indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Allgemein

Luis Figo, der gewesene Volksheld

Oliver Fritsch | Mittwoch, 30. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Luis Figo, der gewesene Volksheld

„Portugal gilt wieder etwas in Europa“ (FAZ) / „ihre grosse Zuversicht schöpfen die Portugiesen aus der exzellenten Ballbehandlung, dem ausgeprägten Positionsgefühl und der Kraft einer Schutzpatronin“ (NZZ) – „Luis Figo galt lange als Volksheld, in letzter Zeit spüren die Portugiesen eine gewisse Distanz“ (Tsp) u.v.m.

Bedeutungsgewinn durch einen Doppelpaß zwischen Politik und Fußball

Portugal hat zwei Gründe, stolz zu sein – Thomas Klemm (FAZ 30.6.): „Portugal gilt wieder etwas in Europa, und der Bedeutungsgewinn nach zweieinhalb Turnierwochen könnte durch einen Doppelpaß zwischen Politik und Fußball bald seinen Höhepunkt erreichen. Ministerpräsident Durão Barroso steht vor dem Sprung an die Spitze der Europäischen Kommission und die Nationalmannschaft vor dem größten Erfolg in ihrer Geschichte. Volksvertreter und Fußballelite, von sich aus überzeugend auftretend, haben die gleiche Konkurrenz hinter sich gelassen: Durão Barroso wird Nachfolger eines Italieners (in der EM-Vorrunde gescheitert), erhielt den Vorzug vor einer Kandidatin aus Spanien (nach dem 0:1 gegen Portugal früh ausgeschieden) sowie jeweils vor einem Politiker aus Belgien und Luxemburg (beide nicht einmal für die Endrunde qualifiziert). Daß Durão Barroso als zweite Wahl gilt wie die Selecção, die mittlerweile zur Lieblingsmannschaft aller unparteiischen Fußballtouristen in Portugal geworden ist, und beide auch von der Schwäche der europäischen Großmächte profitieren – wen stört’s? Mit einem Abstimmungserfolg in Brüssel und zwei Siegen in Lissabon könnte Portugal seine diesjährigen Festwochen fortsetzen. Dreißig Jahre Nelkenrevolution im April, Champions-League-Sieg des FC Porto im Mai, EM-Titel und Kommissionsvorsitz im Juli: Auf diese Weise erstrahlte das Land, das vor fünf Jahrhunderten kurzzeitig zum Weltreich aufgestiegen war, zumindest in Europa wieder in neuem Licht. Die Begeisterung ist groß in und für Portugal, das die Fußballbühne bereitet hat und zugleich eine der Hauptrollen spielt. Die Einheimischen haben „einen modernen Patriotismus“ für sich entdeckt, wie Staatspräsident Sampaio sagte.“

„Ihre grosse Zuversicht schöpfen die Portugiesen aus der exzellenten Ballbehandlung, dem ausgeprägten Positionsgefühl und der Kraft einer Schutzpatronin“, ergänzt Georg Bucher (NZZ 30.6.): „Portugal hat gelitten und mit Opferbereitschaft hohe Hürden aus dem Weg geräumt, just jene Auswahlen, deren Länder im Positiven wie im Negativen die Geschichte des Landes beeinflussten. Auch mit den Niederlanden wurden im 16. Jahrhundert die Klingen gekreuzt. Tollkühne lusitanische Seefahrer leisteten die Vorarbeit, doch die Niederländer bewiesen auf der Grundlage einer besseren Organisation mehr kommerzielles Geschick in der neuen Welt. Daraus entwickelte sich ein dauerhaftes Wohlstandsgefälle zwischen den Ländern. Gastarbeiter wussten es zu nutzen, und viele ihrer Nachfahren sind in den Benelux-Staaten heimisch geworden. Löst der technisch geprägte holländische Fussball mit seinem Kombinationssinn besonders in Mitteleuropa Bewunderung und Respekt aus, so glauben die Portugiesen ein Rezept dagegen gefunden zu haben. Mit ihrer exzellenten Ballbehandlung, ihrem Positionsgefühl und der Stärke in 1:1-Situationen wollen sie die Playmaker Seedorf und Davids neutralisieren. Eher schwach vernehmbare Stimmen warnen vor der grösseren internationalen Erfahrung des Gegners und seiner taktischen Flexibilität, verweisen auf den WM-Qualifikationsmatch 2001 in Porto, den die Holländer unter Louis van Gaals Regie klar bestimmten, die in den letzten acht Minuten einen 2:0-Vorsprung allerdings aus der Hand gaben. So weit historische Anleihen, rational nachvollziehbare Argumente. Über ihnen schwebt ein magisch inspiriertes Denken, das Kritikern wenig, Kassandra-Rufern keinen Raum lässt. Seit Luis Felipe Scolari das Amulett seiner Schutzpatronin, der Jungfrau von Caravaggio, aus dem brasilianischen Süden erhalten hat, läuft alles wie geschmiert. Einwechselspieler setzen Akzente und werden zu Matchwinnern, Schiedsrichter geben keinen Grund zur Klage, und in entscheidenden Momenten lacht das Glück. Kann da überhaupt noch etwas schiefgehen?“

Figo galt lange als Volksheld, in letzter Zeit spüren die Portugiesen eine gewisse Distanz

Luis Figo verliert Kredit, behauptet Sven Goldmann (Tsp 30.6.): „Es sind dramatische Tage in Portugal. Ministerpräsident José Manuel Durao Barroso soll von seinem Amt zurücktreten und neuer Kommissionspräsident der Europäischen Union werden. In seiner Regierungskoalition liefern sich Konservative und Sozialdemokraten heftige Kämpfe um die Nachfolge, die oppositionellen Sozialisten fordern Neuwahlen. Für die großen europäischen Nationen ist Barroso eine Kompromisslösung, für die Amerikaner ein Wunschkandidat, weil er ihre Position i Politik ist derzeit ein Randthema, geeignet für die Schlussminuten der Fernsehnachrichten, gleich nach dem Streik der Lissaboner U-Bahnfahrer. Die Nation interessiert sich nicht für José Manuel Durao Barroso, sondern für Luis Filipe Madeira Caeiro, genannt Figo. Tagelang haben die Portugiesen gerätselt: Spielt Luis Figo heute gegen die Niederlande? Und wenn ja: wie lange? Seit gestern steht fest: Er wird spielen, der Streit mit Trainer Luiz Felipe Scolari ist offiziell ausgeräumt. Seit dem Sieg über England hatten Journalisten das Quartier der portugiesischen Nationalmannschaft in der Academia Sporting im Norden Lissabons belagert. Figo schwieg und trainierte, erst am Tag vor dem Halbfinale meldete er sich wieder zu Wort: „Wir müssen diese Europameisterschaft einfach gewinnen“, rief Figo in die Mikrofone. „Es ist das Größte, was wir Portugal schenken können.“ Solche Auftritte mit nationalem Pathos sind selten geworden. Luis Figo galt lange Zeit als Volksheld, doch in letzter Zeit spüren die Portugiesen eine gewisse Distanz. Sie verstehen nicht, warum er sich seit Jahren nicht mehr blicken lässt im Lissaboner Arbeiterviertel Almada, wo er aufgewachsen ist. Sie wundern sich über Interviews, in denen er andeutet, er wolle sich in einer schlechten Nationalmannschaft nicht seinen Ruf beschädigen lassen. Und sie ärgern sich über seine Posen auf dem Fußballplatz, denn es kommt ihnen so vor, als stelle dieser Luis Figo sich über die Mannschaft. m Golfkrieg unterstützt hat. Den Portugiesen ist das alles ziemlich egal.“

Auswechseln wird Scolari ihn heute wahrscheinlich trotzdem

Matti Lieske (taz 30.6.) ist gespannt, was Luis Figo gegen Holland zeigen wird: „Das Land nahm die Schmollattacke zunächst übel, doch der Umschwung folgte auf dem Fuß. Inzwischen kann sich Figo vor Lobpreisungen kaum retten. Im portugiesischen Lager weiß man, dass ein Skandal um den Kapitän das Letzte ist, was man gebrauchen kann. Und auch Figo selbst ist offenbar in sich gegangen und nun von Reue geplagt. Freiwillig trainierte er mit den Reservisten, wobei er demonstrativ scherzte, lachte und ein Späßchen an das andere reihte. Die Mannschaftskollegen traten der Reihe nach vor die Mikrofone und taten kund, wie der Kapitän ihnen nach dem gewonnenen Elfmeterschießen gegen England in der Kabine einzeln gratuliert und wie er sogar eine emotionstriefende Rede gehalten habe, eine absolute Seltenheit beim zurückhaltenden Figo. Die Holländer jedenfalls haben große Furcht, dass die Mini-Affäre den portugiesischen Flügelmann heute zu seiner besten Turnierleistung inspirieren könnte. „Gegen uns wird er alle seine Qualitäten zeigen“, glaubt Johnny Heitinga. Auch Trainer Felipe Scolari, normalerweise kein Lobhudler, was die Spieler betrifft, pries seine Nummer 7 nach allen Regen der Rhetorikkunst. „Wir sprechen von einem Mann, der die Auswahl verteidigt, der sein Land verteidigt und der alles für sein Land tut, was wir uns von ihm wünschen“, bramarbasierte der Brasilianer und führte Figos Zorn auf die etwas düstere Attitüde der Portugiesen zurück. „Sie sind eben so, während wir Brasilianer den ganzen Tag, jede Stunde, Feste feiern.“ Abschließend bemerkte er noch: „Bevor ich hier Trainer wurde, habe ich Figo als Spieler bewundert, jetzt bewundere ich ihn auch als Persönlichkeit.“ Auswechseln wird er ihn heute wahrscheinlich trotzdem.“

Kommentare

Comments are closed.

  • Quellen

  • Blogroll

  • Kategorien

  • Ballschrank

118 queries. 0,523 seconds.