indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Am Grünen Tisch

Kotau vor der französischen Fußballmajestät

Oliver Fritsch | Samstag, 22. Juli 2006 Kommentare deaktiviert für Kotau vor der französischen Fußballmajestät

Viele Meinungstexte, vier darunter im Presserückblick heute, befassen sich in dieser Woche mit den Sperren der Fifa gegen Zinedine Zidane (drei Spiele) und Marco Materazzi (zwei) und kommen zu einem Konsens, der sich in den Titeln ablesen läßt: „Kotau vor Zidane“ (FAZ), „zahmes Urteil für ein Fußballidol im Ruhestand“ (Welt). Als Ursache für die Milde für Zidane gerät nochmals die internationale Debatte in den Blick, die dem Prozeß vorausging und in der dem „Widder“ Zidane viel Verständnis und Rechtfertigung zugesprochen worden ist. Dem Trashtalker Materazzi hingegen hat man zugerufen: „Du hast es nicht anders verdient“!

Gerd Schneider (FAZ) haut auf den Tisch: „Es ist zum Lachen. Drei Spiele Sperre für Zidane, zwei für den Provokateur Materazzi, das stellt die Verhältnisse auf den Kopf.“ Schneider stört sich erstens an der Gleichsetzung der beiden Vergehen: „Das Fifa-Sportgericht sah beide Verhaltensweisen nahezu gleich verwerflich an: die Provokation und die Tat. Für Zidane kommt das Urteil, auch im moralischen Sinn, einem Freispruch gleich: Wohl noch nie wurde ein Nationalspieler für einen derart rohen Angriff so milde bestraft.“ Zweitens stimmt Schneider den Kommentaren der letzten Tage zu, die Teilen der internationalen Fußballöffentlichkeit vorhalten, das Täter/Oper-Verhältnis auf den Kopf zu stellen (siehe indirekter-freistoss vom 20. Juli): „Die Sportrichter folgten der Debatte, die Zidane zunehmend einen Heiligenschein verpaßte und statt dessen Materazzi an den Pranger stellte. Selbsternannte Fußballintellektuelle wollten in dem Kopfstoß gar eine große Geste erkannt haben. Wer solche Ansichten vertritt, hat keine Ahnung, was sich beim Fußball – und nicht nur da – in Wirklichkeit abspielt.“

Blutrachekodex archaischer Gesellschaften

Drittens verweist Schneider auf das Gewohnheitsrecht auf dem Spielfeld und warnt vor den Folgen, nun Rechtssicherheit zu gewähren: „Man muß die Beschimpfungskultur auf dem Spielfeld nicht gut finden. Aber wenn die Fifa ernsthaft dagegen vorgehen wollte, dann müßte sie es systematisch tun, und vermutlich hätte sie es längst getan. Doch in Wahrheit werden die verbalen Scharmützel unter den Spielern seit jeher schweigend geduldet.“

Auch Wolfgang Hettfleisch (FR) schüttelt den Kopf über den Schutz, den viele Auguren und Fans Zidane bieten wollen: „Wer in der Sportredaktion einer Zeitung arbeitet, bekam bei der Lektüre der vielen, vielen Leserbriefe zum Thema eine Ahnung davon, daß die Unversöhnlichkeit des begnadeten Ballkünstlers auch mit dessen Status als Halbgott zu tun haben könnte. Da wird ein Kurzschluß, für den jeder Kreisligaspieler von seinen Kollegen ordentlich was zu hören kriegte, umstandslos zum heroischen Akt umgedeutet.“ Matti Lieske (BLZ) fügt an: „Manche Zidane-Fans verteidigten das Recht des Franzosen, auch mit Gewalt ‚die Ehre der Familie‘ zu schützen, so vehement, daß es schon an den Blutrachekodex archaischer Gesellschaften gemahnte.“

Lieskes Auffassung zufolge sei das Urteil von der Stimmung beeinflußt worden: „Was die Popularität angeht, war es ein ungleicher Kampf. Auf der einen Seite ein berühmter Fußballkünstler, der zwar für gelegentliche Ausraster bekannt war, weit mehr aber für seine unvergleichliche Eleganz auf dem Spielfeld. Auf der anderen Seite der üble Treter und berüchtigte Raufbold. Er hoffe, daß der Vorfall beurteilt werde, und nicht die Reputation der Spieler, hatte Materazzis Agent vorher gesagt. Das trat nur bedingt ein.“

Die Fifa stellt sich bloß

Ein Etikett, das dem „selbsternannten Fußballintellektuellen“ Schneiders verwandt ist – nämlich der „Feuilletonist“ –, finden wir bei Hettfleisch, der sich zudem über Voreingenommenheit gegenüber Italienern ärgert: „So mancher von allen guten Geistern verlassene Feuilletonist wollte uns glauben machen, Zidanes Stierkampf-Nummer sei ein grandioser finaler Akt der Selbstbestimmung oder sonst irgendein Schmonzes. Für alles Schlechte ist nach bevorzugter Lesart Materazzi, sind in Sippenhaft gleich noch alle Italiener verantwortlich, bei denen es sich offenbar um ein Volk von heimtückischen Provokateuren und Simulanten handelt.“ Dahingegen nimmt Hettfleisch Materazzi aus der Schußlinie: „Wer je Vereinsfußball gespielt hat, weiß, daß derlei derbe Sprüche gang und gebe sind. Da ist nichts zu beschönigen, aber auch nichts zu dramatisieren.“

Bemerkenswert: Den Spruch der Fifa nimmt Schneider zum Anlaß, auf die fragwürdige Sperre gegen Torsten Frings (siehe indirekter-freistoss vom 9. Juli) zu blicken: „Damit stellt sich dieselbe Instanz, die Frings wegen einer Lappalie um das Halbfinale gebracht hat, vollends bloß. Ihr Urteil ist ein Kotau vor der französischen Fußball-Majestät.“ Die Welt kommt aber zu einem versöhnlichen Schluß: „Die Fans werden Zidane dennoch vermissen. Genies steht man gemeinhin einen Hang zum Extremen zu.“ Dem will sich auch Schneider nicht entziehen: „Zidanes letzte Tat war kein Skandal“, schreibt er, „das Urteil der Fifa sehr wohl.“ In einigen deutschen Zeitungen ist der Einwurf der L‘ Equipe zitiert, der sich auf italienische Medien bezieht: „Man darf auch nicht so tun, als habe man vergessen, was die italienische Presse enthüllt hat: daß Zidane im Halbfinale den Schiedsrichter einen Hurensohn genannt hat.“ Italiens Journalisten scheint die Wahrung der hohen Moral auf dem Fußballfeld ja besonders am Herzen zu liegen …

NZZ: Viel Lärm um wenig – Pro-forma-Strafen im Fall Zidane
Tsp: Italien beschwert sich über Fifa-Urteil
NZZ-Portrait Zidane: Hamlet oder James Dean, ein Rebell ohne Grund?
faz.net: Internationales Presseecho: „Mit anderen Nachnamen hätten wir wahrscheinlich ein anderes Urteil gehabt“

Welt-Interview mit dem Ex-Nationaltorhüter Walter Zenga über den Skandal und die Strafen: „Der italienische Fußball muß gesäubert werden“

BLZ: Ein Kommentar für die Einführung des Profi-Schiedsrichters in Deutschland

SZ: Nicht ohne seinen Partner – Gerhard Delling plant seine Zukunft, auch mit Günter Netzer

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