibt es nur auf Zeit, und die Frage nach dem gerechten Gott stellt sich weniger drängend, wenn man weiß: Deutschland-Holland gibt es immer wieder. Auch deshalb werden die gut gemeinten Inkulturationsversuche kickender Vikare und missionierender Kicker erfolglos bleiben: Fußball ist und bleibt säkularreligiös. Wenn nun Deutschland das Endspiel erreichen sollte, wird er groß werden, der runde Gott. Er wird Straßen leeren und Wohnstuben füllen und dann wieder Stuben leeren und Straßen füllen. Und wenn sie rausfliegen, die Jungs? Dann werden ein paar Intellektuelle sinnieren, wie das zusammenhängt mit dem Reformstau im Land. Der Rest wird sagen: Ist doch bloß ein Spiel. Auch das macht den Erfolg des runden Gottes aus.“

Manche sind auch nicht die Hellsten

Interviews am Spielfeldrand; Detlef Esslinger (SZ/Medien 12.6.) dreht der Welt den Hintern zu: „Wenigstens Oliver Kahn beeilt sich nicht. Der Kapitän ist einer von zwei Spielern, die sich nicht gleich nach Abpfiff davon gemacht haben. Die nicht an dem TV-Reporter vorbeigegangen sind und getan haben, als sähen sie ihn nicht. Kahn, der Torwart, befindet sich noch im Mittelkreis, klatscht in Richtung Zuschauer. Jürgen Bergener, der Reporter, wird später erzählen: In dem Augenblick wusste er“s – der Kapitän sammelt sich für ein Statement. Vor zwei Jahren, in Wales, war es genauso: Damals ging der letzte Test vor der WM ebenfalls verloren – und Kahn sagte als einziger etwas. Und jetzt? 0:2 gegen Ungarn. Mit dem Schlusswort des Kommentators Steffen Simon ist die ARD-Übertragung noch lange nicht vorbei. Jetzt folgen die Interviews: Was fühlen Sie nach dieser Niederlage? Wie ratlos sind Sie? Wie tief ist dieser Tiefpunkt für Sie? Das waren die Fragen, die nach dem 1:5 in Rumänien von den ZDF-Kollegen gestellt wurden; das ist die Kategorie Journalismus, mit der in diesem Moment gerechnet werden muss, der Auftritt der Field Reporter, wie die Spezies in der Branche genannt wird. Der Auftritt dieser Feldarbeiter kommt, wenn der letzte Pass gespielt ist – ein Dienst am Fan, den vor allem Frauen nie begreifen werden. Senta Berger zum Beispiel: Die Schauspielerin stellte neulich das Buch von Oliver Kahn vor. Sie nutzte den Auftritt für eine Frage, die sie wohl seit Jahren umtreibt: „Warum tun Sie sich das an – diese absurden Interviews direkt nach dem Spiel?“ Oder Amelie Fried, die Talk-Moderatorin: Sie hatte in 3 nach 9 vor kurzem den Premiere-Kommentator Marcel Reif zu Gast und erzählte von zu Hause: Der Schiedsrichter pfeift ab, und sie fragt Mann und Sohn, ob man jetzt endlich abschalten könne. (Worauf die natürlich „Nein, nein!“ brüllen.) Und was antwortete der große Reif? Er goss Hohn über seine TV-Kollegen: „Wenn die sich öfter mal überlegen würden: Was ist eigentlich „ne Frage?“ . . . Das sagte Reif. (…) Es gilt, eine Art Embedded Journalism in den Stadien zu bestaunen. Die Field Reporter sitzen nie oben auf der Pressetribüne, sondern stets unten am Spielfeld. In Kaiserslautern haben sie ihren Platz an der Eckfahne, in Dortmund in einem Bretterverschlag hinter der Trainerbank. Um wirklich etwas zu sehen, schauen diese Reporter auf zwei Monitoren Fernsehen. In Dortmund bekommt der WDR-Reporter Reiner Lefeber nur an diesem Ort mit, was an der Trainerbank besprochen wird. Wenn der Kommentator später den Zuschauern vom Muskelfaserriss eines Spielers berichtet, hat er die Information von einem wie Lefeber. Steffen Simon, 39, im Hauptberuf Chef der Sportschau, rühmt den 50-Jährigen noch heute für ein Interview, das dieser im Dezember mit Dortmunds Trainer Sammer führte. Dessen Torhüter hatte kurz vor Schluss einen kapitalen Fehler begangen, weshalb das Spiel gegen Kaiserslautern nur 1:1 endete. Lefeber fragte: „Wie ist das zu erklären?“ Worauf Sammer raunzte: „Was stellen Sie für Fragen? Ich hab“ denen nicht gesagt, dass sie nicht den Ball fangen sollen.“ Lefeber hakte nach: „Sie haben aber auch eine Menge Chancen nicht verwertet.“ Zwei-, dreimal noch wurde er von dem Trainer beschimpft, blieb aber standhaft. Irgendwann hatte er Sammer wieder am Boden. Im Leben eines Field Reporters ist ein solcher Dialog ein kleines Kunststück. Denn der Journalist hat nur 1:30 Minuten zur Verfügung. Und dann steht da ein emotionalisierter Trainer in einer Arena mit 80 000 pfeifenden Zuschauern. „Sie brauchen Mut in dem Job“, sagt Steffen Simon. Die Live-Interviewer kennen die Sportler oft seit Jahren, und man will sie auch künftig ans Mikro bekommen. Anders als viele Kollegen können diese Interviewer ihre Fragen hinterher auch nicht wegschneiden oder redigieren. Okay, manche sind nicht sehr souverän, manche sind auch nicht die Hellsten.“

Sandmännchen schon zur Mittagszeit

Benjamin Henrichs (SZ/Medien 12.6.) gähnt: „Zu den Exzessen der Vorberichterstattung gehörten natürlich auch die nahezu täglichen Heldensagen über das Wunder von Bern. Sodann die historischen Rückblicke auf sämtliche Fußballschlachten der Fußballgeschichte seit dem Skandalspiel Griechenland gegen Troja. Gleich zwei Sendungen beschäftigten sich ausschweifend mit dem WM-Spiel 1974 gegen die DDR: die westdeutsche Schande, das Sparwasser-Tor! Aufwühlend ist das alles auch heute noch – wenngleich ein intimer Zusammenhang mit der EM nicht recht zu erkennen ist. Und jetzt kommt die Apotheose der Zeitvernichtung: die Originalübertragung der DFB-Pressekonferenzen aus Portugal. Rudi redet, sagt aber nix. Das macht aber nix. Weil Rudi einfach süß ist! Die Pressekonferenzen live: Das ist Kinderfernsehen für alte, todmüde Kinder, das ist das Sandmännchen schon zur Mittagszeit.“

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