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Ball und Buchstabe

Perverse italienische Anthropologie

Oliver Fritsch | Dienstag, 11. Juli 2006 Kommentare deaktiviert für Perverse italienische Anthropologie

Der Italien-Korrespondent der FAZ, Dirk Schümer, leitet aus Italiens Triumph zur Zeit des Niedergangs Schlüsse über das italienische Selbstverständnis ab: „Um eine weltmeisterliche Truppe zu schmieden, brauchen Italiener offenbar weder amerikanische Fitnesstrainer noch Sportpsychologen. Ihnen reichten als Motivationsmix ein Rudel gekaufter Schiedsrichter, Vereine kurz vor dem Bankrott, abgetretene Funktionäre, ausbleibende Fernsehgelder – kurz: eine Fußballindustrie nahe dem Kollaps. Franz Beckenbauers Unkenrufe vor dem Turnier, die Italiener würden die Quittung für ihren heimischen Saustall einstecken müssen, bewahrheitete sich auf gespenstisch gegensätzliche Weise. Daß Sportler oft nur unter existenziellem Druck ihre Höchstleistungen vollbringen, gehört zu den ungeschriebenen Regeln eines überbezahlten Gewerbes. Während Spanier, Engländer, Brasilianer entspannt und mit geringstmöglichem Aufwand scheiterten, spielten die Italiener ohne Clubs, ohne funktionierenden Verband und mit ungewisser Zukunft um alles. ‚Ohne die Skandale hätten wir nie gewonnen.‘ Diese Analyse trug im Siegesrausch der Kopf des Teams vor, Gennaro Gattuso. Wahrscheinlich hat er recht, und doch äußert sich darin eine perverse italienische Anthropologie: Wir brauchen den Stimulus, über den eigenen Sumpf hinwegzuspringen. Und vor allem: Erst nachdem wir unlauter versucht haben, die Regeln zu manipulieren, macht es uns Freude, sie zu akzeptieren. So sind wir eben. In dem Milieu mächtiger Strippenzieher und des schillernden Fußball-Polit-Moguls Berlusconi sind diese Weltmeister groß und stark geworden. Statt wehmütig zu spekulieren, was die Athleten ohne den Klotz solcher Klientelwirtschaft am Bein noch alles hätten leisten können, nutzte man in Italien die schmierige Mißwirtschaft lieber als moralische Antriebshilfe. (…) Und so fragen sie sich: Können wir irgendwann leben ohne Verfilzung und Kungelei? Oder ist Italien nur dann ganz groß, wenn es zugleich ganz klein ist?“

Mannschaft von außergewöhnlicher moralischer Kraft

Emilio Marrese, ein Reporter der Repubblica beteuert im Tagesspiegel, daß Fußball-Italien im Moggi-Prozeß auf harte Strafen hofft: „Italiens Fußball hat in seinem traurigsten Moment triumphiert, und das ist kein Zufall. Wir alle wissen jetzt zuverlässig, was immer vermutet, gesagt und geschrieben wurde, ohne dass wir gerichtsfeste Beweise dafür hatten: Das System ist verrottet. Die Italiener, das sollte man wissen, sind die ersten, die sich zutiefst dafür schämen, was alles aufgedeckt wurde und die ersten, die wütend über die sind, die ihren Traum und ihre Gefühle betrogen haben. Und alle, auch viele Fans von Juventus und anderen beteiligten Vereinen, die nicht blind sind, haben nach dem Triumph in Deutschland Angst vor einer Art vorauseilender Amnestie, in der das Klima freundlicher und die Urteile milder ausfallen könnten. Italien will das nicht, glaubt uns das! Wir wollen, wie man bei uns sagt, nicht Salzgebäck und ein Gläschen, sondern harte Strafen. Die Spieler sind noch der intakteste Teil dieses Systems und Opfer wie die Fans. Der Riesenwunsch nach einem Zeichen – auch nach den unfairen Pfiffen im Olympiastadion, nachdem Zidane vom Platz musste – machte sie zu einer Mannschaft von außergewöhnlicher moralischer Kraft. Das hat den großen Unterschied bei dieser Weltmeisterschaft gemacht, deren Fußball technisch nur noch in Millimetern Unterschiede kennt.“

Todkrank

In einem weiteren Text verweist Schümer (FAZ) auf die möglichen Folgen des Prozesses für die Zukunft des italienischen Fußballs und die Bedeutung der jahrelangen Manipulation für den WM-Erfolg: „Er begreife den Triumph, sagte der neugewählte Fußballpräsident Napolitano, ‚als Sieg des gesetzestreuen Italien‘. Aber so einfach ist das nicht. Berlusconi und andere verschwenderische Fußballmäzene haben die Spieler in hochmodernen Trainingszentren zu konkurrenzfähigen Gladiatoren ausgebildet, sie haben Milliarden in den Fußball investiert, ihn medial perfekt ausgebeutet und sich schließlich für berechtigt gehalten, die Spielregeln zu ihren Gunsten zu ändern. Wie in der Justiz. Wie in der Politik. Wie im Geschäft. Die Welt sei nun einmal dreckig und böse, so verteidigen sich jetzt nahezu alle Inkriminierten und Manipulateure. Wer sich da mit allen Tricks durchbeiße, der handle sozusagen in Notwehr. Einige Spieler wie der grundsolide Kalabrese Gennaro Gattuso scheinen begriffen zu haben, daß Leute wie Berlusconi den italienischen Fußball groß gemacht und zugleich an den Abgrund gebracht haben. Der biedere Moralist Gattuso fordert strenge Strafen für die Täter – und damit den Abstieg seines Clubs, die Schwächung der Liga, den Kollaps der Finanzen, also all das, was die Moguln des Fußballs in den nächsten Wochen mit allen juristischen Mitteln zu verhindern suchen. Die Frage ist, wie kann ein starkes Fußball-Italien ohne Lobbies und Vetternwirtschaft geschaffen werden? (…) Italien, das Land der Sieger, steht sportlich und ökonomisch als großer Verlierer da. Italiens so erfolgreicher Fußball ist krank, todkrank sogar.“

Peter Hartmann (NZZ) blickt auf den Trainer: „Es ist schwer vorstellbar, dass Lippi als hochdekorierter Trainer von 1994 bis 1999 und wieder von 2001 bis 2004 nichts mitbekommen hat von den Manipulationen der Schiedsrichter, von der chronischen Bevorteilung seiner Mannschaft, dass er im Unklaren gelassen wurde über medizinische Therapien, die Gegenstand des noch nicht abgeschlossenen Dopingprozesses gegen Juventus sind. Fragen wischt er beleidigt und arrogant beiseite.“

Triumph einer Gastarbeiternation

Birgit Schönau (SZ) verteidigt die Italiener gegen Ressentiments in deutschen Zeitungen: „In Deutschland spielten die Italiener auch gegen eine weitgehend ignorante, teils offen feindselige Presse, die sich nicht die Mühe machte, ihre verkrusteten Klischees über den Haufen zu werfen. Dieser Begleitumstand der WM kam in Italien, aber auch bei den Spielern schlecht an. Der Sieg in Berlin bedeutet – das darf man nicht vergessen – auch den Triumph einer Gastarbeiternation, die sich von den reicheren Nachbarn wieder einmal nicht gut behandelt fühlte. Leider wurde das von vielen übersehen, die Italien nur noch als Urlaubsland wahrnehmen und schon lange nicht mehr als Heimat von immerhin 600.000 Arbeitern, die sich in Deutschland niedergelassen haben. Wo Ignoranz herrscht, kann keine Sensibilität entstehen – die Nolens-volens-Arroganz der Gastgeber hinterließ in Italien einen dicken, dunklen Flecken.“

Beckmanns Liebling

Andreas Platthaus (FAZ/Medien) steckt ARD und ZDF in einen Sack: „Übers Turnier gesehen schenkten sich ARD und ZDF nichts, was das triste Niveau der Reportagen betraf. Konsequenterweise hielt beim Abschied der Nationalmannschaft auf der Berliner Fan-Meile Johannes B. Kerner ein ARD- und Monica Lierhaus ein ZDF-Mikrophon in der Hand: Na, war ja auch wirklich egal, wer für wen quasselt. Doch erst das Finale war der konsequente Höhepunkt. Die Beschreibungskunst des Reinhold Beckmann kam hier vollends zu sich. Keine Erwägung, die über das hinausgegangen wäre, was ohnehin alle gesehen hatten, und als dann plötzlich etwas außerhalb des Bildschirmbereichs stattfand – der Kopfstoß von Zinedine Zidane –, da erspähte Beckmann wie wir nur die zurückeilenden Spieler: ‚Da hinten ist etwas passiert.‘ Wozu brauchen wir Reporter im Stadion, wenn sie auch nur auf ihre Monitore starren? Oder die Einwechslung von Trezeguet zur privaten Marotte machen. Ja, wir hielten zu Frankreich, doch als einer der ‚Bleus‘ beim Elfmeterschießen versagte, waren wir ehrlich froh, daß es ausgerechnet Beckmanns Liebling war.“

taz: Der Fußball an der WM 2006 war weit offensiver ausgerichtet als allgemein behauptet wird

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