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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Wer braucht noch Stammspieler?

Christoph Asche | Donnerstag, 13. Oktober 2011 2 Kommentare

Zehn Spiele, zehn Siege – Makellos beendet das deutsche Team die EM-Qualifikation. Die Presse über Parallelen zur Elf von 72, den neuen Respekt aus dem Ausland und die Abschaffung des Stammplatzes

Um die Leistungen einer Mannschaft richtig einzuordnen, werden im Fußball gerne Vergleiche angestellt. Philipp Selldorf geht in der Süddeutschen Zeitung der Frage nach, ob es je eine bessere DFB-Auswahl gegeben hat. Während die Parallelen zur Weltmeisterelf von 1990 nicht ganz so offenkundig sind („Das Spiel der 90er-Weltmeister hatte grundsätzlich eine andere Orientierung als das beschleunigte, auf Turbokonter angelegte Direkt- und Vorwärtsspiel ihrer zeitgenössischen Nachfahren.“), zeige das EM-Team von 1972 deutlich mehr Übereinstimmung mit der aktuellen Mannschaft. Zwar habe Löw keine speziellen Persönlichkeiten wie Netzer oder Beckenbauer im Aufgebot, dafür als unumstrittene Größen seine Kapitäne Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm. Auch sonst sieht Selldorf viele Gemeinsamkeiten: „Per Mertesacker übt mit zunehmendem Alter immer mehr eine etwas modernere Version der Schwarzenbeck-Rolle aus. Sami Khedira variiert Wimmer inzwischen auf eine so elegante und doch mannschaftsdienliche Art, dass man bald Hacki Khedira zu ihm sagen darf. Mario Gomez folgt in seiner Eigenschaft als ‚Tormaschine‘ (Löw) den Spuren von ‚Bomber‘ Müller. Und der bayerische Ur-Mensch Paul Breitner findet seinen Nachfahren im bayerischen Ur-Menschen Thomas Müller.“

Am Ende bleibt nur Spanien

Christian Spiller (Zeit Online) neigt hingegen nicht zu solchen Superlativen: „Nun sind solche Vergleiche so sinnvoll wie die zwischen Angela Merkel und Otto von Bismarck. Es waren andere Zeiten, es war anderer Fußball.“ Allerdings werde der historische Erfolg mit einer gewissen Erwartungshaltung einhergehen. So müsse sich die deutsche Mannschaft bei der EM an Zahlen orientieren: „10, 0 und 34. Sie stehen für die Siege, Niederlagen und erzielten Tore. Viel besser geht es eben nicht.“ Auch ein Ausblick auf die Situation der Konkurrenz entlarvt das deutsche Team als einen der Favoriten auf den Titel: „Die Niederländer verloren 2:3 in Schweden. Ob Portugal überhaupt zur EM fahren darf, wird erst in den Playoffs entschieden. Ein Schicksal, das den Franzosen nur wegen eines Elfmetertores zwölf Minuten vor Schluss gegen Bosnien-Herzegowina erspart blieb. Einzig die Engländer erledigten ihre Aufgabe halbwegs souverän. Am Ende bleibt nur Spanien.“

Christian Kamp (FAZ.net) sieht nicht die maximale Ausbeute von zehn Siegen in zehn Spielen als den eigentlichen Gewinn der Nationalelf. Vielmehr sei es der Ruf, den man sich bei der Konkurrenz erarbeitet habe: „Unter Löws Regie ist in den vergangenen Monaten etwas größeres entstanden als nur eine ziemlich erfolgreiche Fußballmannschaft, die über weit mehr Spielfreude, Spitzenkönner und Siegermentalität verfügt als ihre Vorgänger-Jahrgänge. Hier ist zum ersten Mal seit langem eine deutsche Mannschaft zu besichtigen, die über eine spezielle Aura verfügt – etwas, was im Weltfußball derzeit sonst nur die Spanier für sich in Anspruch nehmen können.“ Es gebe wenig Argumente, warum dieses Team nächstes Jahr nicht reif für den Titel sein sollte, bemerkt der Autor – zumal im Vergleich zur EM 2008 mehr Tempo, mehr Variabilität und mehr Teamgeist auf den Habenseite stehe.

Die Konstanz fehlt noch

Ralf Buschmann fragt auf Spiegel Online „Wer braucht noch Stammspieler?“ und verweist damit auf die neue Qualität der Nationalelf, Spiele auch ohne die vermeintlichen Stammkräfte souverän zu gewinnen. „Sowohl der deutliche Länderspielerfolg über die Türkei als auch der 3:1-Sieg am Dienstagabend gegen Belgien haben deutlich gemacht, dass die Mannschaft vielleicht mehr als je zuvor von der individuellen Klasse eines jeden einzelnen Akteurs beflügelt werden kann.“ Bei der EM könne es deshalb erstmals eine deutsche Mannschaft geben, die keinen wirklichen Stamm hat. Einzig die Konstanz fehle dem Team noch, ausgemacht am Exempel Toni Kross: „Der Münchner Mittelfeldspieler war zuletzt ein Komet im Nationalteam, er galt schon als legitimer Nachfolger von Real-Star Sami Khedira. Gegen Belgien sah man von Kroos hingegen kaum etwas. Dafür spielte sein Nebenmann Khedira für zwei, als wolle er mit seiner Zweikampf- und Laufstärke alle Spekulationen um einen Verlust seines Stammplatzes ausräumen.“

Auch Carlos Ubina (Stuttgarter Zeitung) sieht einen neuen Trend der rotierenden Beschäftigung von Nationalspielern: „Der Bundestrainer ist in der angenehmen Lage, über einen so starken Kader zu verfügen, um nicht mehr nach anderen schielen zu müssen. Er selbst hat auch eine so starke Position inne, dass er per Dekret einfach den Begriff Stammspieler abschafft. Und wenn der 51-Jährige demnächst mal das Vorschlagsrecht erhält, das Wort des Jahres zu küren, dann wird es ‚Konkurrenzkampf‘ sein. Diesen fordert er ein, diesen müssen die Spieler annehmen, und dieser wird die verbleibenden acht Monate bis zum Endrundenbeginn bestimmen.“

Mittelfeld atemberaubend schnell überbrückt

Markus Wanderl erinnert in der Neuen Zürcher Zeitung daran, dass zehn Siege in zehn Quali-Spielen zwar einen Rekord darstellen, nicht jedoch einen Titelgewinn. Bis zum 1. Juli nächsten Jahres fließe noch viel Wasser die Dnepr hinunter, bemerkt Wanderl verheißerisch. Dennoch: „Ein DFB-Team kann Spiele mittlerweile auch im tatsächlichen Sinne des Wortes spielerisch entscheiden und durch ganz besondere individuelle Klasse. Die gegen Belgien erfolgreichen Torschützen Mesut Özil, der anstelle von Lukas Podolski aufgebotene André Schürrle und Mario Gomez zeigten dies eindrucksvoll. Vor Gomez’ Treffer zum 3:0 hatten die Deutschen das Mittelfeld atemberaubend schnell überbrückt.“

Neun Monate vor der EM wagt Klaus Bellstedt auf stern.de einen Ausblick auf den möglichen Turnier-Kader. Vor allem im Mittelfeld wird es eng: „Bekommt Khedira bei Real zu wenig Einsatzzeit, könnte Kroos’ Stunde schlagen. Er interpretiert die Rolle als Sechser offensiver. Löw schätzt ihn als ‚Zwischenspieler‘. Mit Sven Bender, Christian Träsch und Simon Rolfes hat der Bundestrainer für den defensiveren Part des Mittelfelds bewährte und talentierte Kräfte in der Hinterhand. Links ist André Schürrle gerade im Begriff, Lukas Podolski rein leistungsmäßig zu überholen. Vergessen wir nicht Ilkay Gündogan, der gegen Belgien sein Debüt in der A-Nationalmannschaft feierte sowie die beiden zuletzt nicht berücksichtigten Marko Marin und Lewis Holtby.“ Im Angriff stehe ein Zweikampf zwischen Miroslav Klose und Mario Gomez bevor: „Gomez hat aufgeholt. Er ist in der Nationalmannschaft endlich angekommen, hat in seinen letzten sieben Länderspielen unglaubliche sieben Tore erzielt. Es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden.“

Von der 1B-Klasse entfernt

Stefan Rommel hat für spox.com die Entwicklung der Nationalelf während der EM-Qualifikation aufgezeichnet. Während Löws Team sich bei der WM in Südafrika noch schwer getan habe, den Gegner über 90 Minuten zu dominieren, habe sich die Mannschaft in dieser Beziehung weiterentwickelt: „Löw ist mittlerweile so weit, dass er sein Mittelfeld nicht mehr starr auf Positionen fixiert arbeiten lassen muss. Die Spieler dürfen ihr Wirken in einem bestimmten Rahmen selbst entscheiden. Das bringt Flexibilität und Kreativität.“ Gegen Belgien sei das deutsche Mittelfeld variabel wie noch nie gewesen: „Den Spielern Khedira, Kroos, Özil, Schürrle und Müller waren kaum feste Arbeitsbereiche zuzuordnen. Viele Mannschaften kann Deutschland damit hinter sich lassen, von der 1B-Klasse in Europa hat sich die Mannschaft ein weiteres Stück entfernt.“ Einzig in der Defensive gibt es noch Nachholbedarf. Die Angriffswucht wiege die Fehler in der Defensivbewegung in jedem Spiel auf, doch Vorsicht ist geboten: „Bei einem Turnier, mit nur drei Spielen in der Gruppenphase und anschließendem K.o.-Modus, sind die Parameter völlig andere. Dass die Mannschaft zuletzt in neun Spielen in Folge mindestens ein Gegentor kassiert hat, mag für die Qualifikation kein Hindernis gewesen sein. Bei der Endrunde dürfte sich so aber kaum etwas gewinnen lassen.“

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Kommentare

2 Kommentare zu “Wer braucht noch Stammspieler?”

  1. Marvin Nash
    Donnerstag, 13. Oktober 2011 um 16:43

    Diese Stammspielerdiskussion ist ja schon merkwürdig. Es gibt einige klare Stammspieler.

    Neuer, Lahm, Badstuber, Schweinsteiger, Özil, Müller und Klose. Ja auch Klose. Wer was anderes behauptet, nämlich, dass Gomez auf Augenhöhe sei, der hat sich weder mit Löw, noch mit seinem Spiel beschäftigt. Es wird nicht passieren, dass ein fitter Klose gegen starke Gegner auf der Bank sitzt.

    Das sind schonmal 7/11 Positionen. Khedira, Mertesacker und Podolski sehe ich auch noch als Stammspieler, in der Reienfolge auch von der Wahrscheinlichkeit als Stammspieler zur EM zu fahren. Klar haben sie Konkurrenz bekommen, aber mehr auch nicht. Die Zeit von Götze, Schürrle und Kroos wird nach der EM kommen. Wobei ich bei Götze auch das Problem seher, dass er sich zu ähnlich mit Özil ist und auf der Position keine Chance gegen ihn hat.

    Die einzig wirklich vakante Position ist also die des RVs. Aber klar, wir brauchen keine Stammspieler mehr.

  2. augelibero
    Freitag, 14. Oktober 2011 um 19:14

    Bei aller (berechtigten) Freude über diese wirklich vielversprechende Generation Löw hinken die großen Vergleiche wie Arjen Robben nach einem Länderspiel. Die 72er waren Europameister und wurden 74 sogar Weltmeister. Die 90er gewannen souverän eine Weltmeisterschaft. Und die 2011er haben sich gerade einmal, souverän wie die 82er (oh Gott, Schlucksee, Gijon & Battiston), in der Qualifikation durchgesetzt.

    Dass die Mannschaft 2012 gute Chancen hat, ist sehr erfreulich und steht außer Frage. Das Niveau Spaniens – Spieler und Trainer – ist noch nicht erreicht. Daran sollte man denken.

    Die 94er, heute längst vergessen, fuhren damals als Dreamteam zur WM und Andy Möller sollte der Star des Turnier werden…

    Stop! Das ist, unschwer zu erkennen, eine wirklich abwägige Analogie – auf die kommt nicht mal der große Komparatist Phillip S.
    Übrigens: Finden Sie nicht auch, dass früher mehr Lametta war?

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