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Champions League

Schluchzende Giganten

Kai Butterweck | Donnerstag, 20. April 2017 4 Kommentare

Erstmals seit acht Jahren findet das Halbfinale der Champions League ohne deutsche Beteiligung statt. Während man sich in München „beschissen“ fühlt, leidet man in Dortmund stiller

Der ungarische Schiedsrichter Viktor Kassai hatte am vergangen Dienstag sicherlich nicht seinen besten Tag. Ihn nun aber als alleinigen Schuldigen an den Pranger zu stellen geht nach Meinung der Presse dann doch zu weit. Martin Einsiedler (Tagesspiegel) beispielsweise zeigt mit dem Finger auf Carlo Ancelotti: „In der vergangenen Saison unter Pep Guardiola waren sich die meisten Beobachter einig, dass die Münchner trotz der Niederlage im Champions-League-Halbfinale gegen Atlético Madrid die beste Mannschaft Europas stellten. Unter Ancelotti denkt das kaum mehr jemand. Der FC Bayern ist immer noch eine sehr starke Mannschaft. Aber anders als erhofft hat der Italiener dieser Mannschaft nicht das entscheidende Quäntchen Effizienz verpasst. Dazu hat er sich in Madrid vercoacht. Warum hat er den vogelwilden Vidal nicht viel früher ausgewechselt?“

Auch Tim Sohr (stern.de) stellt sich „schützend“ vor den Schiedsrichter: „Die Münchner sind nach tollem Kampf in einem spektakulären Spiel, einem modernen Fußball-Klassiker, gescheitert. Sie waren tapfere Verlierer einer magischen Nacht in Madrid. Sie haben alles Recht der Fußball-Welt, sich über den Schiedsrichter zu beklagen. Aber insgeheim wissen sie ganz genau: Es wäre mehr drin gewesen, wenn sie selbst nicht so viel falsch gemacht hätten. Diese bittere Erkenntnis macht ihre Wut so weiß, ihren Zorn so heiß.“

Wahre Größe zeigt sich immer erst in der Niederlage

Karl-Heinz Rummenigge polterte nach dem Schlusspfiff am lautesten. Frank Hellmann (FR Online) nimmt sich den Bayern-Boss zur Brust: „Es wäre an der Zeit, dass der FC Bayern seine Kaderplanung überdenkt. Die Schiedsrichterschelte lenkt da nur ab. Denn diese These muss erlaubt sein: Auch mit dem Videobeweis hätte wohl eher Real die Tür zum Halbfinale aufgestoßen – als das einen Tick clevere und effizientere Starensemble. Schade, dass dem Bayern-Boss ein solch besonnenes Bekenntnis nicht abzuringen war. Wahre Größe zeigt sich halt immer erst in der Niederlage.“

Peter Hess (FAZ) fordert neue Kräfte: „Hätten die Madrilenen die Tore geschossen, die sie hätten schießen müssen, bevor Lewandowskis Elfmeter noch einmal die Bestie in den Bayern hervorbrachte, das Urteil wäre für alle offensichtlich: Diese Mannschaft hat ihre beste Zeit hinter sich, die Bayern brauchen eine neue.“

Oliver Fritsch (Zeit Online) kämpft mit vielen Fragezeichen: „Wie viel Zukunft hat der aktuelle FC Bayern und wer führt ihn dorthin? Carlo Ancelotti weiß, wie man Spiele gewinnt. Aber er ist kein Trainer, der mit Fußballern an Details arbeitet. Aus der teuren Nachwuchsabteilung kam lange keiner mehr nach oben. Auch die Vereinsführung braucht neue Ideen. Um wieder international anzugreifen, muss sie viel Geld investieren, also hohes Risiko eingehen. Ob die zwei neuen Hoffenheimer Rudy und Süle das Niveau der Mannschaft heben, darf man bezweifeln.“

Das Talent ist spektakulär, aber es mangelt an Reife

Auch in Dortmund hängen dunkle Wolken am Himmel. Daniel Theweleit (Spiegel Online) stellt eine Mängelliste auf: „Es wird spannend, wie der Chefkritiker Tuchel mittelfristig mit dem Spagat zwischen Traumatisierung und fußballerischen Problemen der Mannschaft umgeht. Denn natürlich lässt sich das Aus gegen einen keinesfalls übermächtig wirkenden Gegner mit der Extremsituation nach dem Sprengstoffanschlag erklären. Doch unabhängig von den Folgen des Anschlags passte die Leistung ins Gesamtbild, das der BVB in dieser Saison abgibt. Das Talent ist spektakulär, aber der Mannschaft mangelt es an Reife. Oft fällt es dem Team schwer, die richtige Balance zwischen Defensive und Offensive zu finden. Und vielleicht ist der Trainer selbst auch noch ein Stück zu unerfahren, sein Coaching in den Spielen gegen große Gegner wirkt mitunter überambitioniert.“

Oliver Müller (Welt) steht mit weit aufgerissenen Augen vor der Dortmunder Trainerbank: „Sicher kann Tuchel kaum für individuelle Schwächen der Spieler verantwortlich gemacht werden. Er kann weder etwas für das mangelhafte Zweikampfverhalten von Erik Durm oder die missglückte Faustabwehr von Roman Bürki. Doch seine Aufstellung und seine vorsichtige Taktik taten der Mannschaft nicht gut. Auch die Auswechselung von Nuri Sahin, der in den vergangenen beiden Spielen bewiesen hatte, dass er das Spiel in schwierigen Phasen lenken und dem Team Ordnung und Sicherheit geben kann, war nur schwer nachzuvollziehen. Die Champions-League-Saison von Borussia Dortmund, die am Mittwoch zu Ende ging, lässt zwei Erkenntnisse zu: Die Mannschaft hat großes Potenzial, muss aber noch lernen. Für Thomas Tuchel gilt das auch.“

Holger Luhmann (sport1.de) schließt sich an: „Tuchel gilt als Mastermind, als Taktikfuchs. Doch häufig ist Dortmunds Coach einfach zu verkopft. Will zu viel. Und überfordert damit seine eigenen Spieler. BVB-Boss Hans-Joachim Watzke hatte zuletzt gesagt, dass sich Tuchel mit seinem Ehrgeiz manchmal selbst im Weg steht. Dieser Eindruck drängte sich auch in Monaco auf. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Tuchel die Mannschaft nach den Vorkommnissen der letzten Woche ohne große Zwänge hätte aufspielen lassen. Diese Chance hat Tuchel vertan.“

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Kommentare

4 Kommentare zu “Schluchzende Giganten”

  1. Oliver
    Donnerstag, 20. April 2017 um 13:26

    Nehmt das doch nicht alles so wichtig, ist doch nur ein Spiel.

  2. Charly
    Donnerstag, 20. April 2017 um 22:16

    Als ich im Laufe des WM-Finales 1954 das Verb VERCOACHEN erfand, setzte ein ungeheurer Shitstorm aus ungarischer Richtung ein.

    Mittlerweile ist meine Wortschöpfung salonfähig geworden.

    So kann sich heute jedes Plappermäulchen am Trainer abarbeiten, wenn sein Team mal wieder alles vergurkt hat.

    Meine damalige Eingebung bereue ich zutiefst.

  3. van Kuchen
    Freitag, 21. April 2017 um 09:02

    tja, jetzt kann Herr Rummenigge mal nachempfinden, wie sich die Hamburger, Gladbacher, Frankfurter, Stuttgarter, Bremer, Leverkusener, Dortmunder und und und fühlten und fühlen, die seit insgesamt 5 Jahrzehnten zu unterschiedlichen Zeiten erleben mußten, wie die Bayern ihnen einfach die besten Spieler, ja Trainer wegkauften, und somit mittlerweile quasi die Konkurrenz ausgeschaltet haben in der Bundesliga.
    Die Betroffenen konnten nichts machen, sie mußten sich einfach dem Geld geschlagen geben.
    Ja, so fühlt sich das an, ungerecht zum Verlierer zu werden.
    Jetzt dürfen die Bayern-Verantwortlichen das auch mal erleben.
    Dank an den Schiri!

  4. Charly
    Freitag, 21. April 2017 um 21:32

    Wichtig für dieses Forum ist, dass auch sachferne und emotional getrübte Stimmen Einlass finden.

    Ich wünschte mir, eines dieser Kriterien erfüllen zu können. Pech gehabt.

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