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Deutsche Elf

Antizipationstorhüter

Oliver Fritsch | Freitag, 28. April 2006 Kommentare deaktiviert für Antizipationstorhüter

Malte Oberschelp (Rund) erörtert mit dem holländischen Torwarttrainer Frans Hoek den Stil deutscher Torhüter: „‘Wenn Klinsmann die Abwehr nach vorne rücken lässt, benötigt er einen anderen Torhüter als Oliver Kahn‘, bestätigt Hoek. ‚Mit der Abwehr nahe am Tor ist er einer der besten der Welt, aber wenn die Viererkette die Räume eng macht, ist das nicht seine Stärke.‘ Kahn war 23, als 1992 die Rückpassregel eingeführt worden ist. Sein Spiel hat er danach nicht mehr grundsätzlich geändert. ‚Reaktionstorhüter‘ nennt Hoek diese Sorte Keeper: exzellent auf der Linie, willensstark, physisch beeindruckend, aber fußballerisch limitiert und mit durchschnittlichem Stellungsspiel bei Steilpässen in den Rücken der Abwehr. Das Gegenstück heißt Antizipationskeeper, Prototyp: Edwin van der Sar. Das Begriffspaar entwickelte Hoek, als er mit Louis van Gaal nach Barcelona ging und sich wunderte, warum anerkannte Torleute wie Vítor Baía und Robert Enke nicht mit der Spielweise der Mannschaft klar kamen. (…) Welcher Torhüter passt ins System Klinsmann? Jens Lehmann gilt als fußballerisch passabel, häufiger als Kahn wandelt er Rückpässe in Spieleröffnung um. Allerdings erlebte auch die neue Nummer 1 entscheidende Ausbildungsjahre in der Zeit vor der Rückpassregel. Bei den Arsenal-Fans hat Lehmann wegen teils bizarrer Ausflüge den Spitznamen Mad Jens weg. ‚Er antizipiert besser als Kahn, aber viel weniger als van der Sar‘, urteilt Frans Hoek. ‚Kahn ist zu 100 Prozent Reaktionstorhüter, Lehmann zu 80 Prozent.‘ Hoek hielte daher Timo Hildebrand für die optimale Lösung. Das Idealbild eines Antizipationstorhüters könnte Hildebrand sein: weniger muskulös, weniger lautstark, aber geduldig in Eins-gegen-Eins-Situationen und mit sehr guten Fähigkeiten, das Spiel im Raum zu lesen. (…) Die Deutschen halten es eher mit den Helden auf der Linie. Die holländische Spielauffassung nivelliert die Unterschiede zwischen Torhüter und Feldspieler, die deutsche überhöht die Nummer 1 zum Turm in der Schlacht – von Toni Turek Fußballgott bis King Kahn. Ein Radi Radenkovic taugte da nur zur Witzfigur, nicht zum Gegenentwurf. Dass Klinsmann durch die Nominierung Lehmanns mit dieser Tradition zu brechen beginnt, tut dem deutschen Fußball gut. Wer eine Mannschaft neu ausrichten will, muss ganz hinten anfangen.“

Wie wird man denn in Brasilien Torhüter, Sven Goldmann (Tsp)? „An der Copacabana sind die Torhüter schon immer nach einem sorgfältigen Muster ausgewählt worden: In den Kasten geht, wer am langsamsten läuft, am schlechtesten mit dem Ball umgeht oder wer als letzter Nein sagt. Diese negative Grundhaltung mag in der Mentalität begründet sein. Der Brasilianer will produzieren und nicht zerstören. Es gibt aber auch ein historisches Motiv, und das spielt an auf die Urkatastrophe eines Landes, das auf seinem Staatsgebiet noch keinen Krieg erlebt hat. 1950 kassierte Moacyr Barbosa im entscheidenden Spiel ein dummes Tor gegen Uruguay, das Brasilien vor 200.000 Zuschauern in Rio die sicher geglaubte Weltmeisterschaft entriss. Im öffentlichem Empfinden trägt Barbosa bis heute Schuld daran, dass ein ganzes Land in Trauer fiel. Das brasilianische Talent spiegelt sich in ballverliebten Dribbelkünstlern, eleganten Strategen oder Offensivverteidigern, die gefährlicher sind als vieler Länder Stürmer. Brasilianische Torleute fallen nur dann positiv auf, wenn sie wenig falsch machen. Weiß noch jemand, wer vor vier Jahren im WM-Finale von Yokohama das brasilianische Tor hütete?“

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