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Ist es nicht edler, mit fliegenden Fahnen unterzugehen?

Oliver Fritsch | Dienstag, 29. August 2006 Kommentare deaktiviert für Ist es nicht edler, mit fliegenden Fahnen unterzugehen?

Real Madrid nah dem Relaunch – die deutsche Presse zweifelt, ob Trainer Capellos Ergebnisfußball das Publikum beglücken wird

Mit großer Spannung und wachen Augen verfolgen die deutschen Zeitungen die Entwicklung bei Real Madrid. Das Modell des Ex-Präsidenten Florentino Pérez, die prominentesten Fußballer der Welt zu versammeln, galt seit längerer Zeit als gescheitert, auch Korrekturen in Details konnten es nicht mehr retten; der vermehrte, aber oft lustlose Kauf von Verteidigern hat die Defensive nicht wesentlich verstärkt. Nun hat Real, das fassungslos die Triumphe und die Schönheit des Rivalen Barcelona betrachten muß, einen Relaunch vorgenommen: ein neuer Präsident (Ramón Calderón), ein neuer, zurückkehrender Trainer (Fabio Capello), ein paar neue Spielern (etwa Fabio Cannavaro und Emerson) und eine neue Spielauffassung, nämlich der Vorrang des Ergebnisses. Die Experten jedoch zweifeln, ob diese „italienische“ Strategie, die vor allem der Trainer vorgibt, vom Madrider Publikum für gut befunden wird.

Paul Ingendaay (FAS) erörtert Chancen und Risiken, die sich mit Capello öffnen und ergeben. Einerseits erwartet er vom steigenden Einfluß des Trainers Erfolg: „Endlich hat die Klubführung beschlossen, einen Erfolgstrainer mit durchdachtem Konzept arbeiten zu lassen und ihm die Spieler zu geben, die er will. Nach dem unverständlichen Rauswurf des erfolgreichen Vicente del Bosque vor drei Jahren durften bei Real Madrid nicht weniger als fünf Trainer ihr Glück versuchen, darunter graue B-Leute wie Garcia Ramon und Lopez Caro, die man in keinem Spitzenklub der Welt ans Ruder gelassen hätte. Doch selbst renommiertere Trainer wie Vanderlei Luxemburgo kamen am Willen des selbstherrlichen Präsidenten nicht vorbei. Florentino Perez hatte dekretiert: Beckham spielt, weil er die meisten Hemden verkauft. Wer die Beckham-Flanken verwerten sollte, darum kümmerte sich Perez nicht. Nicht nur der Fetischcharakter der ‚Galaktischen‘, auch das amateurhafte Hineinregieren in die Mannschaftsstruktur führte zu gigantischen Verlusten, weil beharrlich die falschen Spieler gekauft wurden. Soviel zumindest hat sich geändert: Real Madrid wird die Handschrift des Trainers, nicht des Präsidenten tragen.“ Auch Georg Bucher (NZZ) führt Reals Not der vergangenen Jahre auf die Übermacht des (damaligen) Präsidenten zurück: „Perez‘ Manie, jedes Jahr einen sündhaft teuren Angreifer beizuziehen und weniger exponierte Positionen auf die Schnelle verpflichteten Mitläufern anzuvertrauen, liegt der Misere zugrunde. In sechs Jahren verschlissene sechs Trainer deuten auf Instabilität und Hilflosigkeit hin. Nach der entlassenen Vaterfigur del Bosque wurden die Ausbildner mehr oder weniger zu Spielbällen in Händen von Kader-Cliquen degradiert.“

Die Krone durch einen Bauhelm ersetzen

Andererseits verweist Ingendaay auf die kräftige Madrider Tradition des Angriffsfußballs, die Capellos Plan durchkreuzen könnte, obwohl er 1997 mit Real den Meistertitel errungen hat: „Er soll in kürzester Frist Triumphe erringen. Gerade weil die Zeit drängt, hat die Vereinsführung ja nach dem Schlaufuchs und Ergebnisfeilscher Capello gegriffen. Daß dafür die Mentalität einer Mannschaft, die seit Jahrzehnten einen Fußball des Überschwangs spielt, umgekrempelt werden muß, könnte sich rächen. Spekulieren, taktieren, sich mit einem 1:0 zufriedengeben, wo es auch 4:2 heißen könnte, das ist in Spanien nur Sache des FC Valencia, wo die italienische Defensivschule schon seit langem zu Hause ist. In Madrid dagegen will man Angriffsfanfaren schmettern hören.“ Auch Ralf Itzel (taz) fragt sich, ob Capello einen Kulturschock verursache: „Weil die Elf zuletzt in Schönheit starb und drei Jahre keinen Titel holte, ist nun Schluß mit lustig. Statt mit einem aufstrebenden Trainer (beispielsweise Bernd Schuster) eine frische Angriffsphilosophie zu entwickeln wie der FC Barcelona mit Frank Rijkaard, soll der erprobte Ordnungshüter Capello umgehenden Erfolg garantieren. ‚Fußball ist Siegen‘, hat der bärbeißige Italiener einmal gesagt und jegliche Ästhetikdebatte als überflüssig abgetan. Kurios, daß er mit dieser Einstellung bei Real Madrid gelandet ist, dem selbsternannten Bewahrer der Schönheitsideale dieser Sportart.“

Nun hat Real im ersten Spiel der neuen Saison gegen Villareal in der Tat 0:0 gespielt, der Bastard der Ergebnisse. Itzel notiert den Unmut der pfeifenden Fans: „Viele grübelten über die Frage, ob es nicht edler wäre, wie zuletzt mit fliegenden Fahnen unterzugehen, als auf diese Art einen Punkt zu ermauern? Gut, die Anarchie ist zu Ende, aber ist Langeweile die bessere Option? Wenn es dieser Verwalterfußball ist, der die gesamte Saison droht, dann dürften sich zahlreiche Anhänger bald Pérez zurückwünschen, dessen Starsystem im Scheitern zumindest Interessantes bot. (…) Spötter schlugen am späten Sonntag vor, die Krone im Wappen Real Madrids durch einen Bauhelm zu ersetzen.“

Kuriosum am Rande: Dem FAS-Text entnimmt man, daß Capello immer einen Euro mehr verdiene als der bestverdienende Spieler.

FR: Über Ballacks Chelsea-Debüt
NZZ: In England nehmen die Ellbogen-Checks zu

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