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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

WM 2006

Party schlägt Sachverstand

Oliver Fritsch | Donnerstag, 29. Juni 2006 Kommentare deaktiviert für Party schlägt Sachverstand

Podolski-Rufe und Holland-Schmähungen bei allen Spielen – Ralf Wiegand (SZ) stört sich am Hedonismus der Fans und fordert die Mannschaften auf, besser zu spielen: „Im Achtelfinale, so scheint es, hat die Abkopplung dieser Veranstaltung von ihrem eigentlichen Zweck einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die Tatsache, dass viele Zuschauer den Spielen ja nicht aus freien Stücken folgen, sondern vom Ticketing-Computer irgendwohin gelost worden sind, schlägt nun durch. Waren die Vorrundenabläufe noch planbar für die Fans aller Herren Länder und die Stadien daher fast ausschließlich in der Hand der direkt beteiligten Anhänger, kondensiert in der K.o.-Runde nun die überhitzte Nachfrage an der kühlen Zufallsarithmetik der Kartenverteilung. Dieses emotional zum Teil ungebundene Tagespublikum macht eben, wenn schon keine Karten fürs deutsche Spiel zu haben waren, aus jedem anderen ein deutsches Spiel. Party schlägt Sachverstand. Über allen Arenen liegt nach wie vor eine rummelplatzhafte Aufgeregtheit – ein Einheitsbrei der guten Laune. Was dieser WM aber fehlt, ist das große Gefühl, die einmalige Emotion, der entsetzte Schrei, der aus dem Nichts kommt und die jähe Stille, die verfrühtem Jubel folgt. Was fehlt, ist die bedingungslose Abhängigkeit des eigenen Wohlbefindens vom Spielverlauf. Was fehlt, ist der Klassiker, der ein paar tausend Zuschauer über die drei Millionen anderen erheben würde: Die waren zwar alle zu Gast bei der Party-WM, aber nur ein Bruchteil hatte dieses eine Fußballspiel gesehen.“

Wolfgang Hettfleisch (FR) stimmt zu: „Die Deutschen berauschen sich ein bisschen an ihrer unerwartet mitreißenden Elf und der neuen Rolle als Party-Weltmeister. Das schlug sich bei Spielen ohne deutsche Beteiligung zuletzt auch in gast-unfreundlichen Sprechchören nieder, die just dann angestimmt wurden, wenn bei den Kontrahenten auf dem Rasen gerade mal der Vorwärtsgang klemmte.“ Thorsten Jungholt (Welt) ergänzt: „Die Liebhaber des fußballerischen Raffinements blicken enttäuscht auf das Achtelfinale zurück. Die Ästhetik des Spielerischen stand hinter der Dominanz des Körperlichen zurück.“

Funke

Christian Eichler (FAZ) schildert den 3:1-Sieg Frankreichs gegen Spanien als einen Erfolg von Jung und Alt: „Acht Jahre sind eine lange Zeit. Im Fußball machen sie den Unterschied zwischen einem jungen Spieler und einem alten. Oder zwischen einem dünnen und einem dicken. Aber nicht zwischen einem guten und einem schlechten. Nicht bei Spielern wie Zinedine Zidane. Er war ein junger Spieler, als er im WM-Finale 1998 den großen Favoriten Brasilien schlug. Er wird ein alter Spieler sein, wenn er das abermals versucht. Aber er ist immer noch Zidane. Natürlich war er nicht mehr so schnell wie früher. Doch Einsatz, Beweglichkeit, Übersicht stimmten. Und dann war da wieder diese Gabe, die nur die ganz großen Spieler haben und behalten: in den großen Spielen etwas Großes zu tun. (…) Wie ein Urknall fürs Team war vor allem der Ausgleich des 23 Jahre alten Neulings Ribery. Wie er erst an der Abwehr und an Torwart Casillas vorbeistürmte und dann die Außenlinie entlang zur eigenen Bank, die Arme weit ausgestreckt, das hatte etwas Mitreißendes, wie es dem altbackenen Franzosen-Kick jahrelang gefehlt hatte. Daheim sprang der Funke über, Motto: Der alte König macht noch ein bißchen weiter, der neue zeigt schon sein Gesicht. Die dynamischste Jubelszene der WM illustrierte aber auch die Verwerfungen zwischen Team und Trainer. Ribery stürmte an Raymond Domenech vorbei, der sich mit Zidanes schmachvoller Auswechslung gegen Südkorea bei vielen die letzten Sympathien verspielt haben dürfte – das Team ließ den Trainer beim Jubeln links liegen.“

Ralf Itzel (BLZ) schreibt: „Die gesamte Equipe altert nun in Ehren. Sie besitzt nicht mehr die Jugend und Frische der Spanier, aber sie ist reif und weise genug, das zu erkennen und sich anzupassen. Wie jemand, der vor einem Berg steht und einsieht, dass er ihn nicht mehr hoch rennen kann, und das Ziel dann eben erreicht, in dem er außenrum läuft. Frankreich ist sich nicht mehr zu fein, zu reagieren statt zu agieren und auf Konter zu setzen.“

Jugend bedeutet gar nichts

Ronald Reng (BLZ) kann seiner Bewertung Spaniens, die er bereits vor dem Turnier mitgeteilt hat, treu bleiben: „Dieses Spanien hat nicht versagt, sondern eine ordentliche WM gespielt. Es hätte, an einem besseren Tag, es auch ins Viertelfinale schaffen können, aber dort gehört diese Elf hin: irgendwo zwischen die besten sechs und sechzehn. Nur wer sie vorher nie hatte spielen sehen, konnte nach dem 4:0 gegen die Ukraine darauf reinfallen, in ihnen einen Favoriten zu entdecken. Wer dagegen die zweijährige Lebenszeit des Teams unter Trainer Luis Aragones verfolgt hatte, wusste, jenes 4:0 war ein toller Tag, aber all die Schwächen der vergangenen zwei Jahre würden nicht über Nacht verschwunden sein. Die Schwierigkeit, mit Rückschlägen fertig zu werden, oder die Unterlegenheit gegen physisch starke Teams würden sich wieder melden. Frankreich, eine biedere, aber muskulöse Elf mit einer klaren Idee, was sie will und kann, wies Spanien in seine Kategorie ein. Es ist eine junge Mannschaft, das wird im Fußball immer als Wert an sich verklärt: jung sein. Jugend jedoch bedeutet gar nichts in diesem Spiel, schon gar nicht eine gesicherte Zukunft. (…) Für Schönheit gibt es keinen Preis, heißt es immer. Wirklich? Bei einer WM verlieren 31 Teams, und wenn nun bald England mit seinem grausigen Fußball ausscheidet, bleibt ihm nichts. Spanien aber hat die Erinnerung an schöne Tage in der Vorrunde, die Befriedigung, dass Spieler wie Cesc Fabregas und Fernando Torres die Phantasie des Publikums gefangen nahmen.“

Solidarität gestärkt

Peter Heß (FAZ) wünscht sich den Spaniern mehr Leid und Trübsal: „Die Spanier gingen mit ihrem Scheitern um, als hätten sie von Anfang an damit gerechnet. Ein paar Spieler ließen die Köpfe hängen, aber tiefere Verzweiflung drückte sich nicht in ihrer Körpersprache aus. Die Fans in den rot-gelben Landesfarben applaudierten sogar, als sich ein paar Profis vor ihren Tribünenblock begaben. Rechtsverteidiger Ramos zog daraufhin sein Trikot aus und schleuderte es auf die Tribüne. So friedlich vereint in der Niederlage sind nur Verlierer mit Erfahrung. (…) Die Hoffnungen [auf die Zukunft] werden sich aber nur erfüllen, wenn die Spanier eine größere Abneigung gegen Niederlagen entwickeln. Talent, Fleiß und Athletik reichen nicht mehr aus, um bei großen Turnieren in ein Finale zu kommen. Unbedingter Siegeswillen gehört dazu. Und diese Tugend war die einzige, die die Franzosen den Spanier voraushatten.“ Georg Bucher (NZZ) ergründet die spanische Gelassenheit nach der Niederlage: „In vielen Belangen und über weite Strecken dominierten die Franzosen. Spanien wurde aus luftigen Höhen auf den harten Boden der Tatsachen zurückgeholt. Dass die Landung weniger schmerzt als seinerzeit in Asien, liegt wohl auch an den positiven Nebenwirkungen des WM-Turniers auf die spanische Gesellschaft. Politische Kommentatoren betonen, in Zeiten, da die Gliedstaaten ihre eigene Identität hervorkehrten und vom allmählichen Zerfall der Nation die Rede sei, habe das Auswahlteam die Spanier wieder näher zusammengerückt, Gemeinschaftsgefühle geweckt und Solidarität gestärkt.“

Prozentfußball

Weitere Kommentare über Brasiliens Sachlichkeit: Javier Cáceres (SZ) warnt: „Möge sich niemand täuschen: Auch dieses Brasilien – vielleicht sogar: gerade dieses Brasilien – ist trotz aller Kritik weiterhin der erste Kandidat auf den Titel. Das Programm der Mannschaft heißt ‚Effizienz.exe‘, die Phantasie muss erst noch gebootet werden. Das Problem mit den auseinanderklaffenden Parametern Anspruch und Wirklichkeit liegt ja darin begründet, dass alle Welt weiß, dass sie es besser können. Brasilien in den Händen von Parreira aber ist, als würde man das aus Brasilien stammende Topmodel Giselle Bündchen mit einem Ganzkörperschleier über den Laufsteg schicken. Man würde alles ahnen können, aber nichts sehen.“ Thomas Klemm (FAZ) fügt an: „Daß die Fußballwelt von den eifrigsten Titelsammlern etwas mehr erwartet, als mit Prozentfußball zum sechsten WM-Erfolg zu kommen, das läßt Trainer Parreira kalt. Sogar die Pfiffe des Publikums gegen seine Spieler, die sich bei dieser WM weiterhin weigern, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen, mochte der Weltmeistertrainer von 1994 nicht als Verdruß deuten. Der Slogan ‚jogo bonito‘, mit dem der zuständige Sportartikelausrüster den brasilianischen Ballzauber preist, entpuppt sich zunehmend als Werbegag. Sein Spielchen, mit minimalem Aufwand zum maximalen Ertrag zu kommen, trieb der Titelverteidiger im Achtelfinale auf die Spitze. Ganz und gar auf die eigenen Geistesblitze vertrauend, überließen die Brasilianer den eifrigen Ghanaern den aktiven Part, gerieten dabei in der Defensive gehörig ins Straucheln, waren dem Gegner aber an Abgeklärtheit ein gutes Stück voraus.“

Warten auf den Paukenschlag

Eine Empfehlung von Roland Zorn (FAZ) für Ghana, Togo und Angola: „Ein besseres Torschußtraining, eine sauberere Spielweise brächte so manches afrikanische Team um den entscheidenden Schritt hin zur internationalen Spitzenklasse voran. Das intensiv zu üben ist lohnenswert, da sich bei der nächsten WM in Südafrika auch endlich das große Schaufenster für den afrikanischen Fußball öffnen soll. An Mannschaften mit Qualität fehlt es nicht – zu den etablierten, aber in Deutschland nicht vertretenen Nationen Kamerun, Nigeria und Senegal sind bei dieser WM Ghana und die Elfenbeinküste gekommen –, wohl aber an der Fähigkeit, entscheidende Momente auszunutzen. Afrika hat auch in Deutschland für seinen Fußball getrommelt, auf den großen Paukenschlag muß es weiter warten.“

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