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Champions League

Lichtjahre von der europäischen Spitze entfernt

Oliver Fritsch | Freitag, 28. April 2006 Kommentare deaktiviert für Lichtjahre von der europäischen Spitze entfernt

Angesichts des dauerhaften Wechsels an der Spitze der Champions League fällt Andreas Lesch (BLZ) die dauerhafte deutsche Schwäche besonders auf: „Kein Klub herrscht dauerhaft in der Champions League, kein Trend hält sich über Jahre, kaum eine Vorhersage trifft ein. In der vorigen Saison hat der FC Liverpool den Wettbewerb gewonnen. Und jetzt? Erinnert sich jemand, wie weit der Klub es diesmal geschafft hat? Er ist im Achtelfinale ausgeschieden. Noch nie konnte ein Verein seinen Titel erfolgreich verteidigen. Zumindest auf eines aber ist in dieser wechselhaften, unberechenbaren Welt Verlass: auf die Schwäche der deutschen Klubs. Sie sind, wenn man Tempo, Technik, Taktik addiert, Lichtjahre von der europäischen Spitze entfernt. Sie wirken in der Champions League manchmal fast exotisch, so chancenlos, wie sie sind.“

Angst

Barcelona zieht durch ein 0:0 gegen den AC Mailand ins Finale ein, und Klaus Bellstedt (stern.de) sieht Schweißperlen auf der Stirn des Bundestrainers: „Jürgen Klinsmann wurde beim Betrachten des mitreißenden Spieles mal wieder vor Augen geführt, wie weit der deutsche Fußball derzeit von der europäischen Spitze entfernt ist. Es schien so, als ob im deutschen Nationalcoach im Blick auf die WM erstmals die Angst vor einem echten Desaster hochstieg. Es war ein Fußballspiel der modernsten Prägung. Wohin er auch blickte: Überall auf dem Feld sah er Spieler, in einer mehr als beachtlichen körperlichen Verfassung.“

Machtübergabe

Ronald Reng (BLZ) beschreibt einen Epochenwechsel: „Das Selbstverständnis, mit dem sich Barça als einer der größten Klubs der Welt präsentiert, und die Sonderklasse, mit der seine Elf Fußball spielt, lassen leicht vergessen, dass sie noch immer recht unbescholten sind, was internationale Erfolge betrifft. Ein Mal gewannen sie den Europacup, 1992 gegen Sampdoria Genua. Die Sehnsucht nach dem Sieg in Paris ist so groß, dass Zuschauer und Mannschaft fast übersahen, dass sie gerade eine Machtübergabe erlebt hatten. Milan geht, Barça kommt. Der Erfolg über den AC Mailand beendete die Zeit der erfolgreichsten Elf der zurückliegenden drei Jahre. Noch einmal präsentierte sich das in die Jahre gekommene Milan mit der exzellenten Ordnung, für die es immer stand. Doch sie konnten den Gesamteindruck nie verwischen: Sie trafen auf Bessere. Allerdings hatte Milan zumindest einmal ins Tor getroffen. Und so reagierten die Mailänder mit Entrüstung auf die Entscheidung von Schiedsrichter Markus Merk, dem Kopfballtreffer von Andrej Schewtschenko die Anerkennung zu verweigern. Dennoch kamen Milans Spieler nach dem Abpfiff anständig in den Mittelkreis, um Barça zu gratulieren. Es war eine große Geste von Sportlern, die wissen, wie man geht; die wussten: Es ist Zeit. Man sprach kein Italienisch mehr an diesem Abend.“

NZZ: 14 Jahre nach Johan Cruyff hat auch Rijkaard wieder eine grosse Mannschaft mit Steigerungspotenzial

Ein Finale aus dem Glanzprospekt des schönen Spiels

Christian Eichler (FAZ) preist Barcelonas Stil und tröstet uns mit der Erkenntnis, daß das Finale auch ein deutsches Produkt werde: „95.000 Menschen feierten ein 0:0 – was im Camp Nou, einem der Tempel des Angriffsfußballs, wohl kaum je zuvor passiert war. Doch man kommt ja auch nicht alle Tage ins Endspiel der Champions League. Vor allem schafft man das nicht, bevor man gelernt hat, daß der Weg zu den Sternen des Finals durch den Staub der Abwehrarbeit führt. So haben die beiden offensiv attraktivsten Teams Europas, die Klubs der weltbesten Angriffsspieler Ronaldinho und Henry, ihr Traumfinale durch torlose Remis erreicht. (…) Es scheint, daß Barca mit Frank Rijkaard die Verschmelzung der Ajax-Schule, des schnellen Paßspiels und flüssigen Positionswechsels, mit der anderen großen Kunstrichtung des schönen Fußballs gelungen ist: dem Brasilianischen. Diese Mixtur wird sich messen mit der von Arsenal, wo Arsene Wenger seit Jahren an der Melange des perfekten Spielflusses bastelt. So erwartet Paris ein Finale, wie bestellt aus dem Glanzprospekt des schönen Spiels. Ronaldinho, der in Paris bei PSG spielte – und Henry, der dort aufwuchs. Barca, das seit vier Spielen ohne Gegentor ist – und Arsenal seit zehn. Zwei Deutsche retteten diese Serien: Schiedsrichter Merk für Barca, Torhüter Lehmann für Arsenal. In Paris wird eine von beiden reißen. Die Champions League als Flaschenhals? Je länger der Wettbewerb dauerte, desto weniger Tore paßten durch.“

NZZ: AC Milan hadert mit Doktor Merk

Die Logik politisch-fussballerischer Zyklen

Von Steven Tongue (Tsp) erfährt der politisch Interessierte: „Die Zuschauer hatten eine trotz fehlender Tore hochklassige und temporeiche Partie gesehen und einen Prestigeerfolg für den spanischen Fußball bejubelt – was bei einem Erfolg des Klubs aus der katalanischen Hauptstadt nicht unbedingt selbstverständlich ist. Das Spiel war auch im Fernsehen der absolute Quotenhit und beeinflusste sogar die Arbeit des Parlaments: Die Sozialisten, eigentlich in der Mehrheit, verloren im Oberhaus eine Abstimmung nur deshalb, weil mehrere ihrer Abgeordneten vorm Fernseher saßen und Fußball schauten.“

Georg Bucher (NZZ) verweist auf die spanische Korrelation zwischen Erfolg in Politik und Erfolg im Fußball: „Wahrscheinlich haben die Terroranschläge in Madrid kurz vor der Wahl im März 2004 Zapatero ins Amt gebracht. Gut zwei Jahre danach sitzt er fest im Sattel der Macht und dominiert das politische Geschehen ähnlich wie Barça die Fussballmeisterschaft. Zufall? Mitnichten, sagt die Historie. Genug Indizien weisen einen Zusammenhang zwischen den Erfolgen beider Szenen auf. Ohne die Stimmen der katalanischen Nationalisten wäre Zapatero nicht in die ‚Moncloa‘ eingezogen, und ohne diesen Support würde die ohnehin reiche Region finanziell nicht in gleichem Masse profitieren. Indirekt auch das Barça-Team, das sein Selbstverständnis regional definiert. Parallelen zu den achtziger Jahren, als Athletic Bilbao und Real Sociedad de San Sebastián je zweimal hintereinander Meister wurden, sind offensichtlich. Damals begann die Dezentralisierung des spanischen Staates, später erhielten die Regionen autonome Statuten. Aufgrund ihrer kulturellen Eigenständigkeit geniessen Basken und Katalanen mehr Spielraum als andere Gliedstaaten. Real Madrid knüpfte an die glanzvolle Ära der fünfziger und sechziger Jahre just in einer Zeit an, da der Partido Popular von Ministerpräsident José Maria Aznar mit absoluter Mehrheit ausgestattet war. Im Zweijahresrhythmus gewannen die Madrilenen dreimal die Champions League. Aznar stand nicht nur für die autoritäre Führungsrolle Madrids, er war auch öfter Gast im Santiago Bernabeu – Seite an Seite mit seinem Parteifreund, dem Baulöwen und Real-Präsidenten Florentino Perez. (…) Die Logik politisch-fussballerischer Zyklen lässt sich ebenfalls in Galicien nachweisen. Deportivo La Coruña stieg gewissermassen aus dem Nichts auf, gewann die Meisterschaft und die Copa del Rey (spanischer Cup) und ‚krönte‘ den Aufschwung mit dem Champions-League-Halbfinal 2004. Celta de Vigo drang ebenfalls in den erlauchten Kreis vor. Man schrieb die Zeit der ‚Monarchie‘: Manuel Fraga, früher Informationsminister des Franco-Regimes, absolvierte in Santiago de Compostela sein viertes Mandat an der Spitze Galiciens – auch in Madrid herrschten die Konservativen.“

Tsp: Der Nächste, bitte – Real Madrid wählt seinen Präsidenten Martin ab

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