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WM 2018

WM 2018 – Adrenalin, Korruption und billiges Bier

Kai Butterweck | Freitag, 13. Juli 2018 Kommentare deaktiviert für WM 2018 – Adrenalin, Korruption und billiges Bier

Die Presse beschäftigt sich heute mit sensationsgierigen Kroaten, schniefenden Briten und Wohlfühloasen im russischen Nirgendwo

Kurz vor dem sportlichen Showdown entfernt Peter Müller (reviersport.de) den Button mit der Aufschrift „Außenseiter“ von der Kabinentür der Kroaten: „Wer würde es jetzt noch wagen, diese Kroaten zu unterschätzen? Sie sind vollgepumpt mit Adrenalin, sie gehen an ihre Grenzen und manchmal darüber hinaus, sie kämpfen mit Herz und Hingabe für ihre Mitspieler, für ihre Fans, für ihr Land. Rückstand? Jetzt erst recht. Verlängerung? Schon dreimal überstanden. Elfmeterschießen? Kein Grund zur Panik.“

Dieter Hoß (stern.de) hievt die Kroaten auf den Noch-nie-dagewesen-Thron: „Schon jetzt hat Kroatien etwas geschafft, was im modernen, professionalisierten Weltfußball noch nie gelungen ist: Der kleine Verband mit 94.000 Mitgliedern und 1300 Vereinen (zum Vergleich der DFB: 7 Millionen Mitglieder, fast 25.000 Vereine) ist in die Phalanx der ewigen Favoriten eingedrungen. Zum ersten Mal seit der WM 1962 steht eine Nation im Endspiel einer Fußball-WM, die nicht zum scheinbar unantastbaren Club der erlauchten Fußballnationen zählt.“

Einer der besten Mittelfeldspieler der Welt

Krsto Lazarevic (Welt) steht im Modric-Trikot vor der kroatischen Fankurve: „Anfang 1992 flüchtete seine Familie in die kroatische Küstenstadt Zadar und lebte dort in einem zum Flüchtlingslager umfunktionierten Hotel. Luka Modrics Vater meldete den damals Sechsjährigen in der Fußballschule des NK Zadar ein. Im Alter von zehn Jahren absolvierte Modric ein Probetraining bei Hajduk Split und wurde dort abgelehnt, weil er zu schwach sei. Doch davon ließ er seinen Willen nicht brechen und wurde zum Kapitän einer Nationalmannschaft, die nun im WM-Finale steht, und zu einem der besten Mittelfeldspieler der Welt.“

Andreas Rüttenauer (taz) rennt dem jubelnden Domagoj Vida hinterher: „Es war ein Riesenspiel, das Vida gezeigt hat. Seine zwei schnellsten Sprints gehen gar nicht in die Statistik ein. Nach dem 2:1 durch Mandžukić war er nicht zu halten auf dem Weg zum Torschützen. Nach dem Schlusspfiff rannte keiner so schnell zur kroatischen Kurve wie Vida. Im Spiel war es eher sein Stellungsspiel, das die englischen Stürmer Harry Kane und Raheem Sterling bisweilen so alt hat aussehen lassen. Das war so beeindruckend, dass man sich vorstellen kann, dass er Frankreichs Phänomen Kylian Mbappé im Endspiel gewachsen sein könnte.“

Korruption und Vetternwirtschaft

Die Freude über den Finaleinzug verdrängt die großen Probleme Kroatiens. Keno Verseck (Spiegel Online) blickt hinter die Fassade: „Tatsächlich wirkt die augenblickliche Stimmung im Land wie die Kehrseite der normalen Befindlichkeit vieler Menschen in Kroatien. Zwei Jahrzehnte nach Kriegsende und fünf Jahre nach dem EU-Beitritt im Juli 2013 haben viele Kroaten die Zuversicht über eine gute politische und wirtschaftliche Entwicklung ihres Landes verloren, sehen mangelnde Lebensperspektiven, Korruption und Vetternwirtschaft als Hauptprobleme an und verlassen das Land in Scharen.“

Fußball und Politik sind in Kroatien eng miteinander verknüpft. Gianni Costa und Matthias Beermann (RP Online) wissen, warum das so ist: „Für die meisten der 4,2 Millionen Kroaten sind nationalistische Symbole und Rhetorik überhaupt kein Problem. Und im Milieu des Fußballs schon gar nicht. Seit das unabhängige Kroatien 1991 aus den Trümmern Jugoslawiens entstand, wurde der Fußball politisch instrumentalisiert und zu einer Ikone des kroatischen Nationalismus stilisiert. Weil die Kicker der kleinen Nation auf dem Rasen erheblich erfolgreicher waren als alle anderen Institutionen des jungen Staates, konzentrierte sich die patriotische Verehrung auf sie.“

Während Kroatien feiert, versinkt England im Tal der Tränen. Der britische Gastkolumnist Shaun Custis (ksta.de) verteilt Taschentücher: „Die Weltmeisterschaft war unser heller Moment. Das Land hat dieses verbindende Element durch den sportlichen Erfolg gebraucht. Er brachte uns Freude in einen schwierigen Alltag, der von Unsicherheit und Spaltung, Brexit und politischen Zerwürfnissen geprägt ist. Dass diese Freudezeit nun vorbei ist, macht mich sehr traurig.“

Angst vor Konsequenzen

Das große Fan-Fest in Moskau findet auf dem Campus der Lomonossow-Universität statt. Lange protestierten Studenten gegen das laute und bunte Treiben. Mittlerweile sind die meisten Anti-Stimmen verstummt. Andreas Bock (Tagesspiegel) klärt auf: „Heute, wenige Tage vor Ende der WM, trauen sich die Studenten nicht mehr, darüber zu sprechen. Sie haben Angst vor Konsequenzen. Viele haben sogar Sorge, dass sie keinen Job mehr in Russland bekommen, weil sie als kritische Demonstranten gebrandmarkt sind. Einmal, erzählt Bikow, verschwanden über Nacht drei Demonstranten, niemand wusste wo sie waren. Irgendwann tauchten sie wieder auf, sie waren verhaftet worden. Andere wurden zu Wiktor Sadownitschi zitiert, dem Uni-Rektor, der als Anhänger von Präsident Wladimir Putin gilt.“

Jan Schwenkenbecher (SZ) besucht die Fanmeile in Berlin: „Vor vier Jahren hatten hier noch Hunderttausende der DFB-Elf nach dem Gewinn des Weltmeistertitels in Brasilien zugejubelt. Diesmal schlendern Leute mit Tagesrucksack umher, knipsen hier und da ein Selfie. Drei Mitarbeiter haben mitten auf der Straße ihre Klappstühle aufgebaut. Die Leere in Zahlen: In drei von 26 Riesenradgondeln sitzen Menschen, 22 von 52 Dixie-Klos sind zur Nutzung freigegeben.“

Ralph Grosse-Bley (focus.de) checkt im deutschen Manschaftshotel in Watutinki ein: „Es ist von außen ein schönes Hotel. In einem Park gelegen, viel üppiges Grün, alte Bäume, gepflegter Rasen, prächtige Auffahrt. Du darfst nur nicht reingehen. Ich sitze an der Lobby-Bar. Allein. Kein Gast weit und breit. Die Barfrau guckt nett, versteht aber nur russisch. Das Bier, das sie zapft, ist brutal billig (1,30 Euro für 0,4 Liter). Snacks hat sie nicht. Wer soll die auch kaufen? Das riesige Hotel ist ein Geisterhaus.“

Fabian Scheler (Zeit Online) hält sich auf dem Weg ins Stadioninnere Augen und Ohren zu: „Wer in ein WM-Stadion will, muss an der Fanzone vorbei, in der die Sponsoren des Weltverbandes auf ihre Kunden lauern. Hier wird klar, dass an manchen Untergangszenarien, die rund um die Kommerzialisierung des Fußballs verbreitet werden, vielleicht doch was dran ist.“

Tiki-Taka hat ausgedient

Stefan Nestler (dw.com) zieht schon mal ein sportliches Vorab-WM-Fazit: „Erfolgreich waren jene Teams, die aus einer sicheren Abwehr heraus blitzschnelle Angriffe starteten. Der gute alte Konter als Erfolgsrezept, heute nennt man das Umschaltspiel. Tiki-Taka, jenes Kurzpassspiel, das die Spanier perfektioniert hatten und das über Jahre als Nonplusultra gefeiert worden war, hat ausgedient. Die drei Mannschaften mit der höchsten Ballbesitzquote scheiterten früh: Deutschland in der Vorrunde, Spanien und Argentinien im Achtelfinale.“

Im Interview mit taz.de spricht ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt über die aktuelle WM und die folgende in Katar: „Allein schon die menschenverachtenden Bedingungen für die Arbeiter auf den WM-Baustellen mit all den tragischen Konsequenzen für Leib und Leben waren schlicht unfassbar und in keinster Weise zu entschuldigen. Aber selbst die simpelsten Kriterien für eine Vergabe waren für die Fifa ja offenbar zunächst unwichtig. Dass die WM-Vergabe an Katar nicht von Vernunft, sondern von offenkundig anderen Interessen geleitet war, liegt auf der Hand.“

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