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Heilsbringer aus Brasilien

Oliver Fritsch | Dienstag, 29. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Heilsbringer aus Brasilien

Felipe Scolari, „Heilsbringer aus Brasilien“ (FAZ), schart ganz Portugal hinter sich, ganz Portugal? ganz Portugal! – Milan Baros, Star der EM – neuer holländischer Teamgeist u.v.m.

Heilsbringer aus Brasilien

Felipe Scolari schart ganz Portugal hinter sich, Thomas Klemm (FAZ 29.6.): „Nur die Ultratreuen unter den Fußballfans stellen Scolaris Wechselspiel wirklich in Frage. Das Gros urteilt darüber, was es gesehen hat: Luis Figo war nicht schlechter als die meisten seiner Mitspieler, aber eben auch nicht besser. Es ist das Erstaunlichste überhaupt in den vergangenen zwei Wochen dieser Europameisterschaft: wie sehr der brasilianische Trainer seine Spieler und die Öffentlichkeit für sich gewinnen konnte. Trotz dem Umbruch, dem lange vor dem Turnier Torhüter Vítor Baía sowie nach dem 1:2 gegen Griechenland Abwehrchef Fernando Couto und Regisseur Rui Costa zum Opfer fielen, trauert keiner den einstigen Stützen der kickenden Gesellschaft hinterher, sondern erfreut sich am Elan der Jugend. Selbst die alten Kumpels Rui Costa, der seine Jokerrolle bislang erfolgreich angenommen und nach seinen Einwechslungen zweimal getroffen hat, und Luis Figo erklären öffentlich die Einheit zum höchsten Gut – und den Trainer zur einzigen Autorität. (…) Der 55 Jahre alte Trainer macht bei der EM weiter, wo er vor zwei Jahren bei der WM aufgehört hatte. Damals schreckte er als Coach der brasilianischen Selecção gleichfalls nicht vor zunächst unpopulären Maßnahmen zurück, schaffte es aber, sein Volk durch Erfolg zu überzeugen. Die Stars hält Scolari stets bei Laune, indem er ihren Wert lobt, aber ihnen im gleichen Atemzug Mannschaftsgeist abverlangt. Vor dem Turnier im eigenen Land hatte er Figo sogar zu seinem Vertrauten erklärt, der ihm mit seiner intimen Kenntnis des Kaders und seiner Erfahrung helfen könne. Derart geschmeichelt, versprach der nunmehr 106malige Nationalspieler sogleich, dem neuen Trainer ebenso zur Seite zu stehen wie den alten, mit denen er in seinen bisherigen zehn Jahren in der Nationalmannschaft zusammengearbeitet hatte. Wie sehr Scolari verehrt wird – und nicht nur bei Fußballfreunden –, davon hat sich ein Karikaturist in einer Sonntagszeitung ein rechtes Schwarzweißbild gemacht: Mit einem Heiligenschein schwebt der Trainer über dem Fußballplatz, entrückt und auf den Rasen herabblickend. Es ist eine verrückte Fußballwelt zwischen Himmel und Erde: Der Glaube der Portugiesen ruht weniger auf der Selecção und ihrem Star, sondern vielmehr auf einem Heilsbringer aus Brasilien.“

Ich wollte bei der EM ein paar Leuten zeigen, dass ich Fußball spielen kann

Ronald Reng (FR 29.6.) bewundert Milan Baros: “Diese Europameisterschaft erfindet sich ihre Helden neu, und manchmal kommt einem der Gedanke, sie tue es per Zufallsgenerator. Auf dem Weg zu den Stadien läuft man noch an den überlebensgroßen Beckhams, Figos, Zidanes vorbei, direkt vor dem Eingang zum Estádio do Dragão ist es Michael Ballack, dessen Werbephoto eine ganze Hauswand bedeckt. Aber im Stadion drin, da sind längst nur noch Spieler wie Milan Baros: 22 Jahre jung, Ersatzstürmer in den zurückliegenden drei Spieljahren beim FC Liverpool (…) Ein Talent. Man sagte es schon seit Jahren über Milan Baros aus Ostrau, er wurde Junioren-Europameister, von Borussia Dortmund und Juventus Turin umworben, entschied sich für Liverpool, und mit der Zeit veränderte sich die Betonung, wenn die Experten über ihn sagten: ein Talent. Zweifel schwangen nun mit: Ob er jemals mehr sein wird? Er zeigte Funken seiner Klasse, aber nicht das Wichtigste: Konstanz. Heute fragt man sich, wie sehr es an ihm lag und wie sehr an Liverpools Trainer, dem gerade entlassenen Gerard Houllier. Houllier, ein von Paranoia zerfressener Mensch, spielte lieber nur mit Michael Owen als einziger Spitze. Baros hat es nicht vergessen. „Ich wollte bei der EM ein paar Leuten zeigen, dass ich Fußball spielen kann“, sagt er. Monsieur Houllier darf sich angesprochen fühlen. Er ist einer dieser Stürmer, die lange auf ihren Moment warten – und dann ihre Arbeit in Sekunden erledigen. Er ernährt sich von Steilpässen in den freien Raum, er holt sich den Ball, er führt ihn eng am Fuß, er ist so geschwind, Verteidiger hassen solche Stürmer.“

Im Vergleich zu Baros war „Taucher“ Jürgen Klinsmann ein Schnorchler

Milan Baros hatte es in England zunächst schwer, Peter Heß (FAZ 29.6.): “Mit Ausnahme seiner Eltern und nächsten Verwandten kennt ihn wahrscheinlich niemand besser als Karel Brückner. Er war es, der das Talent Milan in die Junioren-Nationalelf berief, obwohl er noch unter Spielern von vier älteren Jahrgängen auswählen durfte. Er machte ihn auch zum A-Nationalspieler. Baros‘ Begabung begeisterte den Fußball-Philosophen schon immer. Schnelligkeit, Ballfertigkeit, Instinkt, Frechheit, Selbstbewußtsein und Mut ergeben eine hervorragende Mischung für einen Stürmer. Mit großväterlicher Nachsicht bedachte er Milans Schwächen: seine Launen, seine Mängel in der Disziplin, seinen Hang zur Divenhaftigkeit. Brückner war es, der Baros immer vertraute, auch wenn er durch Verletzungen oder persönliche Krisen zu scheitern drohte. Milan Baros sieht gut aus und ist ein echter Mädchenschwarm. Auf dem Fußballplatz fällt ihm alles zu, in seinem Heimatstädtchen war er schon mit 16 ein Star. Wieso sollte er damals annehmen, daß man hart arbeiten muß, um weiterzukommen? Mit 18 war halb Fußball-Europa hinter ihm her. Matthias Sammer ließ ihn mehrmals für Borussia Dortmund beobachten, Juventus Turin machte ein Angebot, und auch der FC Liverpool schickte seine Scouts zu Banik Ostrau. Die Engländer empfahlen ihrem Cheftrainer Gerard Houllier allerdings, Baros auf dem Festland zu lassen. Ein Schauspieler, ein Weichei, lautete ihr Urteil. Auf der Insel mögen sie keine „Diver“, keine Spieler, die bei jedem Rempler abtauchen. Im Vergleich zu Baros war „Taucher“ Jürgen Klinsmann ein Schnorchler, der Tscheche ein Tiefseeforscher. Houllier setzte sich über seine Berater hinweg, verpflichtete das tschechische Talent im November 2001 für umgerechnet fünf Millionen Euro und bereute es. Faul und übergewichtig präsentierte sich Baros in den ersten Wochen. Und als er fit war, verschwand er nach seinem tollen Start in der Premier League wieder auf der Ersatzbank. Mit Michael Owen und Emile Heskey hatte Baros den englischen Nationalsturm als Konkurrenz vor sich. Dazu vom Sommer 2002 an die senegalesische WM-Entdeckung El Hadji Diouf, die die Kleinigkeit von 15 Millionen Euro Ablöse kostete. Zu mehr als gelegentlichen Einsätzen reichte es bis zu diesem Sommer nicht, obwohl sich Baros durch die harte englische Fußballschule längst die richtige Berufseinstellung angeeignet hat. Sein Landmann Vladimir Smicer, dessen Vertrag Liverpool nur verlängert haben soll, um Baros bei Laune zu halten, war ihm immer eine Stütze.“

Kleine Familie

Thomas Klemm (FAZ 29.6.) befasst sich mit dem neuen Teamgeist Hollands: „Kluivert und Co. sind wirklich kaum wiederzuerkennen, seit sie im Erfolg vereint sind. Trotz schleppenden Starts in das Turnier und einem EM-Viertelfinale gegen Schweden, in dem die niederländische Fußball-Nationalmannschaft erst gegen Ende richtig aus sich herausging und ihren Elfmeter-Albtraum besiegte, scheinen Platzängste und Eifersüchteleien der Vergangenheit anzugehören. Das zweimalige Zittern ums Weiterkommen – am letzten Vorrundenspieltag, dann im Viertelfinale – hat die Holländer zusammengeschweißt. Dabei müßte gerade Patrick Kluivert brodeln in der Hitze der Algarve, die er nur auf dem Trainingsplatz aktiv durchlebt. Bei der vergangenen Europameisterschaft vor vier Jahren im Angriff gesetzt, wurde der Holländer mit fünf Treffern Torschützenkönig des Turniers. In Portugal hingegen ist er der einzige Feldspieler der „Oranjes“, der noch keine Sekunde mitspielen durfte. Und wenig deutet darauf hin, daß er einen Tag vor seinem 28. Geburtstag im Halbfinale gegen EM-Gastgeber Portugal zum Einsatz kommen wird. „Es ist phantastisch, wie loyal sich Kluivert verhält“, lobte Bondscoach Dick Advocaat. Für den Trainer ist der neue niederländische Teamgeist ein Grund dafür, „daß die Mannschaft wirklich an sich glaubt“. Auf dem Platz stand Kluivert trotzdem einmal: mit seinem Filius zum Feiern. Nach dem Shoot-out vom Samstag, zu dessen erfolgreichem Gelingen auch van Nistelrooy und Makaay ihren Teil beitrugen, herzte der Angreifer seine Kollegen, die auch Konkurrenten sind. So innig hat es Advocaat gern, der seine großen Stars am liebsten als eine kleine Familie betrachtet.“

Hinrichtung

Jan Christian Müller (FR 29.6.) vermutet den Rücktritt Dick Advocaats: „Im internationalen Teil des Pressegesprächs hat der Nationaltrainer an die Adresse seiner wütenden Kritiker gesagt, die Leute wüssten nicht, was sie tun. „Es gibt ein Leben nach dem Fußball.“ In der Pressekonferenz mit holländischen Kollegen waren Advocaat, als das Thema wieder auf die ausufernde und größtenteils ehrabschneidenden Kritik („dummer Dick“) kam, Tränen in die Augen geschossen, er konnte Sekundenlang nicht mehr weiter sprechen. In diesem Zusammenhang stehen auch die angeblichen Äußerungen von Jan Mulder. Der Vater des ehemaligen Schalke-Profis Youri Mulder soll als TV-Experte sarkastisch zur „Hinrichtung“ des Trainers aufgefordert haben. Hintergrund dieser Reaktion ist, wie die FR erfuhr, dass Advocaats Frau telefonisch bedroht worden sein soll. Advocaat sagte am Montag, in der Vergangenheit sei „sehr viel passiert in Holland“, auch was bis dato niemand für möglich gehalten habe. Er spielte damit auf den Mord an dem rassistischen Demagogen Pim Fortuyn an, der im Mai 2002 vor den Parlamentswahlen auf offener Straße in Hilversum erschossen wurde. Es war der erste politische Mord in der Geschichte der Niederlande.“

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