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Champions League

Riskanter Stil

Oliver Fritsch | Dienstag, 28. März 2006 Kommentare deaktiviert für Riskanter Stil

Es tut immer weh, TV-Fußballjournalisten über das Torwartspiel reden zu hören. Am Samstag stellte der an und für sich sehr erträgliche Sebastian Hellmann (Premiere) allen Ernstes die Frage, ob Oliver Kahn den Gegentreffer der USA hätte verhindern können und ob man ihm einen Vorwurf machen könne. Die Schuldfrage bei einem Tor durch einen verunglückten Paß aus mehr als 60 Metern Torentfernung!

Wie wohltuend hebt sich die exakte Analyse Christian Eichlers (FAZ) ab. Eichler, nennen wir ihn einen der Handvoll Torwartweisen Deutschlands, stellt Jens Lehmann als fünften Verteidiger seiner Mannschaft vor – eine Torwartantwort: „Jürgen Klinsmann wurde für sein Offenhalten der Torwartfrage viel gescholten. Einer der deutschen Fußballglaubenssätze fordert, dem Torhüter einen Stammplatz zu garantieren, ihn vom internen Wettkampf fernzuhalten, um ihn sicher zu machen. Klinsmann tat das Gegenteil – und lag richtig. Der Konkurrenzkampf hat beiden Konkurrenten Beine gemacht. Kahn hält besser als letzte Saison. Lehmann hält so gut wie nie. Die englische Presse feierte seinen ‚Heroismus‘ beim 1:0 und 0:0 gegen Real Madrid, vor allem die ‚Wunderparade‘ im Rückwärtsfliegen gegen Raul. Die besten Chancen von Ronaldo oder Beckham verhinderte er durch schnelles Denken und mutiges Attackieren schon bei der Ballannahme. Und in der Nachspielzeit demonstrierte Lehmann den größten Stilunterschied zu Kahn. Während der Bayern-Rivale am selben Abend drei von vier Gegentoren in Mailand per Kopfball aus dem Fünfmeterraum kassierte, fischte Lehmann einen Eckball nahe der Strafraumgrenze, 15 Meter von seiner Linie entfernt, aus der Luft. So wurde er fast zum Torvorbereiter. Lehmann nennt das seinen ‚riskanten Stil‘. Riskant daran ist vor allem die Möglichkeit, als Torwart schlecht auszusehen. Wer auf der Linie klebt, macht optisch den besseren Eindruck, weil Paraden dort meist spektakulär aussehen und Gegentore unhaltbar. Wertvoller fürs Team ist oft der Torwart, der riskiert, auch mal schlecht auszusehen. In England schwimmt Lehmann auf der Welle der Anerkennung. Er hat die Ruhe und das Timing für das hohe englische Tempo gefunden. In England glauben die Experten, er habe Kahn längst abgehängt. In Deutschland glauben dagegen viele, Klinsmann könne es sich gegen die Bayern-Macht gar nicht erlauben, Lehmann zu wählen. Doch als Spieler erlebte Klinsmann Turnierpleiten, bei denen man zu lange an einem verdienten Torwart festgehalten hatte. Als Hauptgrund fürs WM-Scheitern 1994 nannte Berti Vogts später sein Festhalten an Bodo Illgner, dem Weltmeister von 1990. Andreas Köpke war damals schon besser, durfte aber erst bei der EM 1996 ins Tor; und dann, als Kompensation für 1994, auch 1998, obwohl da Kahn schon besser war – eine Kettenreaktion von Fehlentscheidungen, die dem starren deutschen Denken in der Torhüterfrage geschuldet war: Alte Verdienste schlagen aktuelle Leistung. Diesen Kreislauf will Klinsmann gewiß nicht fortsetzen.“

Komplexer

Frank Hellmann (FR) lenkt die Aufmerksamkeit vor den Viertelfinals auf die Spieler mit der Nummer 1: „Es ist eine logische Folge, dass im nivellierten Hochgeschwindigkeitsfußball – vor allem wenn bei WM, EM oder Champions League die K.-o.-Partien beginnen – immer weniger Tore fallen; wenn, dann geht dem häufig eine einstudierte Standardsituation oder ein einziger individueller Fehler voraus. Die perfektionierte Defensivarbeit basiert auf dem fehlerfreien Handeln des allerletzten Mannes, wobei das Anforderungsprofil deutlich komplexer geworden ist. Die Zeiten, in denen Torwarttypen wie Andreas Köpke oder Raimond Aumann ihre Rolle zuvorderst als vorrangig auf der Torlinie agierende Figuren verstanden, die auch mittig abgegebene Schüsse mit Flugrolle und einer Faust über die Latte lenkten, sind vorbei. Wenn sich heute Gianluigi Buffon und Jens Lehmann oder morgen Frankreichs Nationaltorwart Gregory Coupet (Lyon) oder Brasiliens Auswahlkeeper Dida (AC Mailand) gegenüberstehen, dann wird das moderne Torwartspiel zu besichtigen sein. Auch Sebastian Viera vom FC Villareal, überaus talentierter Nationaltorwart aus Uruguay, und Routinier Francesco Toldo von Inter Mailand gelten als echte Könner. Von den acht Viertelfinalisten leisten sich nur zwei wankelmütige Schlussleute: Beim FC Barcelona übertüncht ein begeisterndes (Offensiv-)Potenzial die Anfälligkeiten des erst 24-jährigen Victor Valdes, bei Benfica Lissabon überstrahlt die gute Grundordnung und technische Qualität die Tatsache, dass wechselweise vier verschiedene Keeper (Moretto, Moreira, Quim und Neureu) zum Einsatz kamen. In der Regel kommen die Teams nicht trotz, sondern wegen des Torwarts eine Runde weiter.“

Welt: Bewährungsprobe für Lehmann auf der Bühne Champions League

Duell der Ideen

Arsenal hat das Liverpool-Syndrom: in England zerbrechlich, in Europa stark – Raphael Honigstein (Tsp) führt das nicht zuletzt auf Patrick Vieiras jungen Nachfolger zurück: „Der Abschied des Kapitäns, den die Kollegen hochachtungsvoll ‚la grande saucisse‘ (‚die große Wurst‘) riefen, hinterließ ein gewaltiges Loch im System; die erste Ligasaison ohne Vieira droht zugleich zur schlechtesten in zehn Jahren zu werden. ‚Es hat sich rumgesprochen, dass man uns körperlich zusetzen kann‘, sagt Arsène Wenger. Bescheidene Lauf- und Grätschkombos wie die Blackburn Rovers oder Bolton Wanderers verbissen sich mit Wonne in Arsenals neuer weicher Mitte. Lange Bälle und Aggressivität, das kleine Einmaleins des englischen Fußballs, reichten gegen Arsenals junge Spieler aus aller Herren Länder oft aus. Die unbefriedigenden Resultate sind aber nur ein Teil der Geschichte. Wenger versucht den Umbruch auf hohem Niveau, und um alles darüber zu wissen, muss man nur sehen, wer im Mittelpunkt steht: ein 18-Jähriger. Francesc Fábregas spielt auf Vieiras Position im zentralen Mittelfeld, kein anderer europäischer Spitzenklub gibt einem Talent soviel Verantwortung. (…) In der Champions League läuft der Ball kultivierter durch die Reihen, Premier-League-Spieler erleben sie als verkehrsberuhigte Zone. Technik und Taktik sind wichtiger als Härte; hier kann Fábregas glänzen und seine junge Abwehr allein durch Stellungsspiel so gut beschützen, dass sie tatsächlich die beste im laufenden Wettbewerb ist. Das Duell mit Vieira wird also in erster Linie ein Duell der Ideen werden, der Ausgang ist völlig offen.“

NZZ: Die Rückkehr der Kampfgiraffe – Patrick Vieira mit Juventus zurück in Highbury

Outsider

Georg Bucher (NZZ) begründet den Erfolg Villareals mit der Strategie des Trainers: „Südamerikanische Trainer haben schon bessere Zeiten in Spanien erlebt. Luxemburgo und Bianchi wurden von den Madrider Klubs entlassen, Cúper räumte seinen Posten in Mallorca freiwillig, Esparrago hält noch die Stellung in Cádiz. Nur einer hebt sich von den Kollegen positiv ab: Manuel Pellegrini, seit Sommer 2004 in Villarreal tätig und ein Kandidat für den Titel ‚Trainer des Jahres‘. Als er in die 45.000 Einwohner zählende Stadt der ostspanischen Provinz Castellón kam, war der Chilene eine unbekannte Grösse. Mittlerweile zollen ihm auch kritische Beobachter Respekt und bezeichnen seine Arbeit als wegweisend für andere Klubs. Dabei ist Pellegrini kein Erfinder, sondern ein akribischer Arbeiter, ein Bastler, der seine Teams wie Puzzles zusammensetzt, immer neu. Vor allem in zwei Punkten hat Pellegrini das Team vorangebracht: Die Abwehr ist stabiler geworden, die Auswärtsbilanz besser. Dafür tut sich das Team im heimischen El Madrigal deutlich schwerer als in der Ära Victor Muñoz (jetzt Real Saragossa) – obwohl die Ausbildner einer ähnlichen Philosophie huldigen und daher vom Präsidenten Fernando Roig verpflichtet wurden. Angriff ist Trumpf, mit einem kreativen Stil kommt man dem Ziel näher, landesweit Anhänger zu gewinnen. (…) Acht Rennen hat das ‚yellow submarine‘ auf der ersten Fahrt durch die Königsklasse ohne Schaden überstanden und wird immer noch als krasser Outsider gehandelt. Inter sollte sich vorsehen.“

Brasil-Syndrom

Hebt sich Adriano seine Tore für den Sommer auf? Peter Hartmann (NZZ) kennt die Pappenheimer: „Adriano schiesst keine Tore mehr, das letzte am 11. Februar. Der brasilianische Nationalcoach Parreira macht sich deswegen keine Sorgen. Letzte Woche sagte er mit entwaffnender Aufrichtigkeit, sein Stürmer schone sich für die Weltmeisterschaft. In seine Ferndiagnose schloss er auch Ronaldo ein, der bei Real Madrid die bekannte ‚Niemand liebt mich mehr hier‘-Melodie singt, weil er als Dickerchen und Drückeberger verhöhnt wird. Schon vor vier Jahren hatte er sich bei Inter in der Rolle des grossen Unverstandenen inszeniert, aber dann schoss er Brasilien als bester Torschütze zum Weltmeistertitel, ein phänomenaler Fall von Selbstheilung. Vier Jahre zuvor, in Paris, war Ronaldo vor dem Final in Ohnmacht gefallen und spielte wie ein Zombie. So viel Vorgeschichte zum sogenannten Brasil-Syndrom. Adriano spielte in Parma 77 Minuten lang Adriano, den Verschwundenen, der zwar leibhaftig mit Schuhgrösse 49 auf dem Platz stand, aber unsichtbar blieb. Bis ihn Trainer Roberto Mancini endlich ersetzte, kopfschüttelnd wie ein Reiter, der vergeblich versucht, ein störrisches Pferd zum Saufen zu bringen.“

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