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Champions League

Hinreißendes Duell um die europäische Fußballkrone

Oliver Fritsch | Freitag, 23. Mai 2008 Kommentare deaktiviert für Hinreißendes Duell um die europäische Fußballkrone

Die Chronisten sind sich sicher, ein großes Finale zwischen Manchester United und dem FC Chelsea erlebt zu haben / Großes Lob für Michael Ballack / Großes Gefühlstheater / Engländer freunden sich mit dem Elfmeterschießen an / Chelsea hat ein Trainer gefehlt

Peter Heß (FAZ) ist vordergründig begeistert, gibt aber zu bedenken: „Manchester und Chelsea haben sich ein hinreißendes Duell um die europäische Fußballkrone geliefert. Das Finale bot alle Qualitäten des Spiels in einer Ausprägung, die sich der englische Fan nur wünschen und der deutsche nur erträumen kann: Dramatik, Akrobatik, Dynamik, Tempo, Kampf, Emotionen. Was sich im Luschniki-Park abspielte, wird in einer Bundesliga-Begegnung nie zu bewundern sein. Und ob Bayern München, das Symbol deutscher Extraklasse, jemals in der Lage sein wird, höchstes europäisches Niveau zu erreichen, ist auch fraglich. Falls die Münchner nicht mehr aufschließen könnten, wäre das auch nicht so schlimm. Chelsea und Manchester haben den Qualitätsvorsprung teuer, zu teuer erkauft. 1,5 Milliarden Pfund Schulden häuften die beiden Klubs. (…) Dann doch lieber etwas schlechter Fußball spielen.“

Allzu großen deutschen und bayerischen Hoffnungen erteilt er eine Absage: „So gut kann Jürgen Klinsmanns Training gar nicht sein, um aus einem Klose einen Drogba, aus einem Schweinsteiger einen Cristiano Ronaldo, aus einem Altintop einen Rooney oder aus einem Lucio einen Terry zu machen.“

Die Leistung Michael Ballacks würdigt Heß in den höchsten Tönen: „Ballack wurde von Ende der ersten Halbzeit an zum dominierenden Ordnungsfaktor im Mittelfeld. Mit 31 Jahren legte Ballack zwar nicht den Makel ab, noch nie ein großes Finale gewonnen zu haben. Aber er bewies den letzten Zweiflern in Deutschland, sich auf höchstem Niveau durchsetzen zu können. Drogba fügte sich, als er einen Freistoß schießen wollte, die Mitspieler suchten ihn, sobald sie nicht mehr wussten, wohin mit dem Ball. Joachim Löw darf sich auf den besten Ballack freuen, den es vermutlich je gab. In England hat er an Physis zugelegt und ist sogar ein wenig dynamischer geworden.“

Großes Gefühlstheater

Raphael Honigstein (SZ) stimmt ein und wendet sich dem Elfmeterschießen zu: „Ballack hat in seinem zweiten Champions League-Finale beinahe das Spiel seines Lebens gemacht. Er hat Chelsea zu einem exzellenten Finale getrieben, seine schiere Kraft schien dem Spiel in der zweiten Hälfte eine Entscheidung aufzuzwingen. Das Spiel aber wollte nicht. Es schickte lieber böswillig John Terry als fünften Schützen zum Elfmeterpunkt. Cristiano Ronaldo war zuvor mit nicht ganz untypischer Gockelhaftigkeit an Petr Cech gescheitert, Kapitän Terry musste nur noch verwandeln, um den Pokal in den Händen zu halten. Die Rolle des Schurken musste aber ein anderer besetzen: Didier Drogba. Der Ivorer hatte sich von seinem Bewacher Nemanja Vidic zu einer kleinen Backpfeife hinreißen lassen und war dafür wenige Minuten vor Abpfiff vom Platz geflogen. Er war als fünfter Schütze vorgesehen gewesen. Terry war nur der Lückenbüßer.“

Christian Eichler (FAZ) belächelt und bestaunt Ronaldo: „Der aktuell beste Spieler der Welt hatte mit dem Kopfball zum 1:0, mit seinen gefährlichen Spurts und Dribblings alle Kritiker widerlegt, die ihm vorgeworfen hatten, in großen Spielen zu versagen. Bis zum Elfmeterschießen jedenfalls. Dann versuchte er in all seiner expressiven Selbstsicherheit, Peter Cech, den neben Buffon besten Torwart der Welt, mit einer billigen Start-Stopp-Strategie im Anlauf zu verladen. Es ging schief, und Ronaldo durfte sich nun minutenlang auf die versammelte Häme der Fußballwelt vorbereiten, die einen, der nicht nur der Beste ist, sondern zeigt, dass er es auch weiß, nur allzu gern vom Sockel holt. Dann aber rutschte, beim Matchball, John Terry mit dem Standbein weg, so wurde es für ihn der schlimmste Tag. Am Abend eines großen Finals hat fast jeder seine eigene, erzählenswerte Geschichte – die dann im großen Gefühlstheater von Klub und Kollektiv, Medienrummel und Massenspektakel aber oft untergeht. Geschichten wie die von Edwin van der Sar, der schon vor dreizehn Jahren mit Ajax Amsterdam den Titel gewonnen hatte – der letzte Sieger vor dem epochalen Einschnitt des Bosman-Urteils, das die Champions League von einem Fußball- zu einem Finanzwettbewerb, vom Talentvergleich unter Klubs zum Budgetvergleich von Großunternehmen gemacht hat.“

Anelka stürzt Chelsea samt Tresor ins Tal

In der Neuen Zürcher Zeitung liest man: „Romantik und, sagen wir, Raffgier kamen sich in Moskau ganz, ganz nahe, vereinigt in Pech und Frust. Chelsea verlor im Penaltyschießen, zwei Londoner Spieler verschossen, John Terry und Nicolas Anelka. Terry, der Captain, seit Menschengedenken im Klub, war zum zehnten Schuss angetreten, hätte die Entscheidung herbeiführen können, die Bleistifte waren gespitzt für romantische Lobeshymnen auf eine treue Seele – doch Terry rutschte aus, verschoss. Die Spannung blieb aufrecht, bis ein paar Minuten und drei Schützen später der Druck auf Anelka lastete. Er musste treffen, um die Niederlage abzuwenden, Anelka, der präzise Gegenentwurf zur treuen Seele, seit 1999 in acht Vereinen unter Vertrag. Anelka schoss so, wie sein Ruf ist – eher schlecht. Der französische Raffzahn, der dort unterschreibt, wo der Tresor gerade sehr voll ist, stürzte ins Tal der Tränen, und Chelsea samt Tresor riss er mit sich.“

Paul Doyle (Guardian) entdeckt die schönen Seiten am Elfmeterschießen: „Kritiker beanstanden, dass Elfmeterschießen in einem Mannschaftsspiel wie Fußball zu viel Wert auf den Einzelnen lege. Doch es ist die perfekte Lösung unter folgenden Bedingung: Wenn zwei Teams gleichgut anmuten, wird es Zeit, ihre Einzelteile zu untersuchen. Neue Handlungsstränge werden so erzeugt: Der Druck auf Juliano Belletti muss unglaublich groß gewesen sein, da er erst fünf Sekunden auf dem Platz gestanden hatte, bevor er zum Elfmeterpunkt schritt. Er wuchs mit der Aufgabe. Cristiano Ronaldo, der formstärkste Spieler des Planeten, nicht (aber sein ganzer Auftritt und sein exzellentes Tor machen es einem unmöglich, die Verunglimpfung zu wiederholen, er sei in wichtigen Spielen eine Flasche). Terrys Ausrutscher war tragisch – oder komisch, je nach Perspektive. Und was ist mit Anelka? In Anbetracht des großartigen Finals ist es vielleicht am besten zu sagen: Edwin van der Sar hielt heldenhaft.“

Tja, was sagt man dazu? Es müssen schon zwei englische Klubs beteiligt sein (es also einen englischen Sieger geben), damit sich der Engländer an einem Elfmeterschießen erwärmen kann.

Ein Trainer hat Chelsea gefehlt

Über die beiden Trainer schreibt Honigstein: „Alex Ferguson ist jetzt endgültig als große Trainerlegende etabliert, Avram Grant muss dagegen als titelloser Unglücksrabe zum Rapport bei Abramowitsch. Alles wegen Terrys Standbein, das wegrutsche. So schön und so schrecklich ist er, der Fußball.“ Heß bezweifelt den Anteil des Chelsea-Trainers am Erfolg: „Dass Grant weitermachen darf, gilt als ausgeschlossen. Der Israeli wirkte während des Finales wie ein Gast bei seiner Mannschaft. Im letzten halben Jahr soll ein Spielerrat die Richtung vorgegeben haben, nicht mehr der Trainer. Seitdem war eine deutliche Steigerung zu spüren. Aber all das Geld, das Abramowitsch in die Spieler investierte, führte nicht zum ersehnten Erfolg. Ein Extra hatte gefehlt, ein Trainer, der eine Mannschaft gebildet hätte, die mehr Leistung als ihre Einzelteile produziert.“

Im Fiver lesen wir: „John Terry slipped rather than bottled his penalty, which is a hell of a lot better than his usual trick of slipping on his own urine in trendy London nightclubs.” Dort erfahren wir auch, was Terry vor dem Spiel über den neu verlegten Moskauer Rasen gesagt haben soll: „The pitch is the same for both sides and if we get the footwear right we will be fine. We are not worrying about that at all.”

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