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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Champions League

Klassischer italienischer Fußball

Oliver Fritsch | Freitag, 25. Mai 2007 Kommentare deaktiviert für Klassischer italienischer Fußball

Pressestimmen aus Deutschland und England zum Champions-League-Finale zwischen dem AC Mailand und dem FC Liverpool (2:1): Enttäuschung über das Spiel / Zaghafte sportrechtliche Bedenken gegen die Mailands Teilnahme / Wenig Sympathie für den Torschützen Filippo Inzaghi / Kritik an Liverpools Trainer Rafael Benitez

Christian Zaschke (SZ) bringt rechtliche Bedenken gegen den Champions-League-Sieger AC Mailand, Günstling italienischer Sportjustiz, ins Spiel: „Einerseits: Der Klub stellte die beste Mannschaft der Champions-League-Saison, die bisweilen berauschenden Fußball spielte, technisch, taktisch, kämpferisch nahezu perfekt. Andererseits: Was hatte diese Mannschaft in der Champions League zu suchen? (…) Ist diese Mannschaft ein würdiger Sieger? Wer an den Zauberer Kaká denkt, sagt ja; wer an den Strippenzieher Berlusconi denkt, sagt nein. Am AC Mailand zeigt sich beispielhaft, daß es nicht mehr möglich ist, den Sport isoliert von den ihn umgebenden (und treibenden) Kräften zu betrachten.“ Michael Horeni (FAZ) zieht eine Kopie vom letzten Sommer: „Die Rolle des von Skandalen unterschätzten Außenseiters, die Italien schon den WM-Titel einbrachte, haben Maldini, Nesta, Gattuso und Co. daraufhin noch einmal mit ganzem Herzen ausgelebt.“

Christoph Biermann (Spiegel Online) vermißt Esprit und Witz: „Der AC Mailand siegte in einem richtig schlechten Endspiel trotz schwacher Leistung, die mit dem Glanz der Partien gegen Manchester United und dem FC Bayern nichts zu tun hatte. Der FC Liverpool saugte wieder einmal alle Energie aus dem Spiel des Gegners, dem zudem kaum übersehbar der Glaube daran schwer fiel, die Revanche für die Niederlage im Finale vor zwei Jahren wirklich zu schaffen. Damals hatte Milan eine 3:0-Führung noch verspielt, und die meisten Spieler wirkten so, als würde sie das Trauma noch einmal erfassen. Im Mittelfeld dominierten die Mailänder das Spiel nie, weil Pirlo, Gattuso, Ambrosini und Seedorf einen kollektiven Formsturz erlebten, die eigentlich doch so routinierte Abwehr um Maldini und Nesta war nicht minder unsicher und verlor reihenweise Bälle bereits im Spielaufbau. Doch der FC Liverpool vermag vielleicht das Schwarze Loch der Champions League zu sein, das alle Energie seiner Gegner verschluckt. Ist die Mannschaft jedoch selber dazu genötigt, auf dem Rasen gestalten zu müssen statt zerstören zu dürfen, wirkt sie plötzlich nur noch durchschnittlich. 44 Minuten gelang Liverpool, Milan richtig schlecht spielen zu lassen, dann gingen die Italiener in Führung. Anschließend offenbarte Liverpool einen so elementaren Mangel an Kreativität, daß man sich fragte, wie sie überhaupt so weit gekommen waren. (…) Auf jeden Fall gewann, nimmt man die letzten Spiele der Champions League zusammen, die richtige Mannschaft.“

Flurin Clalüna (NZZ) stimmt ein: „Es war eine Ideologie-Kontroverse, ja beinahe ein Glaubenskrieg um die Schönheit des Fußballs, der Liverpool und Milan trennte – Konterfußball gegen Kurzpaß, Kontrollbedürfnis gegen künstlerische Freiheit. Die Kluft bestand in der Theorie. Doch endete der ‚Showdown‘ mit einer ketzerischen Feststellung: Anders als vor zwei Jahren waren die Systeme diesmal nicht kompatibel, sie sorgten nicht für Unterhaltung, sondern wurden von Milans Pragmatismus erstickt. Liverpool war in einem insgesamt enttäuschenden Spiel eigentlich die etwas bessere Mannschaft. Am Ende blieb ein rechthaberisches 2:1, ein Sieg ohne Glanz. Aber die AC Milan bewies, daß sie eben doch kann, was die Fußballwelt von ihr erwartet: minimalistisch einen Vorsprung einheimsen, sich dann zurückziehen und Zeit verstreichen lassen. Für den Sieg genügte klassischer italienischer Fußball, fast ohne jede Inspiration, ganz anders als im Halbfinal-Vergleich gegen Manchester United.“

Volk ohne Raumdeckung hat ein Auge für Feinheiten: „War es ein großes Spiel? Ich meine, das CL-Finale ist immer ein großes Spiel, ein must-see, eine Standortbestimmung des europäischen Fußballs. Zwei unspektakuläre Kleinigkeiten entschieden das Spiel: ein verlorener Zweikampf in der ersten Hälfte, als ein weißer Rossoneri einem roten Liverpooler den Ball in der eigenen Hälfte wegstibitzte. Zwei Pässe später dann das Foul und der Freistoß zum 1:0. Das Foul kann man geben, muß man nicht. Wenn man sieht, was Fandel vor allem in Hälfte Zwei alles hat laufen lassen, eine viel zu harte Entscheidung. Sonst war der Mann aus Kyllburg, das übrigens im Eifelkreis Bitburg-Prüm liegt, ein sehr guter Schiri. Die zweite entscheidende Szene: der Paß zu Kaka in der zweiten Halbzeit. Nein, nicht der von Kaka zu Inzaghi. Auf den immer am Abseits vor sich hinhechelnden Super-Pippo durchzustecken ist eigentlich gar nicht so schwer, der Paß zu Kaka genau vorher. Ein Zwilling des Passes von Andrea Pirlo vor dem 1:0 gegen Deutschland im Halbfinale, wir erinnern uns. Alles scheint gedeckt, es scheint keine Gefahr zu drohen. Und plötzlich, mit einer minimalistischen Geste wird die Achse des Spiels ausgehebelt, wird Kaka ins Spiel gebracht und das Loch in der Abwehr wird zum Schlund, zum Abgrund, zum verdienten 2:0.“

Gesetzesdehner, Groß-Opportunist, Abstauber

Raphael Honigstein (FR) lenkt das Licht auf den Schützen zweier Tore: „Die Erkenntnis ist nicht neu, doch das an Höhepunkten arme Match machte es noch einmal deutlich: Je ausgefeilter die Konzepte werden, desto größer ist der Bedarf an Spielern, die diese überwinden. Inzaghi überwand Gegner und taktische Zwänge und holte so Milans siebten Europapokal. Ein 33-Jähriger gegen die Maschine: eine äußerst romantische und im speziellen Fall von Pippo, dem zynischsten Spieler aller Zeiten, ziemlich absurde Vorstellung.“ Thomas Kilchenstein (FR) knirscht mit den Zähnen: „Pippo I. hat bei seinen popeligen 18 Ballberührungen zwei Tore geschossen und ein Champions-League-Finale ganz alleine entschieden. Das schafft nur der Pippo. Ein Spieler, den keiner mag (außer den Mitspielern). Weil er provoziert, weil er schauspielert, weil er sich ständig fallen läßt, ohne berührt worden zu sein, weil er link ist, weil er stets den eigenen Vorteil sucht. Aber er ist ein Meister der Effizienz.“

Birgit Schönau (SZ) hingegen wirbt für ihn: „Über ihn sagte einst Sir Alex Ferguson, er sei in der Abseitsposition auf die Welt gekommen. Das war vielleicht als Kompliment gemeint. Filippo Inzaghi hat die unsichtbare Abseitslinie verinnerlicht wie kein anderer Fußballer. Er spielt mit ihr, er weiß sie auf den Zentimeter genau einzuschätzen und auszuloten. Die Abseitsregel, das vielleicht wichtigste Dogma der Ersatzreligion Fußball, vermag dieser Filippo Inzaghi aber auch zu dehnen wie einen Gummiparagraphen. Inzaghi, der Gesetzesdehner, der Groß-Opportunist, der Abstauber. Dieses Match konnte Milan nur mit ihm gewinnen. (…) Inzaghi wird im Ausland gefürchtet, vor allem aber verachtet. Im Abseits geboren. Schwalbenkönig. Wie kein anderer verkörpert Inzaghi jene Italien-Klischees, die im Fußball noch gehegt werden.“

Dem Untergang geweiht

Volk ohne Raumdeckung wagt eine Sympathiebekundung: „Die Mutter aller Schwalben, Inzaghi, war diesmal Spieler des Spiels. Ich mag ihn, obwohl er so eine unglaubliche Nervensäge ist. Sein großer Auftritt mit Ball-ins-Gemächt war ebenso unsterblich wie seine beiden Tore. Vor allem das erste: ein Jab wie von Muhammad Ali, kaum zu sehen mit dem bloßen Auge. Wehleidig, theatralisch, eiskalt, taktisch ausgebufft besitzt er alle Fähigkeiten, die den italienischen Fußball zu dem machen, was er ist. Der andere Man of the Match war Steven Gerrard. Kriegt in der zweiten Halbzeit einen Ball an den Arm geschossen und anstatt sich durchzumogeln bricht er ab, weil er weiß, daß es Handspiel war. What a great guy. Wäre die englische Nati – um das mal europäisch zu formulieren – nicht so hochgradig neurotisch, Gerrard könnte der Spieler der EM 2008 werden.“

Richard Whitehead (Times) ordnet das Geschehene pophistorisch ein und stellt sich die Frage: Wäre das gestrige Finale eine Beatles-Album gewesen, welches wäre es? “Das Finale in Istanbul vor zwei Jahren entsprach ganz klar ‚Revolver‘: einem außergewöhnlichen Höhepunkt, der wohl nie mehr zu erreichen sein wird. Das Beatles-Album, das der Anti-Klimax von Athen 2007 am meisten entsprach ist ‚Let it Be‘, das bereits dem Untergang geweihte, vorletzte Album der Band. Genau wie auf ‚Let it be‘ gab es in dem Match Momente reiner Liverpooler Brillanz – den Titelsong, ‚The long and winding road‘, ‚Get Back‘, sogar das etwas gezwungen klingende ‚Two of Us‘. Aber letztlich, vor allem nach Inzaghis Tor, mußte man doch eher an fürchterliche Songs wie ‚Dig a Pony‘, ‚Maggie Mae‘ und ‚One after 909′ denken. (…) Völlig untypisch für John Lennon – ein Mann, der dem Fußball nicht viel abgewinnen konnte – erwähnt er in einem der Songs auf dem Album sogar einen berühmten Fußballer: Matt Busby, den ersten Trainer, der es schaffte, den Europapokal nach England zu holen. Der berühmteste Sohn Liverpools feiert also einen Trainer von Manchester United – die Sechziger müssen noch um einiges verrückter gewesen sein als wir dachten.”

Verrückte Entscheidung Benitez‘

Für Sam Wallace (Independent) war es die Umkehrung des Finales von 2005: “Die bessere Mannschaft hat wieder verloren, nur diesmal war es Liverpool: In Istanbul vor zwei Jahren wollte sich Rafael Benitez’ Team einfach nicht damit abfinden, verloren zu haben; am Mittwoch schienen sie nie daran zu glauben, gewinnen zu können. In Liverpool hält man sich gerne für eine Mannschaft, die Geschichte schreibt. Doch die Geschichte zog nun einfach so an ihnen vorbei. Carlo Ancelottis Mannschaft hat ohne Zweifel die meiste Klasse in Europa, aber so schlecht wie gegen Liverpool sieht man sie selten. Benitez’ Männer sind meisterhaft darin, den Gegner einzuengen, ihn zu stören. Doch als sie sie dazu aufgefordert waren, Milan zu überrumpeln, bekamen sie nichts zustande. Für Milan war es die perfekte Revanche: Nach dem Finale von Istanbul, das sie nie hätten verlieren dürfen, gab es gestern das Finale von Athen, das sie eigentlich nicht hätten gewinnen dürfen.”

Für Tony Cascarino (Times) mangelte es Liverpool an Fortune, Mut und dem „Laternenpfahl“ Crouch: “Rafael Benitez machte in der ersten Halbzeit all das richtig, was er vor zwei Jahren falsch gemacht hat. Der AC Milan wurde ausgetrickst, ganz einfach. Die Tatsache, daß die Italiener gestern so viel schlechter waren als vor zwei Jahren und Liverpool so viel besser, hat etwas ironisches an sich. Das Glück kann ein unheimlich wichtiger Faktor sein, es gibt allerdings verschiedene Arten von Glück: Es gibt das einfache, zufällige, unverdiente Glück, so wie bei Milans erstem Tor. Man kann sich sein Glück aber auch erarbeiten, und genau daran ist Liverpool gescheitert. Man hatte einfach nicht genug Leute im gegnerischen Strafraum, um aus der eigenen Dominanz Kapital zu schlagen und vielleicht einen Abpraller zu erwischen, einen Zufallsball. Der Grund dafür ist, daß Benitez Peter Crouch zunächst draußen ließ, anstatt mit Gerrard, Kuyt und Crouch aufzulaufen. Milan war schlagbar.”

Auch Henry Winter (Daily Telegraph) ist nicht ganz glücklich mit einigen Entscheidungen Benitez’: “Bei der Post-Mortem-Untersuchung wird Benitez seine Mitschuld eingestehen müssen: Tod durch mangelnde Abenteurlust. Man lag 1:0 hinten, und alles schrie nach einem weiteren Stürmer, aber Benitez wartete bis zwölf Minuten vor Schluß, um Crouch einzuwechseln. Verrückt. Als Inzaghi den zweiten Ball einschob, brachte Benitez mit Arbeloa einen Innenverteidiger. Liverpool brauchte einen Adrenalinschub, ein bißchen was von Craig Bellamys ‘death or glory’-Attitüde. Was bekamen sie stattdessen? Einen soliden Verteidiger.”

Die Tore

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