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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

WM 2006

Vielleicht bekommen wir eine Art literarisches Quartett zusammen, das allabendlich unter Harald Schmidts anarchischer Leitung über WM-Spiele diskutiert

Oliver Fritsch | Dienstag, 31. August 2004 Kommentare deaktiviert für Vielleicht bekommen wir eine Art literarisches Quartett zusammen, das allabendlich unter Harald Schmidts anarchischer Leitung über WM-Spiele diskutiert

Sehr lesenswert! Spiegel-Gespräch (30.8.) mit WM-Kulturchef André Heller über das Kulturprogramm

Spiegel: Am Sonntag gingen die Olympischen Spiele zu Ende. Wie hat Ihnen die Präsentation des Sports in Athen gefallen?
AH: Die Eröffnungsfeier war eine hübsch gestaltete Geldvernichtungsaktion. Die griechische Geschichtsparade erschien mir als eine nahe liegende Idee, die unleugbar und für mich unangenehm an gewisse lebende Bilder in den Festumzügen der Faschisten und Nazis erinnerte. Die Kosten für gezählte 40 Minuten inszeniertes Programm waren mit 100 Millionen Dollar eine Obszönität. Mir ist rätselhaft, wohin das Geld verschwunden ist. Vielleicht wurden an die Ehrengäste diamantbesetzte Slips verschenkt.
Spiegel: Das nächste sportliche Großereignis wird 2006 die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland, als deren künstlerischer Leiter Sie wirken. Welche Lehren ziehen Sie aus Athen?
AH: Es kann von den Kosten und der Ästhetik her als Gegenbeispiel zu unseren Bemühungen gelten. (…) Jean-Luc Godard will Regie bei Liveübertragungen einiger WM-Spiele übernehmen.
Spiegel: Wie soll das ausschauen?
AH: Keine Ahnung. Er wünscht sich einige Kameras – und bekommt weiter keine Vorgaben. Ich rechne mit einer unvergesslichen Überraschung durch ein Genie.
Spiegel: Kann das nicht fürchterlich ins Auge gehen? Der gemeine Fußball-Fan will keine künstlerische Inszenierung, sondern alle Spielzüge genau auf dem Bildschirm verfolgen können, mit möglichst vielen Großeinstellungen und Wiederholungen.
AH: Das wird er in gewohnter Form im Ersten oder Zweiten Programm bekommen. Godard wird wahrscheinlich auf Arte ausgestrahlt.
Spiegel: Und der Kultursender bekommt Übertragungsrechte, wofür die großen Anstalten zig Millionen bezahlen müssen?
AH: Da hat Günter Netzer, der die Rechte vertritt, sehr nobel und verstehend geholfen. Jetzt verfügt die WM neben dem offiziellen Bier- und Frittenlieferanten auch erstmals über einen offiziellen Kultursender, der auch außerhalb Deutschlands künstlerische Qualität im Namen der WM ausstrahlen wird. Dafür wünsche ich mir fußballsüchtige Moderatoren wie Daniel Cohn-Bendit und Günter Grass. Vielleicht bekommen wir eine Art literarisches Quartett zusammen, das allabendlich unter Harald Schmidts anarchischer Leitung über WM-Spiele diskutiert.
Spiegel: Sie planen auch Themen-Abende auf Arte. Um was soll es gehen?
AH: Wir beleuchten das Thema Fußball aus ungewöhnlichen Blickwinkeln: Was war Real Madrid unter dem Diktator Franco? Wie wird Fußball durch Berlusconi politisch missbraucht? Über Sport und Homosexualität entsteht eine Dokumentation, mit dem Schwerpunkt auf Frauen-Fußball, was ein ganz großes Thema für die lesbische Bewegung in den USA ist. Außerdem zeigen wir die Gedanken zum Spiel auf dem grünen Rasen von Ausnahmewesen wie Nelson Mandela über den Dalai Lama bis zu García Márquez und Susan Sontag.
Spiegel: Schwere Kost …
AH: … wir machen keinen Fußball-Musikantenstadl. Und mein Sohn soll sich nicht für seinen Vater genieren müssen.
Spiegel: Hockt auch Heller zuweilen auf der Tribüne?
AH: Mir ist die TV-Übertragung lieber, da kann ich, wenn’s fad wird, weiterzappen. Vielleicht schießt ja auf einem anderen Kanal gerade Igor Strawinski oder Woody Allen ein künstlerisches Tor, das mein Herz erwärmt. Allerdings hat das öffentliche Leiden in Technicolor von Oliver Kahn oder David Beckham in Versagensmomenten einen Splitter Shakespeare und einen Hauch von Italo-Western, wie bei „Spiel mir das Lied vom Tod“. Das ist erfrischender als etwa die stets lächelnde Aalglattheit eines Herrn Ackermann von der Deutschen Bank.
Spiegel: Das Selbstbewusstsein mancher Fußball-Funktionäre steht hinter dem solcher Banker kaum zurück. Umweht Fifa-Präsident Sepp Blatter nicht manchmal ein Hauch von Größenwahn?
AH: Da muss ich Ihnen jetzt einen Text vorlesen, den die Fifa unlängst veröffentlicht hat: „Die Fifa kann zu ihrem 100-jährigen Bestehen auf eine Historie zurückblicken, die das Leben der gesamten Menschheit über alle Grenzen und Kulturen hinweg dauerhaft beeinflusst hat.“ So etwas würde ich nach längerem Nachdenken vielleicht über Thomas Alva Edison sagen oder mit Einschränkungen von Mozart und Jesus behaupten. Doch ich glaube, dass die Fifa bis zu einem gewissen Grad sogar Recht hat. In Afrika und Lateinamerika ist Fußball eine Droge von gigantischer Intensität. Spielverläufe haben dort Kriege ausgelöst und wochenlange, himmlische Freudentaumel. In Mali oder Kolumbien ist Beckenbauer weitaus populärer als der Papst oder Madonna.

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