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Ball und Buchstabe

Wünsche, Leidenschaften, Projektionen

Oliver Fritsch | Mittwoch, 25. Juni 2008 Kommentare deaktiviert für Wünsche, Leidenschaften, Projektionen

Heute geht es um mehr als den Einzug ins Finale. Das Spiel zwischen der Türkei und Deutschland ist ein „Halbfinale mit Integrationshintergrund“ (FAZ). Das Verhältnis zwischen Deutschen und Türken in Deutschland wird von den Journalisten, nicht nur im Sportteil, unter die Lupe genommen und steht auf dem Prüfstand

Matthias Drobinski (SZ) bemalt behände die Projektionsfläche Fußball: „Fußball ist das ‚Tor zur Welt’, sagt der Philosoph Klaus Theweleit – das Spiel ist Realitätsmodell und Abbild der Wirklichkeit. 90, 120 Minuten, vielleicht noch länger werden Millionen Deutsche, Deutschtürken und Türken in Deutschland ihr Leben, ihre Träume und Sehnsüchte in einem Spiel wiederfinden. Das gilt für die Deutschen, die nicht mehr die Rumpelfußballer der Welt sein wollen und darauf hoffen, dass die Nationalmannschaft ihre Sehnsucht nach Leidenschaft und Eleganz erfüllt. Das gilt noch mehr für die Türken im Land, für die Triumph und Leid ihres Teams ein Bild der eigenen Lage ist: Da ist eine Mannschaft ganz unten, trotzdem erkämpft sie sich immer wieder den Sieg in letzter Minute, steckt alle Verletzungen weg, widerlegt alle Experten, die den Türken nicht mehr zugetraut haben, als ebenso leichtfüßig wie leichtfertig unterzugehen. Es ist der Triumph der Gedemütigten, derer, die kaum jemand ernstgenommen hat. Fußball ist aber noch mehr als ein Spiegelbild der Realität. Fußball ist offen – die Leute gehen ins Stadion, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht, hat schon Sepp Herberger gesagt. Diese Offenheit unterscheidet das Spiel von der Wirklichkeit. Im richtigen Leben fällt es vielen Türken in Deutschland schwer, den gleichen Bildungsgrad, den gleichen Lebensstandard und die gleiche Anerkennung zu bekommen wie die Deutschen – schon bei Geburt liegen sie quasi mit 0:1 zurück, müssen immer ein bisschen schneller laufen und härter kämpfen. Ein Fußballspiel beginnt dagegen mit 0:0, und immer hat das Unerwartete seinen Platz: der Außenseitersieg, das Tor in der letzten Minute, der Keeper, der im Elfmeterschießen den Ball doch noch mit den Fingerspitzen um den Pfosten lenkt. Das Spiel öffnet also den Türken in Deutschland für eine Nacht das Tor zu einer anderen Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, in der sie gleich und gleichwertig sind, während sie sonst den Unterschied spüren – wobei es bezeichnend ist, dass so viele Türken in den nun zahlreichen Straßenumfragen erklären, dass ihnen auch eine ehrenvolle Niederlage zur Freude gereichen würde.“

Berthold Kohler (FAZ) klagt über mangelnde Assimilation und kritisiert Versäumnisse der deutschen Politik: „Deutschland hat von seiner größten Einwanderergruppe viel zu lange keine Eingliederungsanstrengungen verlangt – weil die Multikulti-Ideologen lieber die Deutschen umerziehen wollten und die bürgerlichen Parteien die irrige Hoffnung hegten, die ‚Gastarbeiter’ würden schon wieder wegziehen. Doch hätte auch nicht jeder Türke so gut Fußball spielen müssen wie Altintop, Podolski oder (meistens) Gomez, um sich aus eigenem Antrieb so in Deutschland einzufügen wie die Polen, Italiener und Spanier, die hier leben. Fußballer können, wie gesehen, sogar noch schöne Tore schießen, wenn in ihrer Brust zwei Herzen schlagen. Ein Staat aber, der in seinem Inneren sich verfestigende Parallelgesellschaften toleriert, geht schweren Zeiten entgegen. Der türkische Fahnenwald in Deutschland ist – bei allem Respekt vor den patriotischen Empfindungen derjenigen, die rotweiß flaggen – ein Menetekel für diese Republik. Der Türkei freilich kann man zu solchen Bürgern nur gratulieren.“

Geistermannschaft

Jan Christian Müller (FR) nimmt einen Pro-Integrations-Film des DFB und die wohlmeinende Rhetorik der Verantwortlichen zum Anlass, die praktizierte Abschottung der Nationalmannschaft zu kritisieren: „Die Fortschritte unter Theo Zwanziger sind unverkennbar. Das ist ebenso gut wie überfällig. Auch Oliver Bierhoff hat sich zu dem Spot geäußert: ‚Wir sind uns der Verantwortung als Nationalmannschaft bewusst.’ Leider ist von diesem Bewusstsein im Trainingscamp im Tessin nichts zu spüren. Unmittelbar neben dem verdeckten Übungsgelände des DFB trifft sich die Jugend Europas zum gemeinsamen Campen und Sport treiben: Hunderte Teenager nur einen Spannstoß vom Platz entfernt und in Wahrheit doch viel, viel weiter weg. Es hätte natürlich etwas Mühe gekostet – 60 Minuten als Stunde der Offenen Tür zum Beispiel –, das Ansinnen des Präsidenten und das Versprechen des Managers glaubwürdig mit Leben zu füllen. Eine Geste des Respekts nur. Diese Mühe waren auch die Gastgeber und deren Familien aus Ascona und Tenero dem DFB nicht wert. Völkerverständigung ist mehr als ein zweiminütiger Werbespot. Im deutschen Kader stehen eine Menge weltoffener Profis. Aber wenn sie das Tessin verlassen, gehen sie als Geistermannschaft.“

Stimmung besser als die Wirklichkeit

Christiane Schlötzer (SZ) betrachtet das Duell aus Perspektive der türkischen Gesellschaft: „Das deutsch-türkische Verhältnis war immer speziell, wahrgenommen wird dies gewöhnlich aber nur von den Türken. Es ist eine Beziehung, in der die Bewunderung eine große Rolle spielt. Bewundert werden die Aufbauleistungen Deutschlands, sprich die Wirtschaftskraft, ein meist reibungslos funktionierender Alltag und ja, auch der deutsche Fußball. Von deutscher Seite ist es eine eher schwierige Beziehung. Die Türkei gilt als politisch kompliziertes Land. Die Türken hierzulande sind für viele Deutsche auch nach fast einem halben Jahrhundert Zuwanderung aus Anatolien und vom Bosporus Fremde geblieben. Wie ähnlich sie sich sind, das könnten Türken wie Deutsche gerade jetzt begreifen. Sie teilen dieselben Eigenschaften, die sie an ihren Nationalspielern bewundern. Motivation und Teamgeist werden bei der deutschen Mannschaft gepriesen, und die türkische Equipe kann sich nicht retten vor Komplimenten, weil sie einfach nicht aufgeben will und kann. Politiker in der Türkei haben daraus schon die Hoffnung destilliert, dies könnte auf das eigene Land abfärben, das sich auch deshalb im Taumel befindet, weil seine Eliten ständig foul spielen. Aber man sollte vom Fußball auch nicht zu viel verlangen.“

Rainer Herrmann (FAZ) ergänzt: „Der Fußball setzt in diesem Sommer unter den Türken neue Kräfte frei – besonders vor dem Spiel gegen Deutschland. In der Vergangenheit hatten die Türken immer zu Deutschland aufgeblickt, ob zur Fußballnation oder zum Wirtschaftswunderland. Im Halbfinale der Europameisterschaft angekommen, sehen sie sich nun auf Augenhöhe. Ein Spiel gegen Deutschland weckt ohnehin andere Emotionen, als es gegen Frankreich oder Spanien der Fall wäre. Denn aus keinem anderen Land wirkt die türkische Gemeinde so stark in die Heimat zurück wie aus Deutschland. Den Einzug ins Halbfinale feierten die Türken wie die Aufnahme in den Kreis der Großmächte des Fußballs. Vorsicht ist geboten. Denn immer ist in der Türkei die Stimmung besser (oder aber schlechter), als es die Wirklichkeit ist.“

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