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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Am Grünen Tisch

Stunde Null

Oliver Fritsch | Donnerstag, 20. Juli 2006 Kommentare deaktiviert für Stunde Null

Kein mildes Urteil, mit Ausnahme für den AC Mailand, lautet der Tenor der deutschen Presse über den Spruch im Moggi-Skandal. Die FAZ staunt über „eine Strafe, die wie das Delikt wenig Vergleichbares in der Fußballhistorie kennt“. Benedikt Voigt (Tagesspiegel) schreibt: „Berlusconi ist abgewählt, und in der italienischen Sportjustiz bricht eine neue Zeit an. Das beweist das Urteil, das für Italien ein großer Fortschritt ist. Die Sportjustiz löst sich aus der Umklammerung der Politik. Die Zurückstufung dreier renommierter Klubs in die Serie B trifft Italiens Fußball schmerzlich und wird Änderungen auslösen. Die neue Führung des italienischen Fußballverbandes muß sich überlegen, wie sie künftig mafiöse Strukturen zwischen Vereinen, Schiedsrichtern und Spielern verhindern kann. Zumal sich der italienische Fußball bei Verfehlungen nicht mehr auf eine willfährige Justiz verlassen kann.“

Die FR geht von der Stunde Null aus: „Die Voraussetzungen für einen echten Neubeginn sind günstig wie noch nie: Der WM-Sieg hat dem Land den Stolz und die Freude am Calcio zurückgegeben. Unter Berlusconi wäre dieser Prozeß undenkbar gewesen.“ Die FAZ ergänzt: „Italien braucht den Glauben an einen sauberen Fußball. Die exemplarischen Strafen werden nach dem Willen von Verbandschef Guido Rossi als notwendige Läuterung angesehen, damit die Tifosi wieder zu einem authentischen kollektiven Fußballgefühl zurückfinden. Nur so ließe sich nämlich die dramatische wirtschaftliche Krise des italienischen Fußballs überwinden. Sie sei zudem Ausdruck eines in der Berlusconi-Regierung verlorenen Gefühls für Ethik und Moral – auch im Fußball.“

Von wegen Amnestie

Birgit Schönau (SZ/Feuilleton) kommentiert die Zwangsabstiege, Punktabzüge und Sperren vor dem Hintergrund des Weltmeistertitels; schon vor dem Finale in Berlin wurde gemutmaßt, der Erfolg der italienischen Nationalelf in Deutschland und die Feierstimmung auf den Straßen würden die Richter zu Gnade verleiten: „Von wegen Amnestie. Von wegen vergeben und vergessen. Italien hat soeben vorgeführt, wie man innerhalb von einer Woche Weltmeister werden und das exzessiv feiern und anschließend den Fußball drastisch für dessen Mauscheleien strafen kann – als hätte das eine mit dem anderen nichts zu tun. Hat es ja auch nicht. Das Drama der italienischen Weltmeister aus den Reihen von Juventus Turin, dem AC Mailand und dem AC Florenz ist ja gerade, daß sie die Schiedsrichterkorruption und Bestechungen ihrer Klubmanager nicht nötig gehabt hätten. Das haben Buffon, Toni und Pirlo in Deutschland bewiesen – und deshalb war es richtig, daß das Land sie und auch sich selbst feierte. In den Volksfesten von Mailand bis Neapel lag etwas Befreiendes: Unsere Jungs sind auf dem Platz Weltmeister geworden, wir Italiener können auch ohne Tricks gewinnen.“ Voigt hingegen widerspricht: „Ganz frei von Einflüssen scheint die Sportjustiz noch nicht zu sein. Daß das Urteil milder ausfällt, als es die Anklage beantragt hatte, dürfte Italiens Begeisterung über den WM-Titel geschuldet sein.“

Nebelkerzen ohne Wirkung

Kritik, besonders in Italien, äußern Medien, Offizielle und Fans über die Milde gegenüber dem AC Mailand. Die FAZ faßt zusammen: „Bei den betroffenen Vereinsfunktionären und bei den Fans herrscht Fassungslosigkeit darüber, daß das Sportgericht offenbar mit zweierlei Maß gemessen hat. Die Urteile der Fußballjustiz haben zwar mit ungekannter Härte Juventus Turin, den AC Florenz und Lazio Rom getroffen. Doch der AC Milan kommt glimpflich davon.“ In der SZ lesen wir: „Die milde Strafe für Milan läßt die Konkurrenz schäumen und allerhand Verschwörungstheorien blühen. Tatsache ist aber, daß Silvio Berlusconi mit seiner systematischen Vermengung von Fußball, Fernsehen und Politik mit Sicherheit die politische Verantwortung für die Degenerierung der einstmals besten Liga der Welt zuzuschreiben ist.“ Daher protestiert die Financial Times gegen die Beschwerde ausgerechnet des Milan-Chefs: „Berlusconi fühlt sich verfolgt“.

Die SZ befaßt sich mit den Reaktionen und der Strategie der Angeklagten und stellt fest, daß deren Nebelkerzen nicht gewirkt hätten: „Die Klubpräsidenten ergehen sich abwechselnd in Unschuldsbeteuerungen und Richterkritik. Sie hätten keinen fairen Prozeß gehabt, schimpfen sie – dabei waren ihre Anwälte schlicht daran gehindert worden, ihre vor normalen Gerichten so oft erprobte Taktik zu spielen: 200 Zeugen aufbieten, 2.000 Ausnahmeanträge stellen und beharrlich darauf hinarbeiten, daß der Prozeß erst gar nicht stattfindet. Sich nicht gegen die Anklage, sondern gegen den Prozeß verteidigen, heißt diese Strategie. Sie wird derart konsequent angewendet, daß die italienische Justiz seit Jahren die langsamste Europas ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wird nicht müde, die italienische Regierung dafür zu rügen. Diesmal konnte die Strategie ‚Verwässern und Versanden‘ nicht verfangen.“

FAS: Chronologie einer beispiellosen Manipulationsaffäre

FR: Pressestimmen aus Italien
SZ: Internationale Pressestimmen

NZZ: Das System Moggi und das Kartell Berlusconi

Tsp: „Europas Fußball braucht neue Regeln“– Italiens Sportministerin Melandri über die Lehren aus der Affäre

Der schönste edle Wilde nach Winnetou

Zwei Autoren stellen rückblickend klar, daß in der Diskussion um Materazzi und Zidane der Täter heroisiert werde. Dirk Schümer (FAS) ärgert sich über die „Ammenmärchen, die den wilden Stier Zidane zum Opfer verklären. Der Kopframmer des Franzosen, ein paar Zentimeter tiefer gesetzt, hätte innere Verletzungen zur Folge haben können, ein paar Zentimeter höher Knochenbrüche. Doch statt über diese Gewalt auf dem Fußballplatz redet die Welt – von französischen Zeitungen bis zum algerischen Präsidenten – über die Unsportlichkeit ‚der Italiener‘; sogar für die Regelverletzungen der Regierung Berlusconi muß Materazzi geradestehen. Daß Materazzi seinen Gegner beleidigt hat, gab der hölzern wirkende Abwehrrecke gleich nach dem Spiel selber zu und entschuldigte sich – anders als Zidane, der keine Reue über seine Tat empfindet. Während der eigentliche Übeltäter sich medial zum Schützer von Witwen, Schwestern, Müttern aufschwingen konnte, mußte Materazzi bei der Fifa vorsprechen; zwei Spiele Sperre drohen ihm mindestens – für Verbalakte eine ganz neue Dimension im Fußball. Es ist ein bißchen wie bei den Mohammed-Karikaturen: Die eher harmlose diskursive Tat wirkt am Ende skandalöser als die reale Gewalt.“

Auch Schönau klagt über die Fortsetzung der Giftereien gegen Italien in der – deutschen – Zidane/Materazzi-Debatte: „Die Züge fröhlich anti-italienischer Vorurteile sind unüberhörbar: Den Weltmeistertitel haben sie nicht verdient, sie sind reine Abwehrstrategen, ihre Methoden sind link, das Auftreten aggressiv, und dann beleidigen sie noch die Ehre ihrer Gegner … Daß die Azzurri gegen Deutschland angreifend ins Endspiel kamen, daß sie – anders als die verteidigenden Franzosen, die in den letzten beiden Spielen nur zwei umstrittene Elfmeter verwandelten – regulär herausgespielte Tore fabrizierten – darüber redet angesichts eines Brutalofouls eines vermeintlich gekränkten Franzosen niemand mehr. In Deutschland wird Zidane zum Helden verklärt. Die letzte Karl-May-Generation in den Redaktionen erkürt die finale Kopfnuß zum Befreiungsakt des schönsten edlen Wilden nach Winnetou und schießt sich auf den eklen Verbalgrätscher Materazzi ein. Und als Zidane im Fernsehen klage, Materazzi habe seine Schwester beleidigt, meldete sich keiner der Integrationstheoretiker zu Wort, die sich sonst bei Christiansen über das beunruhigend archaische Frauenbild gewaltbereiter Neuköllner mit Migrationshintergrund auslassen. Zidanes Schwester ist übrigens in einem überwiegend männlichen Umfeld voll berufstätig – als Managerin des Bruders.“

Tsp: Trash Talk gehört in vielen Sportarten dazu
taz: Im niederklassigen Fußball gehören Verbalattacken offenbar zur Taktik

Jetzt ist aber Schluß!

„Arschloch, Penner, das ist normal!“ Die Sport Bild spricht mit einigen Profis und Ex-Profis aus der Bundesliga über die gängigen Beschimpfungen auf dem Spielfeld. Die bunteste Anekdote erzählt Dieter Schatzschneider, Kult-Stürmer aus den 80er Jahren: „Einmal bin ich richtig ausgerastet. Ich habe mit Schalke auswärts gespielt. Mein Gegenspieler hat mich ständig beleidigt und getreten. Als er mich mal wieder umgehauen hatte, kam der Schiedsrichter Wolf-Dieter Ahlenfelder und sagte zu mir: ‚Schatzschneider, keine Revanche!‘ Ich antwortete: ‚Chef, ein Ding mußt Du mir geben. Den haue ich einmal um, dann sind wir pari.‘ Bei der nächsten Aktion habe ich ihn an der Seite weggehauen. Ahlenfelder kam, zeigte mir die Gelbe Karte und sagte: ‚Jetzt ist aber Schluß!‘ Ich: ‚Keine Sorge, Chef, wir sind durch.‘“ Eine schöne Parabel für Fußballgerechtigkeitstheoretiker … Die Sport Bild kommt zum Schluß: „Zart besaitet darf man in diesem Geschäft nicht sein. Vor allem darf man sich nicht provozieren lassen – wie Zinédine Zidane!“

Welt-Portrait: Fernsehstar Jürgen Klopp auf Tingeltour über die Dörfer

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