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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

WM 2006

Rausschmeißer

Oliver Fritsch | Dienstag, 11. Juli 2006 Kommentare deaktiviert für Rausschmeißer

Peter Heß (FAZ) hakt das Finale ab: „Magie gehört nicht zum Repertoire des neuen Weltmeisters. Italien triumphierte auf dieselbe nüchterne, aber effektive Weise, mit der es die Mannschaft bis ins Finale gebracht hatte. Und der Mann, der für den Extra-Kick hätte sorgen können, versah den vermeintlichen Höhepunkt des Turniers sogar noch mit dem Touch des Vulgären. Das Fußballidol Zinedine Zidane beendete mit einem brutalen Kopfstoß seine Karriere aufs unwürdigste. (…) Die Herzen der Fußball-Welt eroberten sich die Italiener nicht. Und da es zudem schwerfiel, den Verlierern nach Zidanes Tätlichkeit Mitleid zu zollen, endete diese emotionale Weltmeisterschaft nicht mit dem Höhepunkt, sondern mit einem Rausschmeißer. Zumindest erleichterte das Finale die Rückkehr in den Fußball-Alltag.

Kopfgesteuert, aber gedankenlos

Zidanes Ausraster, ein episches Thema – Roland Zorn (FAZ) trägt es ihm nicht allzu sehr nach: „Alle, die sich vorher ein Idealbild von dem bekannt jähzornigen Franzosen ausgemalt hatten, sahen nun die Fotos von einem Irregeleiteten, der sein Endspiel nicht unter Kontrolle hatte. Es war für ihn das Finale einer Achterbahnfahrt, die den gelegentlich verschlossen wie eine Auster wirkenden Mann während der vier turbulenten Wochen mal ganz nach oben katapultierte, mal ganz nach unten schleuderte. Zidane hielt sich, Frankreich und die Fußballwelt in Atem – und blieb damit trotz seiner kopfgesteuerten, aber gedankenlosen Missetat zum bösen Schluß einer der faszinierenden Hauptdarsteller der großen WM-Fußballshow. (…) Sein Ruhm wird zu glanzvoll bleiben, um von diesem trüben Schlußkapitel seiner Laufbahn überschattet werden zu können.“

Kein Übermensch

Christian Zaschke (SZ) erkennt den alten Zidane: „Dieses Foul war nicht das erste Mal und nicht das letzte Mal, dass Zidane diese erstaunliche Rücksichtslosigkeit aufscheinen ließ, diese Brutalität. Sie wohnt ebenso in ihm wie das Genie, und wenn L‘Equipe fragt, was man den Kindern erzählen soll, dann ist die schlichte Antwort wohl, dass Zidane kein Übermensch ist, sondern einfach ein sehr guter und doch jähzorniger Fußballer, und dass sie sich ihre Vorbilder anderswo suchen oder einfach ohne auskommen sollten. Doch selbstverständlich hätte im Rückblick niemand von den elf vorangegangenen roten Karten gesprochen, hätte es diese zwölfte nicht gegeben.“ Andreas Lesch (BLZ) ergänzt: „Er, der majestätische Tänzer, hat den niederen Instinkten gehorcht. Er ist der Logik der Straße gefolgt: Wer provoziert, wird bestraft.“

BLZ: Kritik an der Wahl Zidanes zum Spieler des Turniers

Nichts über seine Mutter

Vor dem Hintergrund der Spekulation darüber, mit welchen Worten Marco Materazzi Zidane provoziert haben könnte, gibt Birgit Schönau (SZ) zu bedenken: „Ein Muttersöhnchen durfte er nie werden. Sie starb, als er ein kleiner Junge war. Deshalb wird er Zidane alles Mögliche an den Kopf geworfen haben, bevor der große Franzose ihm seine Glatze in den Brustkorb rammte, alles Mögliche, aber nichts über dessen Mutter. Diese Beleidigung grölten dafür die Tifosi zu Hunderten in den Straßen Roms, und manche nahmen sogar ein Megaphon dazu, es waren keine schönen Szenen. Wenn einer auf dem Platz Zidane zutiefst verstehen konnte, wenn einer nachfühlen konnte, was es heißt, derart gedemütigt vom Rasen zu schleichen, um sich in tiefster Scham vor der Welt zu verkriechen – dann war es wohl Materazzi. Wie oft war es ihm selbst so ergangen, zuletzt im Achtelfinale gegen Australien. Der Schiedsrichter taucht auf wie ein Erzengel beim Jüngsten Gericht, greift in die Brusttasche, im Gesicht den unerbittlichen Ausdruck von Endgültigkeit. Zieht die Karte. Und dann muss man mit fest auf den Boden geheftetem Blick den Ausgang finden, während sich die Sekunden unter den Pfiffen von Zehntausenden endlos dehnen. Diesmal nicht. Diesmal ging der Andere, der Große, der Weltstar, der König des Fußballs, der sich soeben selbst entthront hatte.“

Vorzeigerüpel aus Lippis Schlitzohr-Combo

Michael Ashelm (FAZ) stellt Materazzi als grimmigen Verteidiger vor: „Zu seiner ‚göttlichen Bestimmung‘ gehört, den Gegner mit allen Mitteln zu bekämpfen, die nicht immer im Fußballregelbuch zulässig sind. Materazzi ist ein schreckensfreier Grätschenfreund, ein harter Geselle, der nicht mal über diese typisch engelstreue Mimik eines italienischen Fußballprofis verfügt. Der rauhbeinige Abwehrmann verkörpert deshalb wohl am besten den Stil des neuen Weltmeistertrainers Marcello Lippi. ‚Ich bin lieber ein Arsch als ein Verlierer‘, sagt er zu seinem Faible für rüde Typen. Materazzi wirkt da wie ein Vorzeigerüpel aus Lippis Schlitzohr-Combo, was nicht nur an seinen vielen furchteinflößenden Tätowierungen liegt. Weit über die Serie A hinaus sind seine Fouls und Pöbeleien gefürchtet.“

FR: Materazzi, Rammbock und Waisenkind

NZZ: Materazzi gibt Beleidigung zu

youtube: ein Video mit den Karriere-Highlights Materazzis

Foult nicht

Wiebke Hollersen (BLZ) veredelt Fabio Cannavaros Spiel: „Wer Cannavaro zugesehen hat, vor allem in seinem besten Spiel, dem Halbfinale gegen Deutschland, konnte in dem, was er tat, mehr Spaß und Spiel entdecken als in vielen verkorksten Angriffsversuchen. Cannavaro ist fast zu schmächtig für einen Innenverteidiger. Aber er braucht keine Härte als Ausgleich, er erhielt im ganzen Turnier keine Gelbe Karte. Den Freunden der Italien-Klischees in Deutschland macht er keine Freude: Er trägt kein Gel in den Haaren, er hat sich die Haare geschoren, er fällt nicht um, er foult nicht.“

BLZ: Weltmeister Italien spiegelt wie die gesamte WM den Trend zur Defensive im internationalen Fußball wider

FR: Korrespondentenbericht über die Stimmung in Italien

FR: Chirac erteilt Zidane die Absolution

Wir, die schmutzigen, korrupten und selbstmitleidigen Catenacciari

(sh) Aus italienischen Zeitungen: Der Himmel über Berlin erstrahlt für die Italiener im schönsten azzurro. „Campioni del mondo“ ist die Schlagzeile der Repubblica, „L’Italia dei Campioni“ die des Corriere della Sera, und auf Seite 2 heißt es in Anlehnung an Wim Wenders’ auch in Italien sehr populärem Film: „Azzurro sopra Berlino“ (Azurblau über Berlin). Aus dem Corriere della Sera: „Es endet eine große WM, die von einem großen Team mit Kraft und Leidenschaft erobert wird.“ Zitiert wird Gennaro Gattusos These: „Ohne die Skandale hätten wir nie gewonnen. Alle unsere Mannschaften hatten und haben Probleme mit der Sportjustiz, genau deshalb haben wir mehr gegeben!“ Und Romano Prodi: „Wir haben nicht um ein Haar, aber um einen Torpfosten gesiegt, es ist nur ein Torpfosten, der den Unterschied ausgemacht hat, es gibt Spiele, bei denen man so gewinnt …!“ Der Kommentator Gianni Riotta sieht den Sieg seiner Mannschaft so: „Wir sind Meister, weil wir Italiener sind, wir haben durch Entschlossenheit, durch Glück und durch unsere nationalen Defekte gesiegt.“ In einem weiteren Kommentar heißt es: „Unvollkommen und schön, ängstlich und heroisch. Wir sind der Fußball. Wir sind Weltmeister, was niemand gedacht hätte und was auch niemand gewollt hätte. Wir, die schmutzigen, korrupten und selbstmitleidigen Catenacciari. Wir, aus diesem Land, das sich geißelt und das morgen die Weltmeister wer weiß wohin schicken wird, in die Serie B oder C, egal, weil wir eben so sind, einig und eklektisch, morbid und loyalitätsvergiftet.“

In der Repubblica wird berichtet, die Spieler der Nationalmannschaft hätten im Flugzeug gesungen: „Lippi, non lasciare!“ (Lippi, nicht aufhören!) In der Analyse heißt es: „Wieder sind Buffon, Grosso, Cannavaro und Materazzi (plus Zambrotta und Gattuso) die Protagonisten des Italiens der Arbeiter, das leidet, kämpft, erträgt, unterzugehen scheint, und am Ende triumphiert.“ Nicht verschwiegen werden die Schwierigkeiten der Mittelfeldspieler „in einem Spiel, in dem Frankreich in der gesamten Nachspielzeit im Ballbesitz war.“ Natürlich wird auch in der Repubblica Staatspräsident Giorgio Napolitano zitiert, der auf der Tribüne gelitten habe und den Spielern immer nahe gewesen sei: „Italien hat einen Sieg erobert, der uns mit Stolz erfüllt und der uns eine nationale Identität verleiht, die fundamental ist, um dieses Land mit seinen vielen Problemen auf den Beinen zu halten.“

Jetzt ist Afrika dran

(ag) Die spanische Presse ist sich weitgehend einig, daß Frankreich in einem „langen Monolog“ im Finale gegen Italien den besseren, „attraktiveren“ Fußball gespielt habe. In El País lesen wir: „Es war ein fauler Triumph, a la italiana und unverdient. Aber so ist der Fußball. Nicht die, die ihn am meisten suchen, erringen den Sieg. (…) Es war keine spektakuläre Meisterschaft, was den Fußball angeht. Sie spiegelte den Triumph des Konservatismus wider. Nur wenige junge Spieler sind über die Veteranen hinausgewachsen. Es war die Niederlage Brasiliens und Argentiniens und der Triumph Europas; eines Europas, das nicht bezaubert, aber am Ende immer da ist: die vier Halbfinalisten – Italien, Frankreich, Deutschland und Portugal – sind Mitglieder der EU. In Sachen Organisation dagegen muß man dem Gastgeber Deutschland eine 1 mit Sternchen geben: volle Stadien, wenige Zwischenfälle und wirtschaftlicher Erfolg. Fußball verkauft sich nach wie vor gut, obwohl der Ball immer mehr verbannt wird: wenige Tore, einwandfreie Verteidiger und Ergebnisorientierung. Jetzt ist Afrika dran.“

BLZ: Internationale Pressestimmen

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