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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

WM 2006

Im Bau

Oliver Fritsch | Mittwoch, 28. Juni 2006 Kommentare deaktiviert für Im Bau

Gunter Gebauer (BLZ) zieht die Experten wegen ihrer Voraussage über das Achtelfinale auf: „Von den Experten ist uns versprochen worden, dass mit den K.o.-Runden der spannende, schöne Teil der WM beginnen würde. Der Austragungsmodus verlange von den Mannschaften ein couragiertes Auftreten, um die nächste Runde erreichen zu können. Das hat sich bestätigt. Die meisten Teams beweisen einen Mut, den man ihnen nicht zugetraut hätte: Italien und England den Mut zu einem total öden Spiel, Portugal und Holland den Mut zum hemmungslosen Erfolg, die Ukraine und die Schweiz den Mut, das Spiel völlig lahm zu legen. Dass ausgerechnet dieses Spiel verlängert worden ist, kann man nur als Strafe für die Zuschauer ansehen. Die Spieler beider Mannschaften hatten eine so große Angst vor dem K.o., dass man meinen kann, sie würden in einem Erdloch des Müngersdorfer Stadions verschwinden. Unter der Grasnarbe der Arena schien sich ein verzweigter Kaninchenbau zu befinden, in dem sich weit mehr ereignete als auf der Oberfläche. Es gibt eine Erzählung von Kafka, ‚Der Bau‘, in der ein ängstliches Wesen geschildert wird, das in einer halb tierischen, halb menschlichen Existenz in einem unterirdischen Tunnelsystem lebt. Wenn man sich beim Betrachten der Aktionen beider Mannschaften vorstellt, das meiste geschehe nicht auf dem Feld, sondern in einem solchen Bau, wird das Spiel wieder interessant.“

Selbstentleibung

Christoph Biermann (SZ) attestiert den Ghanaern beim 0:3 gegen Brasilien Leichtfertigkeit: „Die Zuneigung des Publikums war der Trostpreis, doch wenn die Afrikaner sich einmal in Ruhe mit ihrer Chance aufs Viertelfinale beschäftigen, werden sie vielleicht eher deprimiert als stolz auf das Spiel zurückschauen. Gegen Brasiliens Nationalfußballkünstler verpassten sie nämlich eine große Chance. Man kann es zwar für einen Fall besonderer Tapferkeit halten oder für strategische Naivität, aber Ghana vollführte einen kompletten Rollentausch. Es war nämlich nicht etwa der große (wenn auch inzwischen nicht mehr ganz so große) Favorit auf den Gewinn der Weltmeisterschaft der das Spiel machte. Wie ein Rudel satter Raubkatzen schlichen die Brasilianer über den Platz, während die Afrikaner eifrig das Spiel machten. Schon früh attackierten die Ghanaer den Titelverteidiger, schoben ihre Abwehrreihe bemerkenswert weit nach vorne und stellten eine Abseitsfalle. Nun kann eine Abseitsfalle kein Eigentor sein, die gleiche Wirkung hatte dieses Musterbeispiel dafür, wie man es nicht machen soll, aber doch. Wie die Lemminge stürzten die Verteidiger nach vorne, es war das fußballerische Äquivalent zur Selbstentleibung, denn alle brasilianischen Chancen ergaben sich, weil die Abseitsfalle nicht zuschnappte.“

Fahrkartenschützen

Die Schweiz muß nach ihrem Ausscheiden gegen die Ukraine heute viel Kritik und Hohn in deutschen Zeitungen lesen. Roland Zorn (FAZ) mokiert sich über ihre Elfmeterversuche: „Zwei ihrer drei mißlungenen Strafstoßversuche wirkten, als ob sie einer Monty-Python-Show entlehnt wären: grotesk, slapstickhaft, komisch. So wie Streller, der vor lauter Angst kaum zum Elfmeter anlaufen konnte, und Cabanas Torhüter Schowkowski den Ball zuspielten, so erproben elfjährige Kinder ihre Fertigkeiten am Ball, wenn Papa ins Tor geht. Zum Schießen! (…) Das Elfmeterschießen wurde wie ein letzter Verwaltungsakt eines langen Tages begriffen und endete, weil nicht in der Balance zu halten, im Desaster. Wie ein Profi ein Elfmetergeschenk des Schiedsrichters als elementare Chance begreifen muß, demonstrierte Francesco Totti. Ihm öffnete sich im allerletzten Moment der Partie gegen Australien das Tor zum Viertelfinale – und er schritt frei von Skrupeln und Ängsten hindurch. Die Schweizer Fahrkartenschützen hätten fünf Tottis gebraucht – und hatten nicht mal einen. Was hätte dazu Wilhelm Tell gesagt?“

Schablonenfußball

Wolfgang Hettfleisch (FR) wendet sich ab: „Die Schweizer haben bei der WM langweiligen und uninspirierten Beamtenfußball geboten. Sie standen stets perfekt organisiert, ließen wenige Chancen des Gegners zu, offenbarten aber in drei der vier Spielen (Ausnahme: Südkorea) spielerische Armut. Die Spieler sahen das freilich anders, sie wurden geradezu fuchsig, wenn sie mit dem erbärmlichen Spielniveau konfrontiert wurden. Marco Streller schoss den Vogel ab: Der Stürmer monierte das Verhalten des Kölner Publikums, das die Langeweile singend bekämpft hatte. ‚Es ist unheimlich schwer, wenn man auf dem Feld versucht, ein WM-Spiel zu absolvieren, und die Zuschauer singen ganz unbeteiligt ‚Lukas Podolski‘ oder ‚Ohne Holland fahren wir nach Berlin‘.‘ Nachtreten nach einem Grottenkick – die allseits als ach so sympathisch gepriesenen Schweizer Spieler entpuppten sich als schlechte Verlierer.“ Auch Christoph Biermann (SZ) läßt Strellers Beschwerde ins Leere laufen: „Angesichts der bedingungslosen Treue der Kölner zu ihrem Fußballklub hatte sich bei Streller wohl der Irrglaube eingeschlichen, dass die Kölner allen zujubeln, die hinter einem Ball herlaufen – und seien sie Mittelstürmer aus der Schweiz, deren Beiträge zum Spiel vor allem Stürmerfouls sind.“

Jens Weinreich (BLZ) fügt an: „Es war ein grässliches Achtelfinale von zwei Teams, die dummerweise einen ähnlichen Stil pflegen. Beide überlassen den Gegnern gern die Initiative und setzen vorzugsweise auf Konter. In Köln haben sie sich neutralisiert.“ Bernd Müllender (taz) erkennt eine Schweizer Kluft zwischen Wort und Tat: „Im Rückblick war der Turnierauftritt der Schweiz deutlich enttäuschender, als er vielfach kommentiert wurde. Nie haben sie zu ihrem avisierten schnellen Kurzpassspiel gefunden. Sie propagierten die Moderne und zeigten nur biederen Schablonenfußball. Und so reicht es nur für einen Eintrag in das Geschichtsbuch: Die Schweiz ist gegentorlos ausgeschieden, das haben in der WM-Historie nicht einmal italienische Destruktiv-Akrobaten geschafft.“ Biermann (SZ) allerdings gibt zu bedenken: „Das Ausscheiden im Achtelfinale ist für die Schweiz nur eine Zwischenstation und kein Endpunkt. Es wird keine großen Umbrüche geben, denn die Mannschaft ist sehr jung, und selbst die erfahreneren Spieler werden bei der EM 2008 noch dabei sein. Dazu könnten noch etliche talentierte Spieler aus den Juniorenmannschaften nachrücken.“

Ein Schweizer Fazit der NZZ-Redaktion

Eine WM kennt keine B-Note

Christian Eichler (FAZ) verbittet sich fast die Kritik am Stil des Viertelfinalteilnehmers Ukraine: „Werden die Ukrainer die Griechen dieser WM? Einmal verprügelt, beim 0:4 von den Spaniern, dann dank schwacher Gegner und taktisch getöteter Partien durchgewurstelt – klingt fast wie das Rehhagel-Rezept der EM 2004. Natürlich spielen die Ukrainer einen etwas anderen Fußball, aber die Grundidee ist ähnlich: hinten dicht, und vorne hilft, wenn schon nicht der liebe Gott, dann aber vielleicht Schewtschenko oder der Schiedsrichter. Nun stehen sie im Viertelfinale, was für einen WM-Debütanten eine große Leistung ist; nur daß gar nichts Begeisterndes oder Mitreißendes an diesem Durchkommen war. Von allen Viertelfinalisten hat die Ukraine am wenigsten zu dessen Schauwert beigetragen: keine Fans, kein Flair, keine Phantasie. Lobanowskis Idee von einem offensiven ‚totalen Fußball‘ nach Art der Holländer der Ära Cruyff hat sich bei seinen spielerischen Enkeln in jenen organisierten Sicherheits- und Erstickungsfußball verwandelt, den die Globalisierung des Spiels noch bis in fast jede Liga und jedes WM-Team verbreitet hat. Das Know-how dieser defensiven Netzarbeit verwandelt anno 2006 selbst mittelmäßige Teams wie die Schweiz und die Ukraine in Abwehrbollwerke. (…) Doch eine WM kennt keine B-Note, so geht jede Stilkritik ins Leere. Schon gar nicht kann man damit dem Außenseiter kommen.“

Teufelskerl

Christian Zaschke (SZ) ehrt die Australier nach ihrem klaglosen Ausscheiden gegen Italien: „Selten wohl hat ein Team ein derart unglückliches Aus bei einer WM derart gelassen hingenommen. In Kaiserslautern hatte ihr Weg durch das Turnier begonnen, mit einem Sieg gegen Japan. In der Pfalz endete der Weg, und statt Trauer oder Wut zeigten die australischen Spieler etwas, das im Fußball so gut wie verloren schien: Gelassenheit in der Niederlage. Sie nahmen es sportlich. Dabei sind die Australier keine Mannschaft, die diese Gelassenheit auf dem Platz verströmt und deshalb verloren hat.“ Ralf Weitbrecht (FAZ) pflichtet bei und drückt seine Bewunderung für Guus Hiddink aus: „Sie hätten aufschreien können. Sie hätten protestieren können. Sie hätten auf den Schiedsrichter losgehen können. Doch sie haben all das nicht getan. Größe zeigen in der Stunde des unglücklichen K.-o.-Schlags. Haltung bewahren und vielmehr die eigenen Stärken herausstellen. Australien hat verloren – durch einen mehr als zweifelhaften Elfmeter in der letzten Sekunde der Nachspielzeit. Der spanische Schiedsrichter Medina Cantalejo hielt den Stolperer und Umfaller des Italieners Fabio Grosso über den Australier Lucas Neill hinweg für strafstoßwürdig – und bereitete damit dem couragierten Auftritt der Männer aus Down under das sportliche Ende. Vielleicht gab es noch in der Kabine, in der reichlich Tränen geflossen sein sollen, so etwas wie eine offizielle Sprachregelung gegenüber der Öffentlichkeit. Tatsache ist: Sämtliche Spieler des auch gegen Italien überzeugenden Teams der Australier erwähnten den Schiedsrichter mit keiner Silbe. (…) Was ist das bloß für ein Teufelskerl, dieser Guus Hiddink? Geht vor vier Jahren in das Fußball-Entwicklungsland Südkorea, hebt die Männer aus Fernost auf die Landkarte des Weltfußballs und führt das Team bis ins Halbfinale. Und jetzt? Wiederholt das gleiche Bravourstück mit den eigentlich wegen ihrer Fußballkünste nicht gerade sonderlich gerühmten Australiern.“

Wolfgang Hettfleisch (FR) ergänzt: „Die WM in Deutschland ist vorbei für die großartigen Fußball-Botschafter aus Down Under. Und während die meisten von ihnen jetzt in ein, zwei Flugstunden an ihre europäischen Arbeitsplätze zurückkehren, soll ihr Abenteuer, das die Massen im fernen Australien begeistert hat, am anderen Ende der Welt eine nachhaltige Wirkung entfalten. Hiddink, der ambulante Ein-Mann-Hilfsdienst des Weltfußballs, der nun dem siechen Fußball-Riesen Russland auf die Beine helfen soll, hinterlässt nach nur elf Monaten im Amt deutliche Spuren in den unermesslichen Weiten der vormaligen Fußball-Diaspora zwischen Darwin, Sydney und Perth.“

Gegenentwurf

Raphael Honigstein (FTD) erwartet im Spiel zwischen England und Portugal ein Duell der Trainer: „Aus Sven-Göran Eriksson, dem notorischen Viertelfinaltrainer, muss in Deutschland endlich ein Halbfinaltrainer werden. Und das geht nur, wenn er im dritten Anlauf seinen Angstgegner besiegt: Luiz Felipe Scolari. Der Brasilianer steht kurz vor einem Hattrick. Mit Brasilien warf er in Asien Erikssons Elf aus dem Viertelfinale, in Portugal gelang ihm das mit den Portugiesen. Scolari wäre vor ein paar Monaten beinahe Erikssons Nachfolger geworden, der Verband wollte ihn, weil er der Gegenentwurf zu Eriksson ist. Aufbrausend, arrogant – und ein ganzes Stück erfolgreicher. Scolari sagte erst zu und dann wieder ab; er wollte nicht, dass hunderte von englischen Journalisten in den kommenden vier Jahren sein Leben durchleuchten. Verliert Eriksson das Duell ein weiteres Mal, wird er als kompetenter, netter Mann in die Annalen des englischen Fußballs eingehen. Als Trainer, dem die Härte und der Mut fehlte, unangenehme Entscheidungen zu treffen. Als Trainer, der immer von Scolari besiegt wurde.“

SZ: Die englische Mannschaft zeigt Mut zur Hässlichkeit, gewinnt Spiel um Spiel und ist stolz darauf

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