indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

WM 2006

Überreaktionen

Oliver Fritsch | Samstag, 24. Juni 2006 Kommentare deaktiviert für Überreaktionen

Zwei merkwürdige Entscheidungen: ein falscher Elfmeter und eine harte Gelbe Karte – Andreas Burkert (SZ) kommentiert die Leistung Markus Merks beim Ghana-Sieg gegen die USA: „Bislang hat es der Fußball gut gemeint mit dem Doktor Merk, der Zahnarzt gelernt hat und jetzt vom Pfeifen und von Seminaren lebt. Er ist ein renommierter Referee, und wenn die deutschen Klubs mal wieder allesamt früh den Europacup verließen, fand manch Landsmann Trost bei ihm. Denn wenigstens er war ja in großen Spielen dabei. Die Heim-WM ist auch für ihn als Höhepunkt vorgesehen gewesen, doch nun könnte das Spiel der USA gegen Ghana einen Wendepunkt bedeuten. Denn Merk hat das Finale um Gruppenplatz 2 entschieden. Mit einer Fehlentscheidung. Merk hätte niemals pfeifen dürfen in dieser 47. Minute, in der Nachspielzeit. Alle waren sich darin einig, auch Ghanas serbischer Coach Ratomir Dujkovic bestätigte dies – indem er lächelnd einen Kommentar verweigerte. (…) Die deutsche WM ist nicht Merks Turnier. Er wirkte erneut allzu sehr bemüht um Kontrolle und frühe Signale. Merks (Über-)Reaktionen verwunderten, denn er hatte zwar ein umkämpftes Spiel zu leiten. Aber sicher keinen mit der Intensität eines australischen Rugbyspiels geführten Überlebenskampf wie das 2:2 der Socceroos gegen Kroatien, in dessen Turbulenzen der Engländer Graham Poll fast zwangsläufig den Überblick verlieren musste. Gleich zu Beginn hatte Merk Ghanas Regisseur Essien Gelb gezeigt nach einem Tackling, das selbst US-Coach Arena als ’sauber‘ bezeichnet. Vielleicht hatte Essien wirklich Foul gespielt und nicht nur den Ball, aber er verdient nicht seine zweite Turnierverwarnung. Nicht so früh; ein Weltschiedsrichter mit Instinkt hätte darauf verzichtet. Essien wird nun das bisher größte Spiel seines Lebens verpassen, das Achtelfinale gegen Brasilien. Merk muss von seinem Irrtum gehört haben. Denn er versuchte nach der Pause, die USA zu bevorteilen; es wirkte manchmal plump. Und es nutzte ja auch nichts mehr, das Spiel war entschieden, jeder fühlte das. (…) 2002 in Asien versperrte im Viertelfinale zwar nicht die Hand Gottes den Weg dorthin, sondern der Arm des Deutschen Torsten Frings. Es wird die US-Spieler kaum trösten, dass vermutlich auch Merk das Finale nicht erreicht.“

of: Mir ist ohnehin ein Rätsel, warum Merk einen so guten Ruf hat. Zwar ist er nicht so schlecht, wie einige Fans, vornehmlich aus Schalke, wo er seit 2001 nicht mehr pfeift, und Hamburg behaupten. Doch er neigt gelegentlich zu Gefälligkeiten und reagiert auf Druck. Erinnert sich jemand an das Champions-League-Rückspiel Barcelona gegen Chelsea im März (1:1), als Merk Chelsea einen unsäglichen Elfmeter gewährte, nachdem Chelsea-Coach Jose Mourinho nach dem Hinspiel (1:2) laut über den Norweger Hauge wegen der Roten Karte für den Chelsea-Verteidiger del Horno getobt hatte? Das Elfmetertor in der Nachspielzeit konnte das Vorrücken Barcelonas nicht mehr verhindern; die Entscheidung wurde kritisiert, geriet aber rasch in Vergessenheit. Schon eher bleibt Merks Fehlentscheidung im Halbfinal-Rückspiel (Barcelona–Mailand 0:0) im Gedächtnis, als er Schewtschenko ein wichtiges Tor fälschlicherweise aberkannt hat. Und, Schalke-Fans, habt Ihr Holland gegen Serbien gesehen? Zweite Halbzeit, erste Aktion, Edwin van der Sar nimmt einen „Rückpaß“ Marke Ujfalusi auf, Merk läßt weiterspielen. Nebenbei, gibt es in der Bundesliga etwas verkrampfteres als ein Augenzwinkern Markus Merks in die Kamera?

Mehmet Scholl für Arme

Christian Eichler (FAZ) unterstreicht Fleiß und Disziplin als Tugenden Ghanas und befaßt sich mit den Amerikanern: „Afrikas Fußball, den Romantiker des Spiels während der Vorrunde schon wie einen Trauerfall behandelten, er lebt – dank Ghana, dank einer physisch starken, eher disziplinierten als inspirierten Mannschaft. Bei anderen afrikanischen Teams sind die Stars exzentrische Stürmer, der Kameruner Eto‘o, der Ivorer Drogba, der Togoer Adebayor. Bei Ghana war das auch so, mit Abedi Pele oder Tony Yeboah. Doch die erste WM-Qualifikation schaffte Ghana mit ganz anderen Typen, einer anderen Charakteristik. Es ist das erste Team Afrikas, in dem die Stars die Arbeiter sind, die Mittelfeldantreiber Essien und Appiah. ‚Unser Geheimnis?‘ sagte Mensah. ‚Ganz einfach: große Entschlossenheit, Hingabe und hartes Training.‘ Das klingt eher unromantisch, nicht nach Magie, und ebenso nüchtern und fast gedämpft hakten sie den Tageserfolg ab, zwar mit einem Lächeln, aber gar nicht ekstatisch afrikanisch wie aus dem Fußball-Bilderbuch. Es sind europäische Profis mit europäischer Arbeitseinstellung, und die sagt: Es ist nur ein Etappensieg. (…) USA 2006, das erwies sich als Jahrgang ohne individuell überragende Klasse, ohne einen einzigen Spieler von Weltniveau. Ein Team, das seine einzige nennenswerte Leistung eine Halbzeit lang mit neun Mann gegen Italien zeigte. Und das spielerisch angewiesen war auf die wenigen lichten Momente eines Reyna, der nicht mal in der Bundesliga sonderlich auffiel, und eines Landon Donovan, der vom ewigen Talent bei Bayer Leverkusen zum Lokalhelden der US-Liga geworden ist, zu einer Art Mehmet Scholl für Arme. Die positive Entwicklung, die mit der Austragung der WM 1994 einsetzte und mit dem Gewinn des WM-Titels der Frauen im selben Jahr, stagniert. In den Vereinigten Staaten mag Fußball der beliebteste Sport bei Kindern und Jugendlichen geworden sein. Der Durchbruch zur Weltspitze, der 2002 nahe schien, als die Amerikaner im WM-Viertelfinale stärker waren als Deutschland und nur an Kahn scheiterten, ist stehengeblieben.“

FR: Pavel Nedveds Abschied

Gruppe F

Eroberungsfußball

Australien erstreitet sich ein 2:2 gegen Kroatien, und Roland Zorn (FAZ) hüpft das Herz: „Da haben sich die Richtigen gefunden, um an einem abenteuerlichen Stück für die Weltgemeinde der Fußballromantiker zu schreiben. Dessen vorläufiger dramatischer Höhepunkt war im Stuttgarter Gottlieb-Daimler-Stadion zu bewundern. Fortsetzung folgt in Kaiserslautern, wo Australien seine allererste Achtelfinalteilnahme bei einem Weltmeisterschaftsturnier feiert und dabei auf die abgebrühten, hoch eingeschätzten Italiener trifft. Kühle Köpfe gegen heiße Herzen, diese Klassikerkonstellation des Fußballs erwartet das auf mehr australischen Eroberungsfußball begierige Publikum. Die Tür dorthin öffnete sich nach der bisher aufregendsten und leidenschaftlichsten Begegnung dieser WM in Deutschland. Am Ende reichte den Australiern das 2:2 gegen die ähnlich kampfesmutigen, aber nicht ganz so wild entschlossenen Kroaten. (…) Feuriger als die Australier stürzt sich bei dieser WM niemand in die Arbeit.“

Footy

Rudolf Herrmann (NZZ) registriert die wachsende Popularität des Fußballs in Australien: „Seit dem Beginn der WM ist das Fussballfieber in Australien mit den Händen zu greifen. Das ist nicht selbstverständlich in einem Land, in dem es dem es den Fussball auf einer Grossleinwand bisher ebenso selten gab wie in Sponsoring-Konzepten bedeutender Firmen. Diese Marginalisierung erstaunt angesichts der Tatsache, dass Fussball in Australien nicht erst seit dem WM-Beginn der beliebteste Nachwuchs- und Breitensport ist. Nun brachte die Qualifikation der Nationalmannschaft zur Endrunde zusätzlich einen gewaltigen Populariätsschub, so dass die Zeiten des Aschenbrödeldaseins damit endgültig der Vergangenheit angehören dürften. Das äussert sich beispielsweise auch darin, dass der Sport mehr und mehr ‚Football‘ und nicht mehr ‚Soccer‘ genannt wird, und sogar der Volksmund zählt in nunmehr allenthalben zu den bisher allein dem Rugby vorbehaltenen kolloquialen Sammelbegriff ‚Foooty‘. Das Wirtschaftsblatt ‚Austalian Financial Reviews‘ orakelt entsprechend, der Fussball werde künftig im Sportmarkt des Landes einen deutlich grösseren Teil der Sponsorendollars beanspruchen, als er es bisher tat.“

Sauerstofflieferant

Javier Cáceres (SZ) schreibt nach dem 4:1 Brasiliens gegen Japan: „Robinho verschaffte Ronaldo Luft zum Atmen und Ronaldinho mehr Platz fürs Amüsement, ja er versorgte das ganze Team mit Sauerstoff. Weil in den Vortagen in einigen Medien über Unzufriedenheit der Etablierten mit der Taktik spekuliert wurde, werden Parallelen zu 1958 gezogen, als Brasilien mit zwei schlimmen Spielen in die WM startete und dann, auf Intervention der Veteranen, zwei junge Leute ins Spiel brachte: Pelé und Garrincha. Von Dauer ist der Personalwechsel diesmal wohl nicht.“

taz: Nach dem 4:1 gegen Japan sind die Brasilianer erleichtert, dass sie endlich wieder wie Brasilianer Fußball spielen

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