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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Deutschland, ein Rumpelmärchen

Oliver Fritsch | Mittwoch, 18. Juni 2008 Kommentare deaktiviert für Deutschland, ein Rumpelmärchen

Deutschland 2008 erinnert an Deutschland 2000 bis 2004 – die Presse nimmt’s zum Teil gelassen, zum Teil verärgert, zum Teil spöttisch / Die Anführer Michael Ballack und Torsten Frings ziehen die Zweifel der Journalisten und anscheinend auch einiger Spieler auf sich / Endlich Kritik an den Verhandlungen zwischen Bayern München und Mario Gomez, unserem melancholischen Stürmer

Christof Kneer (SZ) stöhnt in Anbetracht der Rückbesinnung der Deutschen auf ihre Wurzeln, ist andererseits aber erleichtert über diese Repertoire-Erweiterung: „Diese Vorrunde war einem so vertraut, dass man sie fast nicht wiedererkannt hätte. Es war eine Vorrunde, die sich kaum von jenen Zeiten unterschied, die Löws neues Deutschland ausdrücklich für überwunden erklärt hatte. Deutschland, ein Rumpelmärchen – nach dem Spiel gegen Österreich wurde jede urdeutsche Kampfesfloskel in den Mund genommen, die nicht bei drei aus dem Stadion verschwunden war. Wer will, der kann die Wiederentdeckung der Tugendrhetorik durchaus für einen Fortschritt halten, denn man konnte sich ja bis Montagabend nicht sicher sein, ob Löws saubere Laptop-Elf überhaupt noch die gute, alte Schmutzlösung im Programm hat. Sie hat – dank Ballacks kunstvollem Brachialtor brachten die Deutschen das Spiel in ihre Gewalt. Löws Anspruch aber sind gewaltlose Siege; sein Deutschland soll eigentlich nicht per Faustschlag gewinnen, sondern mit manikürten Fingernägeln.“

Wunsch und Wirklichkeit

Michael Horeni (FAZ) nennt der Teamführung deutlich die Unterschiede zwischen Wort und Tat, zwischen Theorie und Praxis: „Wenn die Wirklichkeit doch nur so wäre, wie die deutsche Nationalmannschaft sie wahrnimmt! Aber seit Wochen findet die Wirklichkeit nur noch schwerlich Zugang zum deutschen Lager. Der Bundestrainer und seine Spieler haben es sich zunehmend in ihrer eigenen Wunschwelt bequem gemacht, in der nicht erst seit den kümmerlichen Auftritten gegen Österreich und Kroatien nicht mehr sein kann, was nicht sein darf. Vor dem Spiel gegen Österreich kündigte der Bundestrainer zahlreiche Änderungen an. Neue Spieler sollten kommen, eine aufgefrischte Spielweise sollte zu sehen sein. Das war die Wunschvorstellung. Die Wirklichkeit sieht so aus: Bis auf den verletzten Marcell Jansen blieb personell alles so, wie es war – und auch spielerisch wurde nichts besser. Oder die Fitnessfrage: Die Führung sprach vor der EM von der vielleicht besten Vorbereitung auf ein Turnier. Das war ihre Wunschvorstellung. Die Wirklichkeit sieht derzeit so aus: Die Mannschaft ist nicht topfit, zu viele Spieler haben ihre Defizite nach Verletzungspausen nicht aufarbeiten können. Vor dem Viertelfinale sagt der Bundestrainer jetzt, dass ein spielerisch stärkeres Team wie Portugal der deutschen Mannschaft entgegenkomme. Das ist die Wunschvorstellung. Wenn sich bis Donnerstag nicht doch noch Entscheidendes ändert, droht den deutschen Verdrängungseuropameistern der nächste Realitätsschock.“

Überlebensausrüstung

Stefan Osterhaus (Neue Zürcher Zeitung) hingegen gesteht der Elf zu, pragmatische Lösungen zu suchen und ästhetische zu vernachlässigen: „Die Performance gegen den Erzrivalen war nach der Niederlage gegen Kroatien eine Leistung, wie sie zur Überlebensausrüstung jeder halbwegs erfolgsträchtigen Mannschaft gehört. Virtuosität für die Dauer von neunzig Minuten nicht als einzig erstrebenswertes Ideal zu betrachten, zeugt wenigstens von Realitätssinn, wie er in noch höherem Maße nötig ist, um gegen Portugal zu bestehen. Die Deutschen kramten reflexartig alte Methoden hervor, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eher zum Erfolg führen werden als der Versuch, eine Spielkultur zu demonstrieren, die die Mannschaft noch nicht hinreichend verinnerlicht hat. Das Team zeigte nicht mehr und nicht weniger als robustes Handwerkzeug. Es tat, was notwendig war.“

Nicht glänzen, gewinnen

Andreas Lesch (Financial Times Deutschland): „Die deutschen Spieler haben einen Stil gezeigt, der mit den fußballerischen Idealen ihres Bundestrainers nicht das Geringste zu tun hat. Sie sind ganz und gar unlöwianisch aufgetreten. Aber sie haben das nicht mit böser Absicht getan. Sie können zurzeit nicht anders. Sie sind schon froh, wenn sie ein harmloses Gegnerlein wie Österreich überhaupt bezwingen. Sie haben sich nicht als Erlebnisfußballer, sondern als Ergebnisfußballer definiert. Unter Löw, der mit Feuereifer über Vertikalpässe, Ballannahme im Höchsttempo und offensive Brillanz doziert, gibt die Nationalmannschaft sich plötzlich so altdeutsch wie in längst überwunden geglaubten Zeiten. Sie will nicht glänzen, sondern gewinnen.“

Einsprüche gegen die Doppel-Herrscher

Die Alpha-Tiere Ballack und Frings geraten in den Blickpunkt. Lesch zieht ihre Dominanz im Team in Zweifel, solange sie nicht durch Leistung gedeckt ist: „Das deutsche Spiel hakt und ruckelt, es fließt nicht. Es basiert maßgeblich auf der Leistung der beiden Führungskräfte Frings und Ballack. Frings näherte sich gegen Österreich bedrohlich dem inoffiziellen Fehlpassweltrekord, er spielte nahezu jeden Ball in den mitspielerfreien Raum. Er agierte so schwach, dass Ballack sich zu selten nach vorn traute. Beide meckern auffällig oft ihre Mitspieler an. Wenn aber Frings schlechte Laune mit Altherrenkickerei kombiniert und Ballack kaum zum Torschuss kommt, dann wird die Fixierung des Teams auf dieses Duo zum Problem.“

Auch Philipp Selldorf (SZ) muss daran denken, wenn er sich Michael Ballacks Tor in Zeitlupe ansieht: „Im Fußball können Tore sprechen, und dieses Tor besagte, dass der Chef sich der Pflicht bewusst ist, dass er das Besondere zum Erfolg beitragen muss. Mit Nebenmann Frings hatte Ballack während des Kroatien-Spiels die übrigen Spieler verbal ziemlich herumgescheucht. Die herrische Art der Bosse, die zurzeit ein Autoritätsmonopol besetzen, hat nicht allen gepasst, wie Ballack selbst andeutete, als er aus der internen Mannschaftssitzung berichtete (‚Fußball ist nicht immer Harmonie’). Offenbar wurden Einsprüche gegen die Doppel-Herrscher laut, aber geschadet hat das nicht.“

Lies auch das seltsame Interview mit Ballack und Frings in der SZ der letzten Woche

Aus Mitspielern werden Rivalen

Michael Ashelm (FAZ) stört sich an den Vertragsverhandlungen zwischen Mario Gomez und Bayern München: „Gomez macht es seinen Kritikern derzeit leicht. Zur Ladehemmung auf dem Rasen kommen die Spekulationen, wohin es ihn bald hintreiben könnte. Diese Diskussion kann ihm nicht gefallen. ‚Sein Marktwert fällt’, schreibt das spanische Sportblatt ‚Marca’ hämisch. Der Stuttgarter soll mit dem FC Barcelona verhandeln. Den viel größeren Wirbel lösen allerdings die Gerüchte über den Kontakt mit dem FC Bayern aus. Karl-Heinz Rummenigge bestätigte, dass Gomez ‚ein Thema’ sei. Die täglichen Meldungen von der Wechselbörse sollen schon für atmosphärische Störungen innerhalb der Nationalmannschaft gesorgt haben. Gomez‘ Teamkollegen Podolski und Klose könnten sich durch die Gerüchte verunsichert fühlen, weil es indirekt ihre Zukunft bei den Bayern betrifft. Der Mitspieler Gomez ist plötzlich noch mehr ein Rivale. Diese Konfliktsituation und das sportliche Leiden auf dem Platz haben ihn nun mit der vollen Wucht erwischt.“

Trainer Flick?

Kneer befasst sich zudem mit der möglichen Sperre für den Bundestrainer: „Löw wäre der erste Coach in der EM-Geschichte, der ein komplettes Spiel seiner Mannschaft von der Tribüne betrachten müsste – er dürfte kein Handy benutzen und keinen Sprechfunk und er dürfte auch keine Spickzettel zu Papierfliegern falten und in den Innenraum hinunterwerfen. Der alleinverantwortliche Trainer im EM-Viertelfinale hieße Hansi Flick. Unter dem Präsidenten Lennart Johannson galt die Uefa traditionell als deutschfreundlich, aber nun, da der Blatter-Zögling Michel Platini dem Verband vorsitzt, ist das Ergebnis der Verhandlung fast so offen wie ein gutes Viertelfinale.“

Momentum nicht genutzt

Roland Zorn (FAZ) kommentiert den Austritt Österreichs aus dem Turnier: „Österreich kann sich wieder ganz auf seine beste und überzeugendste Rolle konzentrieren: die eines perfekten Gastgebers. Die vielen rot-weiß-roten Luftballons, die die Fans in ihren Träumen und in der Hoffnung auf eine wundersame Erfolgsgeschichte bei diesem Turnier der Besten hatten in den Himmel steigen lassen, sind nicht mit einem lauten Knall geplatzt, ihnen ging nahezu undramatisch die Luft aus. Österreich gegen Deutschland atmete nicht den Geist einer epischen Auseinandersetzung zwischen Groß und Klein. Vielmehr haftete diesem Aufeinandertreffen zweier nervöser, unsicherer, von sich selbst nicht überzeugter Mannschaften nie das Flair eines besonderen Spiels an. Die große Gelegenheit, unter Druck erst recht Stärke zu zeigen, ließen die Teams verstreichen – und am Ende stand für die mit 0:1 knapp unterlegenen Herausforderer aus Österreich die ernüchternde Erkenntnis, das Momentum eines außergewöhnlichen Landesfeiertages nicht genutzt zu haben. Der Wahrheit die Ehre: Mit einer schwächeren Bilanz – ein Punkt, ein Tor in drei Gruppenspielen – hat sich noch keine Ausrichternation von einer Europameisterschaft verabschiedet. Was blieb, waren die wohlverpackten Trostpreise.“

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