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Chinesische WM-Euphorie und der Fußball als willkommene Ablenkung

Daniel Drepper | Dienstag, 6. Juli 2010 Kommentare deaktiviert für Chinesische WM-Euphorie und der Fußball als willkommene Ablenkung

In China und Haiti ist die Begeisterung für die WM – unter verschiedenen Voraussetzungen – sehr groß; in Südafrika dagegen scheint die WM für viele schon wieder vorbei zu sein

Über die große Begeisterung der chinesischen Fußballfans wundert sich Mark Siemons (FAZ). „Die deutsche Mannschaft als Muster eines triumphierenden Kollektivismus, wie ihn China sonst gern für sich selbst in Anspruch nimmt: Das war der bisherige Höhepunkt des Rauschs, in den sich ganz China während dieser Weltmeisterschaft hineingesteigert hat. Der Enthusiasmus für Fußball ist umso bemerkenswerter, als die Chinesen die eigene Nationalmannschaft – die auf dem 85. Platz der Weltrangliste rangiert – wegen deren chronischer Erfolglosigkeit und Korruptionsanfälligkeit zugleich aus tiefstem Herzen verachten.“ Die Begeisterung für Brasilien, Spanien oder neuerdings Deutschland wecke jedoch einen selten reinen Internationalismus in einer Gesellschaft, die die Weltereignisse sonst meist zuerst auf die eigene Befindlichkeit beziehe. „Sechzehn Prozent der Zuschauer der Fernsehübertragungen in der ganzen Welt sollen Chinesen sein; in keinem anderen Land gebe es mehr Fußballfans, heißt es in den hiesigen Medien. Entsprechend groß ist das Geschäft: Der Sportkanal CCTV 5, der sich die Übertragungsrechte für sämtliche Spiele der WM in Südafrika sicherte, verzeichnet laut Staatsmedien eine Milliarde Yuan (also mehr als hundert Millionen Euro) Werbeeinnahmen.“

Als könnte ein Spiel alles heilen

Auch im geschundenen Haiti feien die Menschen die Fußball-WM, laut Karin Steinberger (SZ) vor allem Argentinien und Brasilien. „Wenn ein Tor in Südafrika fiel, war hier im Tausende Kilometer entfernten Haiti Ausnahmezustand, dann rasten die Menschen mit großen Flaggen durch die Straßen und Mädchen in engen gelben T-Shirts schüttelten ihre Babys und tanzten vor zerkratzten Fernsehern, die sie aus den Trümmern herausgezerrt hatten. In den Zeitungen stand, dass die Fernsehrechte für die WM 1,3 Millionen Dollar gekostet haben. Und auf den Straßen lästern sie, dass die Fifa dem geschundenen Land die Fernsehbilder nicht geschenkt habe. Eine Million soll der Staat gezahlt haben, den Rest eine private Firma. Aber sie strahlten alle wie die Kinder vor ihren vor der Sonne verhüllten Fernsehern. Als gäbe es keine Erinnerung, keinen Hunger, keine brutale Hitze und Langeweile und Angstträume, keine alten Toten in den Trümmern der Häuser und keine neuen Toten unten am Markt, wo die Banden wieder die Menschen terrorisieren. Als könnte ein Spiel alles heilen.“ Mit dem Ausscheiden der beiden Lieblingsländer sei Haiti aber nun früher als erwartet in die brutale Wirklichkeit zurückgeholt worden, mehrere Menschen hätten sich das Leben genommen.

Wenig Glanz kommt in Diepsloot an, einem Armenviertel von Johannesburg. Arne Perras (SZ) hat das Viertel mit seinen 150000 Bewohnern besucht, von denen viele als Tagelöhner kaum genug Geld verdienen, um die 15 Euro Monatsmiete für ihre Blechhütte zu bezahlen. „Viel Abwechslung gibt es nicht in Diepsloot, das ist sicher, aber vielleicht ist es in diesen Tagen ja auch ein wenig anders, mit all den Spielen der Fußball-WM? Sitzen da nicht alle abends vor den Bildschirmen? ‚Ach‘, sagt Jimmy. ‚Wir haben ja nicht mal Strom‘. Solange Bafana Bafana noch im Spiel war, sind sie schon mal vorne in die Taverne gegangen, jetzt ist das auch vorbei.“

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