indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Bundesliga

Diese Standortnachteile hätte man anderswo gern

Frank Baade | Mittwoch, 30. Dezember 2009 1 Kommentar

Der BVB wird 100 Jahre alt, Dortmund könnte neue Boomtown werden, Hertha sucht Halt, Metzelder fördert seinen Jugendklub plus ein wenig Erhellendes über die Ultras, das weiterhin uninteressante Wesen

„Ihr müsst aufhör‘n mit dem Fußball!“

Ausführlich beschäftigt sich Freddie Röckenhaus im Tagesspiegel mit den 100 Jahren BVB, die man hier kaum angemessen zusammenfassen kann. Ein kleiner Ausschnitt also aus der Geschichte des Ballspielvereins Borussia 09 e. V. Dortmund: „‚Eigentlich war die Gründung des BVB auch eine Trotzreaktion‘, erzählt BVB-Archivar Kolbe. Damals, in der stolzen Gründerphase der Industriestädte, hatten sich in der Nähe des Stahlwerks Westfalenhütte, am Borsigplatz in der proletarischen Nordstadt, ein paar Jungs zum Fußballspielen auf der ‚Weißen Wiese‘ zusammengefunden. Kaiserreich und Kirche waren noch gut bei Kräften. Fußballspielen galt als ‚rohes und wildes Treiben‘ – so zitiert Kolbe den damaligen Kaplan der zuständigen Gemeinde. Kaplan Hubert Dewald nannte die Spiele seiner männlichen Schäfchen auf der Weißen Wiese ‚Fußlümmelei‘. Im ‚Borussical‘ wird Kaplan Dewalds Kreuzzug gegen den Fußball zu einem regelrechten Exorzismus. Zur Melodie von ‚I Can’t Get No Satisfaction‘ faucht der Geistliche: ‚Ihr müsst aufhör’n, mit dem Fußball!‘ Und die Verwandtschaft zwischen sexueller Rebellion der Rolling Stones und fußballerischer Revolte der Jung-Borussen ist unübersehbar. Noch heute, bei jedem Heimspiel im Stadion. (…) Der Phoenixsee, Dortmunds künftiges Gegenstück zu Hamburgs Außenalster, nur weniger idyllisch, eine neue Philharmonie, der Umbau des gigantischen Brauerei-Klotzes ‚Union‘ zu einem Kunstmuseum, gerade noch rechtzeitig zum Kulturhauptstadt-Europas-Event 2010, ein marodes städtisches Klinikum, ein Flughafen, der seit Jahren hohe Verluste macht. Die Stadt ist zwar etwa so einwohnerstark wie Stuttgart, Frankfurt oder Düsseldorf – aber ihre Einnahmequellen sind zum großen Teil versiegt und die Arbeitslosengelder kosten sie obendrein viel Geld. Immerhin hat die Stadt mit den heftigen Investitionen die Massenabwanderung ihrer Einwohner verhindert. Prognosen sagen, dass Dortmund – völlig gegen den Trend des Ruhrgebiets – kaum noch Einwohner verlieren wird. Wirtschaftsfachleute sprechen gar von einer Boomtown, auch wenn man das in der Nordstadt, wo auch heute der Großteil der Arbeitsmigranten lebt, nicht recht merken kann.“

Nie an die Ursachen vorgedrungen

Herthas aktuelle Misere sei immer noch hausgemacht, schildert Michael Rosentritt (Tagesspiegel) in einem umfangreichen Beitrag: „Hinter Hertha liegen zehn Jahre, in denen so manche Imagekampagne initiiert wurde. ‚Play Berlin‘, so pries sich Hertha als großer Player an. Oder ‚Aus Berlin – für Berlin‘, das klang nach Volksnähe. Gebracht hat beides nichts. Hertha hat keine überregionale Strahlkraft, viele Fans stehen dem Klub gleichgültig gegenüber. Hertha taugt nicht mal als Feinbild, zurzeit haben viele nur Mitleid übrig. Hertha fehlt eine Aura. Zu lange suchte der Klub die Schuld dafür nur außerhalb. Mal war es die Größe der Stadt, mal die vielen Neu-Berliner, mal war es das Olympiastadion. Manches mag stimmen, aber: Diese Standortnachteile hätte man anderswo in Deutschland gern. An die Ursachen ist Hertha nie vorgedrungen. Denn dann hätte der Hauptstadtklub sein zu groß geratenes Selbstbild hinterfragen müssen. Der Ausweg? Einen einfachen gibt es nicht, erst recht nicht nach einem Abstieg. Die wirtschaftlichen Spielräume sind auf Jahre eingeengt, für Fußballverhältnisse eine halbe Ewigkeit. Hertha ist einst auf allen Ebenen überproportional gewachsen und nun dabei, überproportional abzustürzen.“

Wunderkind unter Druck

Neu verliebt sei der Stuttgarter Stürmer Ciprian Marica und zeige unter Christian Gross bislang gute Leistungen. Das war nicht immer so, klagt Heiko Hinrichsen in der Stuttgarter Zeitung: „Nimmt man das Statistikmaterial des Ciprian Marica aus den vergangenen 31 Monaten beim VfB zur Hand, ist die Ernüchterung groß: Lediglich 7 Bundesligatreffer sind dem Rumänen in seinen 65 Einsätzen für die Stuttgarter gelungen. In dieser Saison steht für den im Kollegenkreis beliebten ‚Cipi‘ dabei gerade mal ein Törchen zu Buche – dies war obendrein ein Handelfmeter zum 1:0 gegen Hoffenheim. Für einen Stürmer mit internationalem Anspruch, für das einstige ‚Wunderkind vom Donezbecken‘, als das Marica in seinen dreieinhalb Jahren beim ukrainischen Club Schachtjor Donezk gepriesen wurde, ist das eine erschütternde Bilanz. ‚Es war für mich ein gewaltiger Druck, in Stuttgart auf einmal vor allem der Achtmillionenmann zu sein‘, sagt Ciprian Marica. Doch der Angreifer mit dem Vertrag bis Sommer 2012 weiß, dass er sich nun endlich durchbeißen muss. Denn es wird gerade bei den Stürmern sehr viel besser laufen müssen als in der Vorrunde, will der VfB die hinteren Plätze der Bundesliga rechtzeitig verlassen.“

Außerdem ziehe sich Hauptsponsor EnBW wohl zurück, weshalb der VfB nach einem Nachfolger suchen müsse. 7,5 Millionen Euro war die Brust der VfB-Spieler bislang wert, natürlich möchte der VfB diesen Wert gerne halten. Auch vom Karlsruher SC werde sich EnBW zurückziehen, dort fehlen somit 750.000 Euro pro Saison.

„Steine und Trainer“ organisch entwickeln

Christoph Metzelder ist der Vorreiter darin, seinen ehemaligen Jugendklub nach oder während erfolgreicher eigener Karriere zu fördern. Wie man Metzelder kennt, wirft er nicht einfach blind mit Geld um sich, sondern fordert im Gegenzug Nachhaltigkeit von seinem Heimatklub TuS Haltern. Bertram Job schildert in der Financial Times Deutschland: „Es ist nun an der Zeit, etwas zurückzugeben, denkt Metzelder. Der Verein, dessen erste Elf in der Staffel 12 der Bezirksliga Westfalen kickt, laboriert an einigen für Amateure typischen Strukturproblemen. Und wenn der frühere BVB-Profi und andere sich nicht gekümmert hätten, als eine Forderung des Finanzamts fällig wurde, wäre der TuS vor zwei Jahren schon in die Insolvenz geschlittert. Damals hatte Metzelder aus Madrid den Scheck geschickt, der erst mal das Überleben sicherte. Darauf folgten einige Bedingungen – und mit ihnen der in der Jugendarbeit des DFB erfahrene Wirtschaftsjurist Ronald Schulz, der seither als verantwortlicher Abteilungsleiter zukunftsgewandte Reformen antreibt. ‚Steine und Trainer‘ heißt das Motto, unter dem der Ausbildungsklub wieder aufgepeppt werden soll. Dazu gehören nicht zuletzt qualifizierte Trainer für den Jugendbereich: Immer mehr Übungsleiter absolvieren hier die Lehrgänge zum Erwerb der DFB-Lizenzen. Metzelder möchte rund um den TuS ‚ein Umfeld aufbauen, in dem Jungen und Mädchen perfekte Trainingsbedingungen vorfinden‘, und wird dabei prominent unterstützt. Auch Sergio Pinto (Hannover 96), Benedikt Höwedes (Schalke 04) und sein Bruder Malte (Ingolstadt 04) lassen sich nun regelmäßig bei ihrem Jugendverein blicken. Man wolle den den Verein nicht einfach mit Geld aufblähen, erklärt Malte Metzelder. ‚Er soll sich organisch entwickeln und irgendwann mal von selbst tragen.‘“ Auch Philipp Lahm, Mark van Bommel und Marc Overmars, zählt Job auf, unterstützten ihre Heimatvereine, was immer noch nicht selbstverständlich sei.

Der Fußball füllt viele Leerstellen

T. Hummel befragt Michael Gabriel für Sueddeutsche.de zum immer noch unbekannten Wesen „Ultra“, der relativ neuen Erscheinung im deutschen Fußball, die ganz eigene Definitionen kennt.

„Gabriel: Die auf den Rängen erwarten, dass die auf dem Platz gefälligst Ergebnisse abliefern, den Stadionbesuch zum Event machen. Umgekehrt erwarten die Spieler, dass die Fans sie immer anfeuern. Letztendlich interessieren sich Profis und Vereinsvertreter meistens nicht die Bohne für die Menschen in der Kurve.

sueddeutsche.de: Dieses Desinteresse ist aber nicht neu.

Gabriel: Aber trotzdem falsch. Die Fans reagieren darauf, indem sie sich immer weniger für das Spiel interessieren.

sueddeutsche.de: Warum gehen sie dann ins Stadion?

Gabriel: Immer mehr um ihre eigene Party zu feiern.

(…)

Gabriel: Würden sich Klubvertreter mit der Lebenswelt der Fans auseinandersetzen, würde sie erkennen, welch enormer Druck von der Polizei auf die Szene wirkt und was das auslöst. Sie würden sehen, dass es bei Randalen meist nicht nur eine Wahrheit gibt, die in der Regel die Polizei über Pressemitteilungen an die Öffentlichkeit kommuniziert. Auch die Polizei kann Fehler machen und überzogen vorgehen. Klubvertreter würden realisieren, dass sie sich dann vor ihre Fans stellen müssen.

sueddeutsche.de: Das passiert aber nicht.

Gabriel: Und deshalb werden diejenigen in der Fankurve bestätigt, die dafür stehen, dass man sich wehren muss gegen Polizei und Ordnungsdienst. Es werden nicht die positiven Kräfte der Fankultur unterstützt.

(…)

sueddeutsche.de: Wie kommt es, dass Fan-Sein so wichtig ist?

Gabriel: Es füllt viele Leerstellen in der Gesellschaft. Instanzen des Zusammenlebens wie Familie, Schule oder Arbeitswelt werden porös. Es wird z.B. als selbstverständlich erachtet, dass sich 16-Jährige bundesweit bewerben, um eine Chance auf einen Ausbildungsplatz zu haben. Ultra- oder Fangruppen bieten hier eine Heimat: Hier werden die Jugendlichen akzeptiert und anerkannt, hier können sie sich einbringen, die Herkunft ist unbedeutend, es herrscht großer Zusammenhalt. Die Gesellschaft wertet nahezu alles nach Leistung und Nutzen, die Fankultur bietet da attraktivere Angebote.

(…)

sueddeutsche.de: Muss man Angst haben, dass in ein paar Jahren wieder der alte Hooliganismus auflebt?

Gabriel: Wenn die einfachen, repressiven Lösungen gesucht werden, wird sich die Gewalt auf jeden Fall nicht verringern.“

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Kommentare

1 Kommentar zu “Diese Standortnachteile hätte man anderswo gern”

  1. NoID
    Mittwoch, 30. Dezember 2009 um 13:57

    Nicht ganz verkehrt wäre es, wenn der Name von Metzelders Klub aus Jugendzeiten irgendwo im Text (nicht nur in den Tags) erwähnt würde.

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