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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

EM 2008

Wo das Öl fließt, fließt das Geld

Oliver Fritsch | Donnerstag, 26. Juni 2008 Kommentare deaktiviert für Wo das Öl fließt, fließt das Geld

Über die Politisierung der russischen Elf durch Politik und Gesellschaft / Fällt der Name Russland, fällt das Wort Doping, noch leise, aber lauter werdend / Luis Aragonés, stur, uneitel, kauzig sowie erfolgreich und gerecht

Ronny Blaschke (FR) ist die Vereinnahmung der russischen Mannschaft durch die Politik ein Dorn im Auge: „Kaum ein Land instrumentalisiert seine Sportler so sehr wie Russland. Mit Hilfe von Athleten und Mannschaften kann sich das Riesenreich im Ausland als aufstrebende, offene Nation präsentieren und im Inland als beneidenswerte, weltweit anerkannte Supermacht. (…) Mit viel Energie wollte Putin die EM 2008 nach Russland holen, den Inspektoren der Uefa stellte er Flugzeug und Schiff zur Verfügung, in Moskau ließ er eine Technologie zur Auflösung von Wolken vorführen. Vergeblich. Bei der Bewerbung für die Olympischen Winterspiele 2014 hatte er mehr Erfolg. Mit der schlechtesten Bewerbung erhielt der Badeort Sotschi den Zuschlag. Schon jetzt ist abzusehen, dass die Kosten weitaus höher liegen werden als veranschlagt. Egal, Russland will die EM 2016 oder die WM 2018. Und die Chancen sind so schlecht nicht. Putin hat mit den milliardenschweren Oligarchen im Rücken ein sportpolitisches Netzwerk aufgebaut, das Geben und Nehmen beinhaltet. Die Russen brüsten sich mit dem Aufschwung ihres Fußballs. Hooligans, leere Stadien, Manipulationen, Doping oder fehlende Rentabilität erwähnen sie kaum. Derzeit ist es die Nationalmannschaft, die ihr Land in Europa vertritt. Laut Putin sind es nicht nur die Sportler, die Triumphe möglich machen, es ist immer die ganze Nation. Bis zur nächsten Niederlage.“

Die Neue Zürcher Zeitung befasst sich mit dem gleichen Thema: „Die Suche nach der ‚Idee’, die das Land zu Einheit, Stolz und Selbstbewusstsein führt und seine Substanz ausmacht, trieb Generationen von Intellektuellen seit dem 19. Jahrhundert um. Die Demontage und Selbstdiskreditierung des kommunistischen Wertesystems verlangten in Anbetracht der tief greifenden Umwälzungen und des Verlusts an Größe und Ansehen mit dem Ende der Sowjetunion nach einer neuen ‚Idee’. Trotz absurdem Wettbewerb um die beste ‚russische Idee’ gab es keine Antwort auf die Frage, die insofern auch falsch gestellt war, als das Zarenreich, die Sowjetunion und auch die Russische Föderation nie ‚Nation’ waren, sondern ‚Imperium’. Es gehört zum Geschichtsbild Wladimir Putins und seiner Mitstreiter, den Gegensatz zu schärfen zwischen dem erniedrigten, zum Spielball westlicher Staaten gewordenen und dem Zerfall nahe stehenden Russland der neunziger Jahre und jenem Russland, das während der vergangenen acht Jahre zu neuer Blüte, Selbstbewusstsein und Einheit gekommen ist. Die jüngsten, in verblüffender Kadenz erreichten sportlichen Erfolge – der Sieg von Zenit St. Petersburg im Uefa-Cup, der Weltmeistertitel im Eishockey, die ‚Sbornaja’ an der Fußball-EM – sind Wasser auf diese Mühlen. (…) Von Zufall ist nicht mehr die Rede, weil Sport, Politik und Wirtschaft eine enge Partnerschaft eingegangen sind.“

Christian Eichler (FAZ) hingegen konzentriert sich aufs Sportliche: „Russland erwacht – eine uralte Schreckensversion des Westens. Nun wird sie vielleicht auf einem Feld wahr, das zum Glück niemandem Furcht einflößen muss. Der Rohstoffreichtum des Landes landet über Staatskonzerne wie Gasprom oder die Privatinvestitionen von Milliardären wie Roman Abramowitsch (der dem russischen Verband Hiddinks Gehalt von angeblich 2,5 Millionen Euro subventioniert) in der russischen Liga. Etwa bei Spartak Moskau, im Besitz von Leonid Fedun, Großaktionär des staatsnahen Ölkonzerns Lukoil. Oder bei Zenit St. Petersburg, das von seinem Eigentümer Gasprom vor der Saison 27 Millionen Euro für Verstärkungen erhielt. Davon leistete sich der Klub den bisher teuersten Transfer des Landes: Er holte den Ukrainer Anatoli Timoschtschuk für 15 Millionen Euro, wovon die Hälfte über Gaslieferungen verrechnet worden sein soll. Man gewann Meistertitel und Uefa-Pokal. Wo das Öl fließt, fließt das Geld, deshalb bleiben die talentierten Fußballrussen gern zu Hause.“

FR: Unerhörte Laufleistungen bei der EM rufen Sportmediziner und Dopingexperten auf den Plan
BLZ: Der niederländische Fitnesstrainer Raymond Verheijen hat die russischen Nationalspieler schnell und ausdauernd gemacht
BLZ: Juri Schirkow ist scheu und schüchtern, aber bisher der auffälligste Spieler bei dieser EM

Alles sauber?

Thomas Kistner (SZ) erneuert seinen Anfangsverdacht in Sachen Doping: „Es ist klar, dass in einem Hochgeschwindigkeitssport mit so multipler Muskel- und Sauerstoffbelastung der größte Ballkünstler einpacken kann, wenn er nicht die erforderliche Athletik hat. Wie diese erreicht wird in der Trainingsarbeit, ist das eine – auffällig aber in jedem Fall, wenn plötzlich Nobodys aufkreuzen, die mal eben die Elite kräftemäßig überrollen. Das ist unüblich, in der Spitzenathletik samt zugehöriger Wissenschaft wird um winzige Energievorteile gerungen. Wenn also wieder ein Team des Guus Hiddink exorbitante Brennwerte vorführt, darf schon mal gefragt werden, warum pfiffige Verbände nicht all ihren sündteuren Kompetenzteams abschwören und sich den fliegenden Holländer einfangen. Wer es schafft, Australier, Südkoreaner und die lange zweitklassigen Russen im Sprinttempo auf die Weltbühne zu hieven – was vermag der erst mit taktisch reiferen Franzosen, Italienern oder Deutschen anzustellen?“

Die NZZ ergänzt: „Wie dürfen uns nichts vormachen: In einem Sport, in dem so viel Geld auf dem Spiel steht, in dem die Topcracks über sechzig Ernstkämpfe pro Saison absolvieren, kann gar nicht immer alles sauber ablaufen. Und weshalb sollten ‚Doping-Fachärzte’ wie der Italiener Ferrari oder der Spanier Fuentes ausgerechnet auf die betuchte Kundschaft aus der Fußball-Branche verzichten?“

Der Kader ist Aragonés wichtiger als der Einzelne

Ronald Reng (Berliner Zeitung) betont das uneitle Auftreten des spanischen Nationaltrainers: „Luis Aragonés hat es in seinen vier Jahren als spanischer Nationaltrainer dem Publikum leicht gemacht, ihn zu verkennen. Zu oft erscheint er als alter Exzentriker. Bei der WM 2006 etwa warf er den Begrüßungsblumenstrauß in den nächsten Papierkorb, weil man einem Mann doch keine Blumen schenkt. Doch Spanien steht im Halbfinale. Nun kann es niemand mehr übersehen: Luis Aragonés hat eine Elf erschaffen. Er hat Spanien Kurzpassfußball verschrieben, als die Mode sagte, mit langen Pass-Staffetten könne man heute nicht mehr spielen. Er hat dazu das Mittelfeld bis zum Exzess mit lauter technisch feinen Spielern wie Xavi oder David Silva bestückt, als der Zeitgeist schrie, mit so kleinen, körperlich schwachen Spielern gewinne man nichts. Es ist sein Spanien. Es gibt nicht mehr als vier, fünf Nationalteams auf der Welt, deren Spiel ein Trainer derart perfektioniert hat. Er arbeitet nach modernstem Stand und ist doch in einer anderen Zeit leben geblieben, irgendwo in den Sechzigern, als Fußball nur auf dem Fußballplatz stattfand. Es ist noch immer das einzige, was ihn, bis zur Besessenheit, interessiert: nicht das Drumherum, nur das Spiel. (…) So eine Elf, so gut, so anders als alle anderen, konnte nur ein Kauz erschaffen.“

Roland Zorn (FAZ) streicht die sture Gerechtigkeit Aragonés’ heraus: „Tiqui-Taca, aber zügig! Die Ballzirkulation über mehrere Stationen im hohen Tempo sollen Xavi, Andres Iniesta, sein Vereinskollege vom FC Barcelona, David Silva vom FC Valencia und, als Sicherung hintendran, Senna vom FC Villarreal vorantreiben. Das Mittelfeld ist das Herzstück und die Seele des filigranen, aber auch störanfälligen spanischen Spiels. Könnte Fußball mit mehr als elf Mann gespielt werden, Aragones hätte vermutlich auch noch seinen Superjoker Cesc Fabregas (FC Arsenal), Xabi Alonso (FC Liverpool) oder Santi Cazorla (Villarreal) nominiert. Sie alle verstehen es meisterhaft, ihre Spielkunst in eine Gesamtaufführung zu integrieren, bei der den Gegenspielern schon mal schwindlig wird. Dass es Aragones fertiggebracht hat, den Neidfaktor in diesem hochklassig besetzten Mannschaftsteil auf ein erträgliches Maß herabzustufen, ist vielleicht seine eigentliche Leistung. Denn jeder dieser besten spanischen Mittelfeldgrößen ist, von Santi Cazorla vielleicht abgesehen, ein internationaler Star. Im Nationalteam aber gilt die Referenzgröße 23, also der Grundsatz, dass der Kader wichtiger als der Einzelne sei.“

Mutige Entscheidung

Reng (FR) betrachtet die Nichtnominierung Raúls als großes Plus: „Der Fußball verzehrt sich nach solchen Debatten: Kahn oder Lehmann? Netzer mit Overath? Raúl, ja oder nein? Wenn die Protagonisten längst abgetreten sind, wird sich das Publikum noch über diese Fußballfragen eines Jahrzehnts erhitzen. Dies macht den derzeitigen Waffenstillstand in der Raúl-Debatte so außergewöhnlich. Selbst die skrupellosesten Raúl-Lobbyisten der Madrider Presse können im Angesicht der EM nichts mehr sagen. Die mutigste Entscheidung von Luis Aragonés war auch eine seiner besten. Raúls Rauswurf war eine sportliche und menschliche Befreiung der Mannschaft.“

NZZ-Portrait David Villa

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