indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

EM 2012

Die Doppelmoral der Uefa

Christoph Asche | Dienstag, 19. Juni 2012 2 Kommentare

Die ARD kann keine Fußball-Satire, Politiker sollen ihren Ukraine-Boykott aufheben und die Uefa muss ihren Strafenkatalog überdenken. Die Presseschau zum zehnten Tag der EM

Christian Mayer kommentiert in der heutigen Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung das ARD-Mitternachtsprogramm: „Waldis Club im Ersten ist keine Satire, auch wenn man bei der Sendung nach dem Dänemark-Spiel diesen Eindruck haben muss.“ Bei der Duz-Maschine Waldi triumphiere die völlige Distanzlosigkeit und „konzeptionell stimmt einfach nichts, selbst die harmlose Formation der Cheerleader gerät zur unfreiwilligen Lachnummer.“ In anderen sportverrückten Ländern dürfen alternde Sportlegenden das Spiel anschließend in alle Einzelteile zerlegen, das hat eine gewisse Würde, schreibt Mayer. „Nein, Waldis Club ist keine Satire. Was der völlig enthemmte Moderator hier treibt, ist Sabotage.“

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Dass eine Heim-EM einen enormen Druck mit sich bringt, hat Christian Eichler (FAZ.net) festgestellt: „Der Heimvorteil, von dem man im Fußball gern redet, wandelt sich zumindest bei den großen Turnieren mehr und mehr in einen Heimnachteil. Bei der vergangenen EM scheiterten beide Ausrichter, Österreich und die Schweiz, schon in der Vorrunde, was nun eine Wiederholung erleben wird, sollte nicht der Ukraine im letzten Gruppenspiel ein Sieg gegen England gelingen. Dazwischen war bei der WM 2010 auch Südafrika mit der doppelten Last überfordert, zugleich die globalen Erwartungen an eine gelungene Ausrichtung des Turniers und die nationalen Erwartungen an einen Erfolg des eigenen Teams zu erfüllen.“ Dagegen könnten politische Lasten geradezu befreiend wirken, bemerkt Eichler und meint damit den deutschen Viertelfinal-Gegner Griechenland.

Ein Sportboykott bewirkt nichts

Der Europaparlamentarier Werner Schulz fordert im Gespräch mit Claudia Ehrenstein (Welt Online) Politiker dazu auf, in der Ukraine politisches Rückgrat zu zeigen. Zur Entscheidung des Innenministers Hans-Peter Friedrich, sich ab dem Viertelfinale die deutschen Spiele vor Ort anzugucken, sagt er: „Was ist denn das für ein Signal? Ein Vorrundenboykott, der im Erfolgsfall aufgehoben wird? Ich hätte von Anfang an eine konsequente Haltung erwartet und die klare Ansage: Ich fahre in die Ukraine, aber ich schaue nicht nur auf den Rasen, sondern auch auf die politischen Verhältnisse im Land. Ein Sportboykott hat noch nie etwas bewirkt und nur den Sportlern geschadet.“

Ähnlich kritisch sieht es der ukrainische Schriftsteller Serghij Zhadan (Totalniy Futbol: Eine polnisch-ukrainische Fußballreise) im Interview mit Barbara Oertel (taz): “Es wäre wohl ehrlicher, eindeutiger und prinzipieller gewesen, wenn die westlichen Politiker nicht erst am Vorabend der EM begonnen hätten, über einen Boykott zu reden, sondern vor zwei Jahren, als Janukowitsch Präsident wurde. Sich jetzt darüber aufzuregen, das ist einfach unredlich.”

Marcus Christenson (Guardian) kritisiert die Unverhältnismäßigkeit der Strafe, die die Uefa gegen den dänischen Spieler Nicklas Bendtner verhängt hat. Dieser hatte nach einem Treffer gegen Portugal sein Trikot so gelüftet, dass auf seiner Unterwäsche der Schriftzug eines Wettanbieters sichtbar wurde. Bendtner muss nicht nur 100.000 € berappen: “Sie haben ihn auch für ein Spiel gesperrt, was bedeutet, dass Dänemark im September bei seinem entscheidenden WM-Qualifikationsspiel gegen Tschechien auf seinen Top-Stürmer verzichten muss. Dieser Ausschluss kann also enorme Auswirkungen auf die Hoffnungen der Dänen, sich für die WM 2014 zu qualifizieren und in der Folge für die Erlöse des dänischen Fußballverbands in den nächsten Jahren haben.” Und nach einer Aufzählung in der Vergangenheit ausgesprochener Strafen kommt der Autor zum Schluss: “Insofern wurde Bendtners Vergehen in einigen Fällen 10-mal schlimmer als rassistische Sprechchöre bewertet.”

Amateurhaft geführter Regionalverband

Jens Bierschwale auf Welt Online zur Doppelmoral der Uefa im Fall Bendtner: „Das richtige Maß scheint der Uefa spätestens seit Montagnachmittag abhanden gekommen zu sein. ‚Ungebührliches Verhalten‘, wie der Verband Bendtners vermeintliche Werbung für einen irischen Wettanbieter nennt, wird bestraft, während etwa krasse Menschenrechtsverletzungen im Austragungsland Ukraine ebenso totgeschwiegen werden wie politische Aktionen rund um die Spiele. Und in die Debatte um Hooligan-Attacken zwischen Polen und Russen meldete sich der Verband erst auf öffentlichen Druck hin. Längst schon vermittelt die Uefa den Eindruck eines amateurhaft geführten Regionalverbandes.“

Angesichts des hohen Bußgeldes von 100.000 Euro zeigt auch Ronny Blaschke in seinem Kommentar für den Deutschlandfunk Unverständnis: „Die EM ist eine durchkommerzialisierte Veranstaltung, sie bewegt Milliarden. Ein Bierbrauer und ein Schnellimbissrestaurant gehören zu den Premium-Partnern eines Sportereignisses, das Kinder und Jugendliche begeistern soll. Die Uefa zensiert Bilder der Fernsehlive-Übertragungen, sie lässt sich jeden Schritt der Gastgeber absegnen und bestimmt, wer wann wo etwas verdienen darf. Es passt zur Allmachtsfantasie von Uefa-Chef Michel Platini, sich nun mit Hilfe einer Unterhose Autorität verschaffen zu wollen. Schließlich könnte jemand in seinen Kuchen beißen, der nicht dafür gezahlt hat.“

Hohe Ausgaben, wenig Gäste

Falsche Kalkulationen vor der EM sowie leere Hotelbetten könnten den ukrainischen Steuerzahler teuer zu stehen kommen, kommentiert Maik Rosner (NZZ): „Die Angaben über die Investitionen des Landes schwanken zwischen 5 und 10 Milliarden Euro, die der erwarteten EM-Touristen zwischen 600 000 und 1,2 Millionen. Die Ausgaben könnten sogar höher ausfallen, und die Gästezahlen geringer. Wirtschaftsanalysten befürchten, dass die klamme Ukraine am Ende ein Milliardenminus beklagt – schlimmstenfalls mit der Folge, dass Kredite unter anderem beim Internationalen Währungsfonds nicht getilgt werden können.“

Tim Rich (The Independent) diskutiert die anderen historisch prekären Kombinationen, die außer dem “Debt Derby” gegen Griechenland möglich gewesen wären: “Es gab immer eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass ihr Viertelfinalgegener die Deutschen in Verlegenheit bringen könnte. Viele dachten, sie würden gegen Polen spielen und zwar in einer Stadt, die sich selbst bis 1945 immer für deutsch gehalten hatte. Sie hätten aber auch am 22. Juni auf Russland treffen können, dem Jahrestag des ‘Unternehmens Barbarossa’, wie der Angriff auf die Sowjetunion bezeichnet wurde.”

freistoss des tages

Mitarbeit: Erik Meyer

Kommentare

2 Kommentare zu “Die Doppelmoral der Uefa”

  1. Dirk
    Dienstag, 19. Juni 2012 um 11:16

    Diese ganze Diskussion um Politikerbesuche in der Ukraine ist für mich nicht nachvollziehbar.

    2008 in Peking sind Hinz-und-Kunz des politischen Bereichs hingefahren. Da wurde nur ganz am Rande über Boykott oder ähnliches gesprochen.

    Jetzt bei der Ukraine, die für Deutschland wirtschaftlich so viel unbedeutender als China ist, lehnen sich dann alle aus dem Fenster und tönen rum.

    Damit mich hoffentlich keiner falsch versteht: Den Einsatz für Menschenrechte finde ich gut und wichtig, aber bitte nicht so plump nur dann, wenn es keine Nachteile bringt.

  2. Manfred
    Dienstag, 19. Juni 2012 um 18:22

    Naja, Dirk: da die Rede von Politikern ist (also Leuten, die über alles betrachtet ein noch etwas geringeres Ansehen genießen als der Schleim auf dem Boden der Mülltonne), ist das doch völlig normal, oder?

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