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Strafstoss

Strafstoß #20 – 06. Dezember 2004 Reine Nervensache 6 – Das letzte Hemd hat keine Maschen

Oliver Fritsch | Dienstag, 6. Dezember 2005 Kommentare deaktiviert für Strafstoß #20 – 06. Dezember 2004 Reine Nervensache 6 – Das letzte Hemd hat keine Maschen

von Herrn Bieber und Herrn Mertens

Mathias Mertens: Herr Bieber, lassen sie uns heute mal über die Kleiderordnung reden. Was sagen Sie eigentlich zu der umstrittenen FIFA-Regel, dass Torschützen nach allzu exzessivem Jubel und dem Ausziehen des Trikots mit einer Gelben Karte bestraft werden sollen. Inzwischen haben sich sogar schon Protestorganisationen via Internet zu Wort gemeldet.

Christoph Bieber: Ich würde ja gerne aus Prinzip eine Gegenposition zu solchen Bestrebungen wie unter www.grenzenloser-jubel.de einnehmen wollen, die gegen diese Fifa-Regelung angehen. Ich würde die Regel gerne nicht so richtig schlecht finden wollen, aber einen wirklich guten Grund dafür..? Vielleicht in Anlehnung an den bemerkenswerten Beitrag des Germanisten Gerhard Kurz, den er vor Jahren einmal in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht hat: Das Posieren des Schützen nach dem Tor (egal ob mit oder ohne Trikotausziehen) ist deshalb unsportlich, weil mit wachsendem Albernheitsgrad (Tanzeinlagen!) und gesteigerter Aufmerksamkeitslenkung auf den Schützen (Entkleidung, Unterhemd-Messaging etc.) die Idee des Mannschaftssports mit Füßen getreten wird. Der Schütze rückt sich unzulässiger Weise in den Vordergrund, denn in der Regel sind die Tore ja Kollektivleistungen, die vom einzelnen Spieler nur vollendet werden.

MM: Da würde ich ja spontan gerne eine Gegenposition zu Ihrer Gegenposition einnehmen wollen, nur so aus Prinzip, versteht sich, aber eigentlich muß ich Ihnen zustimmen. Wenn ich zum Beispiel die Frage von ZEIT-Autor Dr. Christof Siemes lese, ob sich „die Anzug- und Kostümträger in den VIP-Logen etwa vor schwitzenden Körpern ekeln“ und ihnen Angeln als Alternativsport empfiehlt (sehr eklig, übrigens), und wenn er dann hinzufügt, daß die Europameisterschaft mit Christiano Ronaldo ja eindrucksvoll gezeigt hat, „welch schöne Körper unter den Trikots herumlaufen“, dann sehe ich hier das Sekundäre über das Primäre siegen. Beziehungsweise meine männliche Ehre gekränkt, denn ich will nicht demonstriert bekommen, was für ein hühnerbrüstiges Windei ich doch im Vergleich bin. Und was ist überhaupt mit den Torwarten oder den Verteidigern?

CB: Ein guter Punkt! Eigentlich müsste man nämlich Gerechtigkeit für benachteiligte Mannschaftsteile einfordern: der Verteidiger nach erfolgreichem Tackling oder der Torwart nach der Glanzparade haben ja einfach nicht die Zeit, ihre Leistung durch Entblößung zu feiern, denn das Spiel läuft ja weiter. Wären dann nicht konsequenter Weise zusätzliche Spielunterbrechungen einführen, damit auch die weniger privilegierten Spieler eine Gelegenheit zur Selbstdarstellung erhalten?

MM: Und was ist mit den Schiedsrichtern selbst, bitteschön? Da wird doch inzwischen auch verstärkt drauf geguckt. Warum sollten die nicht mal nach einem äußerst gelungen Pfiff ausrasten, sich das Hemd vom Leib reißen und sich vor der Loge der Anzug- und Kostümträger feiern lassen? Markus Merk mit freibrüstigem Bauchrutscher auf dem herbstnassen Westfalenstadionrasen, der seine korrekte Strafstoßentscheidung aus 70 Metern Entfernung feiert, das wäre doch mal was!

CB: Also bitte, Herr Mertens, da gehen ihnen jetzt aber die sprichwörtlichen Gäule durch! Ein Schelm, der da homoerotische Konnotationen wahr nimmt. Doch zurück zum Ernst der Lage, im FIFA-Regelwerk heißt es schlicht und einfach: „Ein Spieler, der nach einem Torerfolg sein Trikot auszieht, wird wegen unsportlichen Verhaltens verwarnt.“ Allerdings gibt die FIFA den Schiedsrichtern einigen Spielraum bei der Regelauslegung, denn „von den Schiedsrichtern wird erwartet, dass sie in solchen Situationen präventiv auf die Spieler einwirken und bei der Beurteilung des Torjubels gesunden Menschenverstand walten lassen.“ Definitiv unterbunden werden sollen jedoch „choreografierte“ Jubelszenen, wenn diese zu übermässigem Zeitschinden führen.“ Insofern geht es hier gar nicht um ein „Jubelverbot“, sondern um die Frage der Unsportlichkeit.

MM: Hmmm… Gesunder Menschenverstand wird auch so definiert, dass dabei meist eine Entscheidung gefällt wird, die statistisch gesehen die Mehrheit der Bevölkerung treffen würde. Und die Mehrheit der Bevölkerung will doch anscheinend den feingerippten Rumpf des Herrn C. Ronaldo sehen. Demnach müsste der Schiedsrichter also entscheiden, nicht zu entscheiden.

CB: Ist das nicht etwas zu viel verlangt?

MM: Ach was, schließlich sind unsere Schiris doch hoch gebildet – sie sind Zahnärzte aus Kaiserslautern oder Konzertpianisten aus Kyllburg. Aber ich war noch gar nicht fertig: Bedenken müsste der Schiedsrichter allerdings, dass schon das jahrelange Trainieren und nahrungstechnische Pflegen der abdominalen und sonstigen Muskeln und ihre Präsentation nach erfolgreichem Punkten als „choreografiertes Jubeln“ verstanden werden könnte. Dann müßte er also dagegen entscheiden.

CB: Stimmt. Diese These von der „permanenten Choreografierung“ beweisen ja die fürchterlichen Casting-Shows. Da kann man ja nur hoffen, dass die Detlev-Ds dieser Welt eine derartige Marktlücke nicht allzu schnell erkennen. Sonst müssen wir am Ende noch Boygroup-Gezappel an der Eckfahne ertragen!

MM: Da sagen sie was – Fußball ist doch inzwischen längst ein elementarer Bestandteil der Mediengesellschaft, und daher kann man als „Zeitschinden“ auch als unrechtmäßige Inanspruchnahme von Einstellungszeit definieren. Der Spieler entblößt sich, weil er weiß, daß die Kameras nicht anders können, als ihn dann zu zeigen, so dass nichts mehr vom sonstigen Geschehen auf dem Rasen präsentiert wird. Und bei einer nachträglichen Auswertung der gesamten Übertragung könnte dann herauskommen, dass der Anteil von Großeinstellungen von entblößten Körpern am Gesamtvolumen der ausgestrahlten Bilder ungefähr dem des Nachtprogramms des DSF entspricht, und man gar nicht mehr entscheiden kann, ob man ein Fußballspiel gesehen hat oder irgendetwas anderes.

CB: Gut, das frage ich mich manchmal auch im Stadion, allerdings bemühen sich Bundesliga und Nationalteam zuletzt ja ganz redlich darum, dass es nach Fußball aussieht. Gibt es eigentlich auch Vorschriften für den Funktionärsjubel am Spielfeldrand?

MM: Wenn nicht, dann bitte schnell einführen, um uns folgende Bilder zu ersparen: das Ehepaar Meyer-Vorfelder beim intensiven Zungenkuß, Ligapräsident Hackmann beim selbstvergessenen Luftgitarrenspiel, den Weihnachtsfeier-feiernden Beckenbauer, Calmund beim Lambada-Tanzen, Moshpit-König Netzer, den Pogo-Pulk um Seeler, die Flitzerroutine von Niebaum – habe ich irgendwen vergessen?

CB: Ja doch, und zwar Männerfreundlichkeiten aller Art von Herrn Hoeneß, den furchterregenden Rummenigge-Rumba oder laszives Zigarrenlutschen mit Assauer. Gestatten Sie guter letzt doch noch eine Frage, Herr Mertens. Wie würden Sie denn jubeln, nachdem Sie als Ecke von Mario Basler ins Tor getreten wurden?

MM: Ich würde ganz ruhig ans Netz geschmiegt liegenbleiben und mich im Gefühl sonnen, Bestandteil eines spieltechnischen und physikalischen Höhepunkts gewesen zu sein. Und dann würde ich mich zum Mittelkreis tragen lassen, natürlich.

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