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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Am Grünen Tisch

Jubelarien einer Kanzlerin oder Sommermärchen Reloaded

Marc Vits | Montag, 5. Juli 2010 2 Kommentare

Beim Viertelfinalsieg der deutschen Nationalmannschaft fiel ein Fan besonders auf, Angela Merkel verbreitete auf der Tribüne gute Stimmung; doch die Presse ist geteilter Meinung über den Auftritt der Kanzlerin

Mit den Gefühlsausbrüchen des Edel-Fans beschäftigt sich Oskar Beck (Welt Online). Dabei sei Angela Merkel „beim Jubeln in Kapstadt nicht als Politikerin aufgefallen – sie war Mensch. Gefreut hat sie sich, echt und ehrlich, da war nichts gespielt, das war keine Schauspielerei, keine Schwalbe auf der Tribüne.“ So erklären sich wohl auch die positiven Reaktionen der internationalen Journalisten vor Ort, die immer dann besonders heftig ausgefallen seien, wenn auf den Bildschirmen die Kanzlerin erschien, „wie sie fassungslos, mitgerissen, überwältigt und ziellos über die Tribüne irrte, um irgendeinen zu finden, den sie noch nicht umarmt und geküsst hatte. Seit sie beim Sommermärchen ’06 mit Kaiser Franz auf der Tribüne diesen Boogie-Woogie getanzt hatte, wussten wir zwar, wozu sie beim Gefühlsausbruch fähig ist, aber so fulminant war sie als Kanzlerin noch nie.“ Für Beck stelle sich deshalb nur noch eine Frage: „Wann bläst unsere Kanzlerin vollends in eine Vuvuzela – am Mittwoch im Halbfinale oder erst beim Endspiel?“

Löws Plan gegen Merkels Wirr-Warr

Rouven Schellenberger (FR) sieht die Verbindung zwischen Politik und Fußball wesentlich kritischer. Seit Beginn der Weltmeisterschaft habe sich der deutsche Regierungsapparat die Begeisterung für den Fußball zu Nütze gemacht. Die Politik habe „die Sprache des Fußballs ungefragt übernommen und so in ihr Vokabular integriert wie Maradona seinen Star Lionel Messi: immer dabei, aber nie wirklich strahlend. Die Kanzlerin verglich bei der für sie desaströsen Wahl des Bundespräsidenten die zweite Abstimmung mit dem verlorenen Spiel gegen Serbien und den dritten Wahlgang mit dem Triumph gegen England.“ Der Zeitpunkt für solche Sinnbilder sei jedoch schlecht gewählt: „Je näher sich Politik und Fußball nämlich kommen in diesen Tagen, desto weiter entfernt voneinander erscheinen sie uns. Das deutsche Fußballmärchen gründet nicht auf den viel beschworenen Tugenden, auch nicht auf Teamgeist und dem nun international bewunderten technischen Talent allein. Dahinter steckt eine sorgfältige Planung des Erfolgs, eine strategische Meisterleistung. Der Bundestrainer und sein Team haben, ganz im Gegensatz zur Bundesregierung, ein klar umrissenes Projekt entworfen.“ In Merkels Kabinett mache hingegen jeder, was er wolle. Deshalb müsse die Kanzlerin, „deren Autorität fast täglich von Parteifreunden in Frage gestellt wird, Joachim Löw um seinen festen Platz im heimischen Gefüge beneiden. Und darum hat sie ihr internationales Renommee so schnell verspielt, wie Löws Truppe die Fachwelt gar in England verzauberte.“

Böses Erwachen aus dem Traum von Kapstadt?

Auch Karl Doemens (Berliner Zeitung) stellt sich die Frage, wie es für Angela Merkel nach den Jubelbildern aus Südafrika im politischen Berlin weitergehe. So scheine die Kanzlerin bei der WM all ihre Sorgen für kurze Zeit hinter sich gelassen zu haben: „Rund 26 Millionen Fernsehzuschauer auf deutschen Plätzen, in Kleingärten oder Wohnzimmern können ein seltenes Spektakel verfolgen: die Kanzlerin im Glück. Vergessen scheint die Umfrage der ARD-Tagesthemen, bei der drei Viertel der Befragten erklärten, Merkel habe ihre Koalition nicht mehr im Griff.“ Genau diesen Plan haben ihre Berater verfolgt, als sie ihr rieten, schon zum Viertelfinale nach Südafrika zu fliegen. „Ganz schnell weit weg vom Debakel der verstolperten Bundespräsidenten-Wahl, von den Vuvuzela-Klängen des Unmuts im Unions-Lager und der drohenden Schmach eines Eigentors bei der Gesundheitsreform. Abrupter Szenenwechsel. Neue Bilder. Jogis Jungs befinden sich im medialen Höhenflug, und da möchte auch die Kanzlerin gerne dabei sein. 4:0 – ‚ein Traum‘, schwärmt Merkel und prostet Bastian Schweinsteiger in der Kabine mit Bier zu.“ Und doch stehe Merkel „nach dem Traum vom Kap ein böses Erwachen in Berlin bevor.“ Reformen im Gesundheitswesen und der umstrittene Spar-Haushalt würden ihre Schatten voraus werfen. „Da kann die Kanzlerin nur hoffen, dass Jogis Zauberer am Abend gegen Spanien die magere Leistung der schwarz-gelben Gurkentruppe vergessen machen. Trotzdem ist fraglich, ob Merkel am kommenden Sonntag zum Endspiel noch einmal nach Südafrika fliegen kann. Wahrscheinlich würde eher der neue Bundespräsident Christian Wulff den Glanz des goldenen Pokals abbekommen.“

Kommentare

2 Kommentare zu “Jubelarien einer Kanzlerin oder Sommermärchen Reloaded”

  1. Qotd
    Montag, 5. Juli 2010 um 14:05

    Quote of the day: „Who’s the WAG in the red coat they show every time Germany score?“ ( Guardian: World Cup 2010: Argentina v Germany – as it happened [87 min])

  2. 5 Freunde im Abseits » Blog Archiv » Die Tränen des Maradona
    Montag, 5. Juli 2010 um 20:01

    […] taumelnden (Noch-)Bundeskanzlerin im Spiel gegen Argentinien war (auch wenn das andere ganz anders interpretiert haben wollen). Bei jedem Tor warf sie einen Blick in die Runde, der bedeuten sollte: “Ist […]

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