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Champions League

Offene Wunde

Oliver Fritsch | Donnerstag, 9. März 2006 Kommentare deaktiviert für Offene Wunde

Juventus Turin–Werder Bremen 2:1

Always look on the bright side of life – Christian Eichler (FAZ) pfeift Tim Wiese Trost: „In der modernen Sagenwelt namens Fußball ist er der Nachfahre des Sisyphos: der Torwart. Immer wieder müht er sich ab, schafft die Kugel fort; immer wieder kommt sie zurück. Er kann sie nicht ewig halten. 88 Minuten lang war Sisyphos der strahlende Held. Doch das Strahlende ist gefährlich in diesem Fach. Im Tor braucht man nicht nur das Spektakuläre; auch die Sachlichkeit, nicht noch bei jeder Routine turnerisch glänzen zu wollen. Tim Wiese vergaß das für diesen einen Moment. Dafür blüht ihm die Höchststrafe, die das Spiel für seine Spezies bereithält. Torwarts Tortur: vor dem inneren Auge in Endlosschleife die Szene, in der ihm alles entglitt. Fast jeder kennt solche Momente des Scheiterns, ungefragte Erinnerungsbilder – wie ein Albtraum, in dem man das Verhängnis sieht und nichts ändern kann. Wenn Wiese Glück hat, bleibt der innere Film nur ein paar Tage im Programm. Wenn er Pech hat, für immer. Ein Feldspieler hat es besser. Er muß schon einen wichtigen Elfmeter vergeben, daß man seinen Namen ewig mit Mißlingen in Verbindung bringt: Hoeneß oder Kutzop. Doch fast immer bekommt er eine zweite Chance. Ein Tor, ein Titel tüncht die Erinnerung, tilgt verpaßte Tore. Der Torwart kann das nicht. Der ungehaltene Ball bleibt ungehalten. Eine offene Wunde.“

Torwartparvenü

Andreas Rüttenauer (taz) schildert die entscheidende Szene bissig: „Um ein Haar wäre es dem Torwart mit der breiten Bodybuilder-Brust gelungen, in den Kreis ernst zu nehmender Sportler aufgenommen zu werden. (…) Wiese hatte eine Flanke abgefangen, er hielt den Ball sicher in der Hand, dann ließ er sich fallen, wollte sich noch einmal um die eigene Achse drehen, ganz so, wie es der große Oliver Kahn regelmäßig zu tun pflegt. Wahrscheinlich hätte es ganz gut ausgesehen, wenn, ja wenn Wiese der Ball nicht aus der Hand gefallen wäre. Überhaupt legt Wiese bei seinen Paraden darauf Wert, dass sie gut aussehen. Er legt Wert auf das Äußere, auch auf das seiner Aktionen im Spiel. Er will wirken. Seiner Mannschaft hat er damit keinen guten Dienst erwiesen – eine misslungene Einlage des überehrgeizigen Torwartparvenüs.“ Frank Hellmann (FR) beobachtet Tim Wiese beim Schrumpfen: „Wieses Aussetzer ist aus einer verhängnisvollen Mixtur aus Übermut und Tollkühnheit, Selbstüberschätzung und Selbstdarstellung entstanden. Alles, was gut aussieht, ist sein Ding – selbst auf die Gefahr hin, Angriffsfläche zu liefern. Nun ist die Gratwanderung just gewaltig schief gegangen, als Wiese gefühlt um glatt einen Meter gewachsen schien.“

Der Ursprung liegt zwei Torwartgenerationen zurück

Philipp Selldorf (SZ) betreibt eine Archäologie der Torwartschule und findet Aufschluß in Kölner Muckibuden: „Er fängt den Ball und wirft sich in einer manierierten Pose nach vorn, rollt ab wie der Held in der Revolverballade, bis plötzlich der Ball wieder solo auf dem Rasen liegt. Eine Mikrosekunde nur, aber lang genug, um dem bereits davontrottenden Emerson die Gelegenheit zum finalen Treffer zu geben. (…) Dass Juve am Ende das entscheidende Tor schießt, folgt zwar einer historischen Konstante, aber diesmal war es nicht die logische Pointe des Spiels. Mit Ausnahme eines Details: Der Ursprung des Bremer Unglücks liegt womöglich zwei Torwartgenerationen zurück, am Geißbockheim im Kölner Grüngürtel, wo ein strenger Mann namens Rolf Herings mit Schüssen und Flanken die Torhüter Toni Schumacher und Gerald Ehrmann trainierte. Dieses Training trug Züge der Sonderausbildung für Krisenkommandos, und die bekennenden Bodybuilder Schumacher und Ehrmann waren dafür die perfekten Einzelkämpfer. Ehrmann ging später nach Kaiserslautern, machte unter dem Namen Tarzan eine Karriere voller Wildheiten und setzt als Torwarttrainer bis heute Herings‘ Werk fort. Er schulte auch Wiese, ebenfalls Bodybuilder und ein typischer Sohn seiner rheinischen Heimat.“

Fertigbausatz

Klaus Hoeltzenbein (SZ) empfiehlt Jürgen Klinsmann den Bremer Block (bei Bayern München heißt das dann immer gleich „Diamant“ oder so), vor allen Dingen Frank Baumann: „Baumann hat ein paar Länderspiele in der Unsichtbarkeit verbracht, in der aktuellen Hurra-Pädagogik von Bundestrainer Klinsmann spielt er bislang keine Rolle. Die Frage ist nur, ob sich die Nationalelf diesen Luxus leisten kann, denn Baumann ist ein Systemspieler, einer, dessen Qualität sich am Fernseher nicht erschließt. Nur im Stadion, beim Blick aufs Gesamte, ist wirklich zu erkennen, wie so ein Ego-armer Dienstleister einer Gruppe helfen kann. Nun wird die WM garantiert nicht durch Frank Baumann gewonnen, aber in seiner Person spiegelt sich eine Variante, die nicht nur für den Notfall attraktiv erscheint. Das Beste, was die Bundesliga der irritierten Nationalelf derzeit als Fertigbausatz anbieten kann, ist jene Mittelfeld-Raute, die in Bremen von Thomas Schaaf entwickelt worden ist. Mit Borowski (links), Baumann (zentral) und Frings (rechts), nur der Franzose Micoud wäre offensiv zu ersetzen, aber dafür böte sich Michael Ballack an. Eine Woche nach Florenz war die Bremer Raute gegen Juventus im Mittelfeld ebenbürtig – frei von jenem Fremdeln, wie es in der zerfransten Nationalmannschaft zu beobachten war.“

Guter Name

Sven Bremer (FTD) würdigt Bremens Sturmspiel: „So abgedroschen es klingen mag, für Werder Bremen gilt jetzt erst recht: Der Weg ist das Ziel. Sind sie doch in dieser Saison dem Ziel, sich in Europa einen guten Namen zu machen, einen beachtlichen Schritt weiter gekommen. Einerseits macht sich die wieder gefundene Kontinuität bezahlt. Andererseits ist es nicht nur aus Marketingaspekten von Vorteil, so Fußball zu spielen. Die Suche nach Sponsoren vereinfacht das sicherlich, erst recht, wenn endlich wieder kombiniert wird wie einst von Netzer und Overath, nur um einiges schneller. Respekt!“ Patrick Krull (Welt) blickt voraus: „Neben Bayern München wird sich auf Dauer ein zweiter deutscher Klub als feste und ernstzunehmende Größe in der Königsklasse etablieren.“ Hm, dieses Kompliment klingt heute etwas schal; über das Bayern-Spiel in Mailand lesen Sie morgen.

FC Barcelona–FC Chelsea 1:1

Toller Trainer und traurige Gestalt

Aus dem Bösen wird in der Niederlage der Narr; Ronald Reng (taz) rät dazu, Chelseas Trainer nicht so wichtig zu nehmen, und schwärmt vom FC Barcelona: „José Mourinho hatte sich entschieden, einmal ein ehrenwerter Verlierer zu sein. Und wenngleich sein Gratulationsüberfall nach dem Ausscheiden etwas zu demonstrativ ausfiel, so blieb es eine schöne Geste. Bis er sich umdrehte und zum Abschied Barcelonas Fans zynisch Kusshändchen zuwarf. Es war sein üblicher Cocktail aus Verschwörungstheorien, Wahrheitsverfälschung und Bitterkeit, den Mourinho servierte. Und schon liefen die Gespräche mit den anderen Protagonisten wieder einmal nur darauf hinaus: ‚Mourinho hat gesagt … Was sagen Sie dazu?‘ Es reicht. Zu viele Journalisten lassen sich auf Mourinhos bitteres Geschwätz ein und rechtfertigen es am Ende noch damit, er führe ‚Psychokriege‘ gegen seine Gegner. Dabei ist er nur ein toller Trainer und eine traurige Gestalt, die im zweiten Gastjahr in London noch immer nicht die größten Werte Englands für sich entdeckt hat: Höflichkeit und Selbstironie. Dienstag war ein guter Zeitpunkt, um Mourinhos Unsinn endlich zu ignorieren. Und der Blick wurde frei auf die wahre Erkenntnis einer wundervollen Nacht: Der FC Barcelona bewies, dass er das Modell dieser Epoche ist. Wer Fußball sehen will, wie er sein soll, sei im Camp Nou willkommen. (…) Das Mittelfeld besetzte Positionen, raubte den Ball und zog los, mit einer Geistesgegenwärtigkeit, mit einer Intensität, dass Chelsea, dieses maschinelle Ungeheuer, qualvoll erstickte. Frank Lampard, Claude Makelele, die besten Mittelfeldspieler der Welt, sagen viele – wie banal sahen sie einen Abend lang aus, in permanente Platz- und Atemnot gebracht von Deco. Als Duell der Gegensätze war Barça gegen Chelsea angekündigt worden, Heiß gegen Kalt, mutiger Angriff gegen zynische Konter. Aber dieses Duell gewann Barça, weil sie das bessere Chelsea sind: Sie spielen, es wird angesichts ihres Anmuts zu leicht übersehen, mittlerweile genauso taktisch exzellent wie Mourinhos Elf. Chelsea, das Monster, ernährt sich von den Fehlern der Gegner. Barça ließ keinen einzigen Eckball zu, keinen Freistoß in Tornähe. Das passt nicht in die Wirklichkeit der Künstlertruppe, die das Fernsehen mit endlosen Zeitlupen von Ronaldinho kreiert. Es war mehr als ein Achtelfinale, ein Grundsatzsieg.“

Contre-pied

Markus Jakob (NZZ) imponiert unter anderem Ronaldinhos Tor: „Der eisige Opportunismus, mit dem Chelsea bei Kontern den Gegner zu überrumpeln pflegt, traf diesmal auf eine tadellos organisierte Abwehr; und bei den wenigen stehenden Bällen in der eigenen Spielzone, die Barça nicht vermeiden konnte, intervenierte Keeper Valdés sicher. Der defensive Reifeprozess der noch letztes Jahr am eigenen Übermut krankenden Mannschaft scheint abgeschlossen. (…) Wie Ronaldinho sich zwischen vier Gegenspielern durchtankte und Petr Cech contre-pied erwischte, wird in die Barça-Annalen eingehen – nicht nur seine Balltechnik und Schnelligkeit, sondern auch der Kraft wegen, die der zurzeit beste Fussballer der Welt bei dieser Einzelleistung entfaltete.“

Das lautlos arbeitende Gehirn

Paul Ingendaay (FAZ) kann den Blick von Deco nicht wenden: „Es war zeitweise ein spannendes Spiel, kein großes. Chelsea mußte kommen, um den Rückstand wettzumachen, kam aber nicht. Nach fünfzehn Minuten war das Stürmchen vorbei, und die Katalanen begannen, mit ihrer überlegenen Technik und ausgefallenen Kabinettstückchen von Ronaldinho das Spiel zu dominieren. Dribblings, Heber, Hackentricks: Der Weltfußballer des Jahres schien auf den Platz gekommen zu sein, um sich zu amüsieren. Weil Chelsea außer Robben wenig zu bieten hatte, drohte das Spiel schon vor dem Halbzeitpfiff einzuschlafen. Solche Situationen können täuschen, und den FC Barcelona, eine Truppe von legendärer Verwundbarkeit, haben sie schon oft getäuscht. Diesmal nicht. Der Grund dafür heißt Deco. Auch wenn der Brasilianer mit portugiesischem Paß unauffällig spielt, sein Blick für den Rhythmus der Partie ist grundlegend für den Erfolg der Katalanen. Deco war das lautlos arbeitende Gehirn, während der stets lächelnde, gestikulierende Ronaldinho die Lichter anzündete.“

NZZ-Bericht Arsenal–Real (0:0)

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