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Am Grünen Tisch

Allen Europas veränderte Landkarte vor Augen geführt

Oliver Fritsch | Donnerstag, 19. April 2007 Kommentare deaktiviert für Allen Europas veränderte Landkarte vor Augen geführt

Sehr gemischte Meinungen zur Entscheidung der Uefa, die EM 2012 Ukraine und Polen zuzusprechen: Politisch wertet sie die Presse zum Teil euphorisch als Öffnungsangebot an Osteuropa; große Bedenken bestehen gegen die siegreichen Funktionäre

Die Leitglosse der FAZ kommentiert die Vergabe der EM an Polen und Ukraine aus europapolitischer Perspektive bejahend: „Die Entscheidung der Uefa ist ein Signal, das die Politik nicht ignorieren sollte. Politisch nämlich fährt es sich gegenwärtig holprig in Polen und in der Ukraine. Warschau zuckt in den Konvulsionen eines unbefriedigten, religiös untermalten Nationalstolzes, und in der Ukraine tobt ein regelloser Kampf aller gegen alle. In beiden Ländern aber kann die Konsequenz nicht sein, die Wege einfach verfallen zu lassen, die sie mit Europa verbinden. Die Löcher müssen vielmehr verfüllt und die Wegweiser erneuert werden. Strategische Interessen des Westens – Energietransit, Raketenabwehr – sind dafür nicht einmal der entscheidende Grund. Wichtiger ist, daß ein Blick weiter nach Osten, nach Rußland, genügt, um am Unterschied zu erkennen, daß Polen ebenso wie die Ukraine ganz grundsätzlich zum Westen gehören. Das gegenwärtige Chaos in Kiew ändert daran nicht viel. Die lebendige Konkurrenz zweier Lager, die unentwegten friedlichen Demonstrationen beweisen vielmehr, daß die Ukraine das Potential hat, einer anderen Welt anzugehören als Rußland mit seiner Grabesruhe, seinen prügelnden Polizisten und seiner erbarmungslosen Hegemonialpolitik. Diese andere Welt aber ist Europa, und die Mühen des Weges, einschließlich der Mühen der Europäischen Union mit sich selbst, dürfen nicht dazu führen, daß dieses Land verlorengeht.“

Sven Goldmann (Tagesspiegel) verweist auf die Chancen: „Wahrscheinlich wird einiges in Bewegung geraten. In Osteuropa werden moderne Stadien entstehen, das öffentliche Interesse wird sich geographisch verlagern. Als Gastgeber für die Fußballelite sind die Polen endlich angekommen in der Gemeinschaft. Und sie richten das Turnier nicht allein aus – ein schönes Signal dafür, daß weiter östlich noch mehr Europa ist.“ Auch Roland Zorn (FAZ) feiert die Entscheidung: „Das gab es noch nie, soll aber erst der Anfang der neuen Realität sein. Europäische Fußball-Großereignisse sind nicht mehr ausschließlich ein Fall für erprobte Ausrichterländer aus West- oder Südeuropa. Die Uefa hat allen, die an die traditionelle Verteilung der Pfründe glaubten, Europas veränderte Landkarte vor Augen geführt. So wie die Europäische Union ihren Kinderschuhen entwachsen und auf inzwischen 27 Staaten erweitert worden ist, mußte sich auch das Spektrum des Fußballs auf diesem Kontinent vergrößern. Die Uefa-Exekutive hat Fingerspitzengefühl bewiesen und den Mut, endlich auch andere als die allseits bekannten Wege zu gehen.“

Korrupt, vergessen, vergeben

Konrad Schuller (FAZ) hingegen zeigt auf die Verstrickungen des ukrainischen und polnischen Fußballs in die Vergangenheit: „In beiden Ländern liegt das Fußball-Establishment in schwerem Konflikt mit den Regierungen – und zwar genau deswegen, weil es zu jenen Segmenten der Gesellschaft gehört, in welchen postkommunistische Strukturen, grassierende Korruption und Oligarchenherrschaft nach wie vor in Blüte stehen. In Polen haben Staatsanwaltschaft und Polizei erst im Jahr 2005 ein Netzwerk von Schieberei, arrangierten Siegen und Wettbetrug aufgedeckt, das mittlerweile zu Festnahmen und Verfahren gegen mehr als fünf Dutzend Schiedsrichter, Funktionäre und Spieler geführt hat. In der Ukraine ist Fußball womöglich noch enger mit postkommunistischen Netzwerken verbunden. Die wichtigsten Fußballklubs, Dynamo Kiew und Schachtjor Donezk, sowie der nationale Fußballverband sind in der Hand der milliardenschweren Oligarchen Grigorij Surkis und Rinat Achmetow sowie ihrer Verwandten. Beide gehören zum Unterstützerfeld des ‚blauen‘ Lagers, das sich der Demokratisierung der Ukraine seit Jahren widersetzt.“

Thomas Kistner (SZ) beanstandet die Geschäftsmoral der Spitzenfunktionäre: „Sinnfällig für eine gewisse Verwahrlosung im Fußball steht nun das Siegerbild von Cardiff: Die triumphierenden Verbandsfürsten Michal Listkiewicz (Polen) und Grigorij Surkis (Ukraine). Listkiewicz verwaltet einen so korrupten Spielbetrieb, daß ihn Sportminister Thomas Lipiec im Januar wegen der Verwicklung in einen Manipulationsskandal suspendiert hatte, dazu der komplette Verbandsvorstand. Rund 70 Personen – Referees, Klubchefs, Funktionäre – wurden verhaftet. Doch die Fifa, deren Chef Sepp Blatter privat ein Freund von Listkiewicz ist, reagierte mit einem Ultimatum bis Ende März: Polen würde aus dem Weltfußballbetrieb ausgeschlossen, wenn bis Ende März die Funktionäre nicht wieder eingesetzt sind. Was ja auch bedeutet hätte: keine Euro-Kür im April. Anzunehmen, daß da jede Regierung einknickt – Politiker wollen wiedergewählt werden, auch von Millionen Fußballfans im Lande. Auch dem Triumphator Surkis wird seine Vergangenheit nicht nachgetragen. Etwa, daß er einst als Klubchef von Dynamo Kiew in eine Schiedsrichterbestechung verwickelt war, die seinem Bruder immerhin einen lebenslänglichen Bannstrahl durch die Uefa eintrug. Vergessen, vergeben.“

Matti Lieske (Berliner Zeitung) schreibt mit Blick auf die mangelhaften Alternativen Italien und Ungarn/Kroatien: „Die Europameisterschaft 2012 einfach absagen, ging irgendwie nicht. Also mußte die Uefa wohl oder übel entscheiden, wo das Turnier ausgetragen werden soll.“

SZ: Ukraine und Polen verbinden mit der EM politische Hoffnung
rund-magazin.de: Polen und Ukraine wird ein Boom vorausgesagt, zuvor müssen allerdings noch viele Probleme gelöst werden
SpOn: Die Entscheidung der Uefa setzt die Gastgeber auch unter Druck; es fehlt an geeigneten Stadien, Korruption und Gewalt dominieren mancherorts den Sportalltag

Der Trailer Danzigs mit Lech Walesa (warum eigentlich nicht Günter Grass?)

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