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Ball und Buchstabe

Die Welt zu Gast beim Fußball

Oliver Fritsch | Montag, 10. Juli 2006 Kommentare deaktiviert für Die Welt zu Gast beim Fußball

Roland Zorn (FAZ/Leitartikel): „Wer aus der Begeisterung für die deutsche Mannschaft einen neuen Patriotismus ableiten wollte und wieder einmal sogleich zur Stelle war mit gesellschaftlichen und politischen Analogien, hat Sommermärchen verbreitet. Überall flatternde schwarzrotgoldene Fähnchen, die erstmals laut mitgesungene Hymne in den Stadien, Autokorsos in den Innenstädten und deutsche Gemeinschaftserlebnisse vor dem Bildschirm zeugten eher von der Sehnsucht, sich zur Abwechslung aus der wachsenden Vereinzelung der iPod-Generation zu befreien. Was für Deutschland galt, beanspruchte auch die Welt für sich: Partys, Massenaufläufe, Extrafeierschichten für den Fußball, wohin das Auge zwischen Australien und Korea, Frankreich, Ghana oder Italien schaute. Die Internationale dieses weltweit beliebtesten Sports, auch das hat sich bei dieser WM gezeigt, ist jünger, weiblicher, verspielter geworden. Der Fußball gehört allen und ist, weil einfach zu durchschauen und oft nur schwer zu erklären, zum Massenkulturgut der Menschheit geworden. Bei dieser WM wurde wie nie zuvor der Eindruck erweckt, die Welt sei zu Gast beim Fußball – und dann erst bei den Freunden in Deutschland.“

Die Niederlage hatte ihr Gutes

Christoph Albrecht-Heider (FR) kann sich mit einem harmonischen dritten Platz anfreunden und hätte im Falle eines deutschen Weltmeistertitels mit Überschwang gerechnet: „Vor dem Halbfinalspiel gegen Italien mischten sich aggressive Untertöne in die deutsche Begeisterung, benutzte die Boulevardpresse wieder das Mittel der aufhetzenden Schlagzeile, begann der Abend damit, dass die italienische Hymne überpfiffen wurde, bekam die Schwarz-Rot-Gold-Orgie unerfreuliche Züge. Die Niederlage gegen Italien hatte, da die nationale Euphorie erstmal etwas abkühlte, damit durchaus ihr Gutes, so bitter sie sportlich war, so sehr der Durchmarsch der deutschen Underdogs eine poetische Qualität gehabt hätte.“

Intellektueller Problembär

Kurt Kister (SZ) reduziert die schwarz-rot-goldene Unterstützung für die deutsche Mannschaft auf das Wesentliche: „Seit Anfang Juni hat die Laber- und Interpretationsindustrie in den Medien Sonderschichten gefahren. Kein Schluss war zu abseitig, als dass er nicht gezogen worden wäre. Die Leistung der deutschen Mannschaft sowie die ihres Trainerstabes musste herhalten als Vorbild für die große Koalition, als Mutmachding für die Wirtschaft, als Identifikationsgegenstand für die Jugend, als Chance für den Standort und natürlich als Urgrund für das Marodieren des intellektuellen Problembären dieses Sommers, der so genannten Patriotismus-Debatte. Weil sich so viele Menschen für die WM interessieren, darunter etliche, die im weiteren Sinne vom Reden leben, musste sich wohl auch das große Geschwätz über unser Land senken – zumal da es richtig chic geworden war, WM zu gucken und WM zu reden. Jetzt nun doch ein paar Sätze zum ‚Patriotismus‘: Fußball ist in Deutschland ein sehr beliebter Sport, und wenn die Nationalelf erfolgreich durch ein dramatisches Turnier geht, dann feiern die Leute mit den Farben dieser Elf, die eben die Nationalfarben sind. Sie haben dabei weder die gute Paulskirchen-Tradition von Schwarz-Rot-Gold im Kopf noch überlegen sie, ob die Deutschen an sich und von ihrem Wesen her eher Dichter und Denker oder vielleicht doch mehr Richter und Henker sind. Ebenso fremd ist den Ballack-Fahnenschwenkern jener gequirlte Unsinn, der manchmal Politikern beim Stichwort Patriotismus durch den Kopf geht – die Kanzlerin zum Beispiel glaubt, es sei patriotisch, verfassungsgemäße Etats zu verabschieden. Ach je. In den vergangenen vier Wochen ist nichts anderes passiert, als dass die Fußballfans unabhängig von ihrer politischen Einstellung, ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung ‚Deutschland, Deutschland‘ für sich und ihre Begeisterung adoptiert haben. Offenbar gibt es eine Gegenbewegung zu einer tendenziell mehr und mehr vereinzelnden Lebensart und Unterhaltungstechnologie (iPods, Gameboys, Surfen im virtuellen Netz). Diese Gegenbewegung wendet sich den alten Formen der Identifikation mit und in der Masse zu: Die eigene Mannschaft wird in der Arena zum Sieg gebrüllt. Es ging also nicht um neuen oder gar alten Patriotismus, sondern vielmehr darum, mit anderen, auch Unterschiedlichen, eins zu sein. Und genau das war Klinsmanns Leistung mit der deutschen Elf.“

NZZ: Party, Pop-Patriotismus und Patt

Leises Meerrauschen

Benjamin Henrichs (SZ) schaltet nach einem Monat den Fernseher aus: „Diese so genannte Patriotismusdebatte war das mit Abstand übelste Spiel der WM, ein endloses Nullzunull ohne Elfmeterschießen. Selbst harmloseste Siege der Deutschen wurden zu dröhnenden Deutschlandreden missbraucht, die allesamt mit dem absurden Appell endeten, Merkel solle ihren Job doch bitte so machen wie Klinsmann. Bei der WM 2010 werde ich vielleicht dem Rat des Kollegen R. folgen. Den Fernsehton abstellen und zum Fußball Mozart hören. Oder die Gesänge der Hildegard von Bingen. Oder Bach natürlich – mit dem ‚Wohltemperierten Klavier‘ oder der Kantate ‚O höchst erwünschtes Freudenfest‘ wird noch die ödeste Partie zum strahlenden Festspiel. Oder ich mache es wie beim Finale 1986. Das habe ich im Hafen der griechischen Insel Hydra gesehen, und im Hintergrund rauschte leise das Meer. Und ich lauschte den Gesängen des griechischen Kommentators. Vielleicht redete er ja das selbe Zeug wie unsere Leute, aber weil ich nichts verstand, klang es wie Homer und Sophokles, nicht wie Reinhold Beckmann.“

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