indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

EM 2012

Del Bosque – der bessere König?

Christoph Asche | Dienstag, 3. Juli 2012 2 Kommentare

Die EM hat mit Spanien einen würdigen Gewinner gefunden. Die Presse über einen Titel in Zeiten des wirtschaftlichen Abgrunds, die Marketingmaschinerie der Uefa und die Situation in den Gastgeberländern

Javier Cacéres sieht in Vincente del Bosque einen Gegenentwurf zu anderen spanischen Persönlichkeiten und öffentlichen Institutionen. In der Süddeutschen Zeitung schreibt er: „Der König? Verabschiedete sich mitten in der Krise zur protzigen Elefantenjagd. Die Banken? Schwatzten sogar Analphabeten und Kindern Kredite auf und werden nun mit Mitteln gerettet, die für das Bildungs- und Sozialwesen nie frei waren. Regierung und Opposition? Als Krisenmanager und auch sonst diskreditiert. […] Sie alle können als Gegenmodell zu Del Bosque gelten, der als Einziger im Land zu wissen scheint, welche Verpflichtungen einem in der Gesellschaft erwachsen.“

Auch Paul Ingendaay (FAZ.net) weiß: „Am liebsten würde Spanien das Modell seines fußballerischen Erfolgs auf Wirtschaft und Politik übertragen.“ Del Bosques Wertekatalog – Arbeit, Demut, Bescheidenheit – kontrastiere scharf „mit Grundübeln der spanischen Gesellschaft, die ihren Teil dazu beigetragen haben, das Land an den Rand des Abgrunds zu führen. Gemeint sind autoritäre Verhaltensmuster in den Machtzentren von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Günstlingswesen, Vetternwirtschaft, Korruption, dazu weitgehende Unbelehrbarkeit und eine bisweilen komische Neigung zum Großsprechertum“, stellt Ingendaay fest.

Wie Uhren mit Fußballstiefeln

José Sámano (El País) rekapituliert Entwicklung und Spezifika von “La Roja”: Die spanische Auswahl begann mit ihrem Quijote-Abenteuer in Wien vor vier Jahren und landete auf dem Mond in Johannesburg, krönte ihre Leistung in Kiew mit der dritten Krone, die wie eine Reise zum Mars erschien. (…) Das Finale unterstrich, dass diese Mannschaft spielt und kämpft, mit oder ohne Stürmer, und dass sie sich immer etwas einfallen lassen, weil sie eine Menge Spieler haben, die wie Uhren mit Fußballstiefeln agieren, ausdrucklose Gesichter, die mit dieser blassen Erscheinung aber wie wilde Tiere kämpfen.”

Uwe Ritzer bilanziert in der Süddeutschen Zeitung über die EM aus marketingtechnischer Sicht: „Jeder Hauptsponsor zahlte bis zu 40 Millionen Euro an den europäischen Fußballverband Uefa. Damit das Sponsoring tatsächlich Sinn macht, muss ein Unternehmen noch einmal soviel für begleitende Werbung und Marketing ausgeben. Längst sehen Kritiker angesichts solcher Zahlen den Fußballsport geopfert auf dem Altar des Kommerzes.“

Mehr auf sueddeutsche.de

Tausende von leeren Plätzen

Richard Williams (Guardian) kritisiert die Preispolitik beim Turnier: “In einer Angelegenheit muss die Uefa Maßnahmen ergreifen, mämlich bei den Eintrittspreisen. Was auch immer Platini behaupten mag, es gab Tausende von leeren Plätzen bei einem Halbfinale zwischen Spanien und Portugal, das im Bernabéu-Stadion oder im Estádio da Luz ausverkauft gewesen wäre und im Wembley-Stadion und im Stade de France sogar mehrfach ausverkauft gewesen wäre. Die Tickets hätten den Fans vor Ort zu einem Preis angeboten werden sollen, der sich an dem orientiert, was die Bürger der Kohle- und Stahl-Stadt für ein Champions-League-Spiel des FC Shakhtar bezahlen müssen.”

In einem Gastkommentar für die KyivPost zieht der amerikanische Journalist Ian Bateson ein Fazit der im Kontext der Europameisterschaft geführten Rassismus-Debatte: “Was die Euro 2012 nicht aufwies, war eine deutlich ausgeprägte Ost-West-Kluft zwischen Rassisten und Nicht-Rassisten. Was auch immer der Grund dafür sein mag, scheint Rassismus ein wachsender Bestandteil des Fußballs zu sein, aber eben nicht nur in Polen und der Ukraine. Während sich der Sport weiter entwickelt, bleibt die Herausforderung für dieses schöne Spiel, rassistische Konflikte zu vermeiden, statt zu verstärken.”

Keine Proteste während des Turniers

Liane von Billerbeck (Deutschlandradio Kultur) im Gespräch mit dem ukrainischen Schriftsteller Andrej Kurkow über die vertane Chance, die EM als Plattform für weitreichende Proteste zu nutzen: „Europa hat stark den europäischen Boykott der Meisterschaft unterstützt und eigentlich provoziert, ja. Aber während der Meisterschaft gab es fast keinen Protest. Es gab eine lustige Demonstration von englischen Fußballfans in Donezk, aber diese Demonstration war eigentlich gegen BBC-Rundfunk und Fernsehen, weil BBC in der Fernsehsendung ‚Panorama‘ gezeigt hat, dass die Ukraine eine Gesellschaft mit viel Rassismus ist und eigentlich nicht so freundlich zu Fußballfans afrikanischer oder asiatischer Herkunft ist.“

Steffen Dobbert (Zeit Online) fällt es im Hinblick auf ein Fazit der Europameisterschaft nicht leicht, einem Fußballfunktionär beizupflichten, aber: “Es fehlen gute Argumente, um Platini zu widersprechen. Diese EM verlief ohne große Proteste, ohne Pannen, ohne Chaos. Das ist umso beachtlicher, weil vor allem westliche Medien das Gegenteil vorhergesagt hatten. Noch vor wenigen Monaten diskutierten einige ernsthaft, ob statt in der Ukraine lieber in Berlin oder Leipzig gespielt werden soll.“

Frank Hellmann (Stuttgarter Zeitung) sieht hinter der Aufstockung der nächsten EM von 16 auf 24 Teams ein sportpolitisches Kalkül: „Mit Aufblähungen der Uefa-Wettbewerbe sichert sich der charmante Franzose den Rückhalt unter den 53 Mitgliedsverbänden. Dass künftig Abstellungsgebühren von 100 Millionen Euro an 580 Clubs ausgeschüttet werden, ist auch so ein Zugeständnis. Davon gehen neuerdings 40 Millionen Euro an die Teilnehmer der Qualifikationsphase, also werden auch Armenien, Albanien oder Andorra belohnt, Nationalspieler hervorzubringen.“

Alte Seilschaften blockieren polnischen Fußball

Der polnische Fußballverband steht nach der EM vor einem Umbruch. Im Oktober endet die Amtszeit des Präsidenten Grzegorz Lato. Uli Räther (taz) schreibt über dessen mögliche Nachfolger: „Alle drei Herren haben eins gemeinsam: sie sind Repräsentanten des ‚Ancien Régime‘, das die Schaffung von transparenten, effizienten Strukturen im polnischen Fußball seit mehr als zwei Jahrzehnten blockiert. Als die EM 2012 vor fünf Jahren an Polen und die Ukraine vergeben wurden, fand eine Initialzündung nicht statt, obwohl die Gelder da gewesen wären. Weder wurde die Nachwuchsförderung grundlegend systematisiert noch ein geordnetes Lizenzierungsverfahren der Profiklubs entwickelt und das Gewaltpotenzial in deren Umfeld bekämpft. Der polnische Fußball braucht jetzt Impulse von außen, durch die die Macht der alten Seilschaften beim Verband gebrochen werden kann.“

Und Ronny Blaschke (Deutschlandfunk) zieht für die kritische Berichterstattung über das Gastgeberland Ukraine selbstkritisch Bilanz “Wir Medien müssen feststellen, dass wir vor dem Turnier auch falsche Themen gesetzt haben: ausufernder Sextourismus, das Schlachten von Straßenhunden, utopische Hotelpreise. Keiner der vorhergesagten Skandale wurde wahr. Stattdessen wurden Themen überdeckt, für die sich nun das Fenster der Öffentlichkeit schließt: die hohe Aids-Rate, Defizite in Bildung und Gesundheit, die strukturelle Benachteiligung von Minderheiten.”

freistoss des tages

Mitarbeit: Pepe Fernandez und Erik Meyer

Kommentare

2 Kommentare zu “Del Bosque – der bessere König?”

  1. Frosch
    Dienstag, 3. Juli 2012 um 12:16

    „Die Banken schwatzten sogar Analphabeten und Kindern Kredite auf“, schreibt Javier Caceres. Ich habe noch nie eine Bank erlebt, die Kredite aufschwatzt. Ist es nicht so, dass heute jeder Analphabeten und jedes Kinder um Kredite bittet?

    Und ob die utopischen Hotelpreise wirklich ein falsches Medien-Thema waren, wie Ronny Blaschke behauptet, würde ich auch einmal in Frage stellen – wenn ich lese, dass die Familien der spanischen Sieger Sonntagnacht noch vor der Feier zurückfliegen mussten, weil sie keine Hotelzimmer fanden, dass tausende Fans in Kiew in Mietwagen übernachteten, weil sie kein Hotel bezahlen konnten oder schwedische Fans für ein Stück Rasen ohne Toilette und Dusche zum Zelten 60 Euro pro Tag zahlen mussten.

  2. Knülle
    Mittwoch, 4. Juli 2012 um 18:00

    Den Spaniern sei von meiner Seite aus der Sieg gegönnt. Das Land ist derzeit so schwer gebeutelt von der Krise und gleichzeitig so tapfer im vergleich zu anderen Südeuropäischen Ländern, dass es diesen moralischen positiven Schub wirklich gut vertragen kann.

  • Quellen

  • Blogroll

  • Kategorien

  • Ballschrank

113 queries. 0,502 seconds.