indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ballschrank

Buntes

Oliver Fritsch | Sonntag, 30. Mai 2004 Kommentare deaktiviert für Buntes

Was haben die Dichter angerichtet, als sie den Fußball und seine Helden überhöhten

Sehr lesenswert! Wenn Fußballer schlau sein wollen und Schlaue Fußballer, schlägt Volker Weidermann (FAS 30.5.) die Hände überm Kopf zusammen: „Was will das Feuilleton eigentlich immer in den Fußball hineinquatschen? Was muß denn da immer gedeutet werden und metaphorisch erhöht und dichterisch verschönt und bedeutend gemacht? Nur aus schlechtem Gewissen, daß man ein banales Hobby hat, muß man ja nicht gleich ein Gedicht drauf schreiben. Oder eine kunstvolle Rezension. Es führt ja auch meist zu nichts. Selbst, wenn man als Dichter, wie Peter Handke einst, sich so eng an die Wirklichkeit hält, daß man einfach die Mannschaftsaufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. Januar 1968 abschreibt und das Ganze dann Gedicht nennt und mal zuschaut, was passiert und ob das jemand druckt (und es wurde viel-, vieltausendfach gedruckt), dann liegt der Unterschied zur wirklichen Mannschaftsaufstellung eben nicht vor allem darin, daß Handkes Fassung von seinen Jüngern weihevoll verlesen werden kann, sondern darin, daß sie falsch ist. Denn nicht Leupold, wie im Gedicht vermerkt, lief damals als linker Verteidiger auf, sondern Hilpert. Das ist der Unterschied. Das Gedicht ist wertlos. Es ist falsch. Handke war eben einfach nicht auf dem Platz. Wahrscheinlich hat sich Leupold beim Warmmachen verletzt, Hilpert kam rein, und Handke hatte sein eiliges Gedicht schon vorher aus der Zeitung abgeschrieben. Jeder Fan hätte das Handke-Gedicht genauer schreiben können als der Dichter. „Fußball ist Fußball ist Fußball“, heißt das letzte Kapitel in Dirk Schümers Fußballfeierbuch „Gott ist rund“. Eigentlich wäre damit alles gesagt. (…) Oliver Kahn. Der Titan, der vielbesungene, vielbedichtete. Orpheus. Grieche. Antiker Held. Der Größte. Dem man längst jede poetische Metapher der Unbezwingbarkeit – seit zwei Jahren auch der anscheinend noch poetischeren „Bezwingbarkeit“ – übergestülpt hat. Jetzt sieht man, wozu das führen kann. Er hält sich selbst für einen Dichter. Für einen Philosophen. Einen netzerartigen Fußballkünstler. Die Kunst liebt mich? Ich muß sie wiederlieben, hat er sich wohl gedacht und „Reflexionen“ geschrieben – angeblich extra ohne Ghostwriter. Dieses Buch, „Nummer eins“, wird seinem Ruf mehr schaden als die drei katastrophalen Fehlgriffe in den letzten zwei Jahren. Wir sehen einem Helden beim Denken zu, und heraus kommt: nichts. Nur Kunstwille. Feuilleton-Wille. Wille zur Bedeutung. Quatsch. „Fußball ist Kunst“, schreibt Herr Titan. Und daß er seine täglichen Trainingseinheiten „wie ein Pianist“ absolviere, „der trotz all seiner Virtuosität weiß, daß er die Goldberg-Variationen von Bach nie perfekt spielen wird“. Oliver „Glenn Gould“ Kahn setzt sich in Position. Selten hat ein Buch eine so große Bedeutungssehnsucht mit so geringer Bedeutung verbunden: „Auf meinem Lieblings-T-Shirt steht das Wort ,Rebel‘. Rebell. Vielleicht möchte ich damit zum Ausdruck bringen, daß ich nicht so sein will, wie man mich vielleicht gern hätte.“ Ja, vielleicht. Vielleicht sähe man ihn einfach gerne nur im Tor. Und müßte dann nicht wissen, daß Kahn sich neben Glenn Gould auch gern als Möwe Jonathan sieht: „Sie ist ein gutes Beispiel dafür, wie gefährlich es sein kann, wenn man sich aus der Masse, in diesem Fall aus einem Schwarm Vögel, hervorhebt. Jonathan ist keine gewöhnliche Möwe, sondern besessen von dem Willen, das Beste aus sich herauszuholen, um es in der Kunst des Fliegens zu einer außergewöhnlichen Meisterschaft zu bringen. Niemand und nichts kann sie aufhalten. Aber aufgrund seines Freiheitsdranges wird Jonathan aus der Gemeinschaft der Möwen verbannt.“ Schade für die Möwe. Kahn weiß: „Letztlich ist das Streben nach Perfektion sehr anstrengend.“ Und gefährlich: „Manche behaupten, Sport sei Mord, besonders der Profisport. Diese Ansicht halte ich für übertrieben.“ Denn gefährlicher ist das Leben neben dem Fußball: „Das Privatleben wird sicherlich eine große Herausforderung für mich bleiben.“ Wie es auch in der Vergangenheit war: „Die Trennung von meiner Frau hatte nichts mit ihrer Person zu tun.“ Weil alles, alles nur mit der Person von Oliver Kahn zu tun hat. Und der einzige positive Held des Buches ist – neben Oliver Kahn – Marco Bode, weil man sich mit dem so gut über Literatur unterhalten kann. Was haben die Dichter angerichtet, als sie den Fußball und seine Helden überhöhten.“

Die FAS (30.5.) dokumentiert ein Beckmann-Gespräch mit Beckenbauer und Netzer:
Ausführlich hat Netzer von seinem früheren Rebellen-Image erzählt.
Beckmann: Franz Beckenbauer, was waren denn Ihre größten Dummheiten in der Zeit? Oder Ihre kleinen Sünden?
Beckenbauer: Pfff, öäh. (Sagt drei Sekunden lang nichts, schüttelt den Kopf, dann hellt sich sein Gesicht auf.) Wir haben ihn, um auf ihn wieder zurückzukommen (Beckmann und Netzer lachen), dann wird’s leichter für mich. Wir haben ihn natürlich beneidet, wir haben das ja auch alles mitverfolgt: Mensch, da Günter, wie macht der des? Wir schuften, vormittags Training, nachmittags Training, um am Samstag fit zu sein. Der fliegt mit‘m Michael Pfleghar nach Las Vegas, schaut sich da irgendeine Show an, kommt am Freitag wieder zurück, und am Samstag spielt er – und spielt auch noch gut! Wie macht der das? Wir sagten: Irgendwie müssen wir da umdenken, aber es ist uns nicht gelungen.
Netzer: Ja, das klingt alles sehr schön, nur: Geschuftet hat der nie. Der hat für sich schuften lassen.
Mehrere Momente eisiger Stille.
Beckenbauer: Bist du da sicher?
Netzer: Ja, ganz sicher. Du hast diese Position des Liberos erfunden.
Beckenbauer: Ja, das war ’ne sehr bequeme Position.
Netzer: Schlitzohrigerweise hast du sie erfunden! Er hat andere für sich arbeiten lassen!

Every time the ‚disgrace of Munich‘ has to be wiped away

In Holland erhält ein Buch (Autor: Auke Kok) große Aufmerksamkeit, das das WM-Finale 74 entromantisiert (freistoss vom 27. April).
Gerrit, ein holländischer entfernter Freund des Hauses, ringt mit seiner Fassung: „To be honest – I haven’t read the book, I did not read any article about it, I did not watch television programme’s. Why? Because it is still too sensitive! It is a trauma indeed – and that is why every game against Germany is so important to the Dutch. Every time the ‚disgrace of Munich‘ has to be wiped away. So the game on June 15 will be very important for the Dutch – and of course it will not be a boring tie, but we [note: ‚we‘!] are going to win! [As you can see, I am also from the 1974 generation; I was 17 and I remember very clearly what happened…] So now you know that I was not so happy with receiving that article.”

So viele Blindfische wie heute haben die hier am Astra-Strand aber auch noch nicht gesehen

Das Hamburger Abendblatt (17.5.) stellt St. Paulis Blindenprojekt vor: „Los, mach ihn rein“, schreit Alexandra. Es ist die 27. Minute, und ein St. Paulianer hat sich den Ball zum Freistoß zurecht gelegt. „Meine Güte, das gibt’s doch gar nicht“, brüllt sie Sekunden später, als der Ball etwas kläglich in der Mauer landet. Doch auch wenn das gesamte Stadion ihr zustimmt – Alexandra Thode hat den Freistoß etwas anders gesehen. Sie hat ihn gehört. Die 28-jährige Verwaltungsangestellte ist seit ihrer Geburt stark sehbehindert. Dass sie trotzdem regelmäßig ans Millerntor kommt, ist vor allem dem Blindenprojekt des FC St. Pauli zu verdanken. „Der Gedanke, der dahinter steckt, ist dass hier Fans für Fans kommentieren – und zwar mitten im Fanblock“, erzählt Wolf Schmidt. Er ist so etwas wie der verlängerte Blindenstock auf dem Fußballfeld: Seit Beginn des Projekts im März 2004 übersetzt der 38-Jährige das Geschehen auf dem Rasen, schickt es durch das Mikrofon direkt an die Kopfhörer der sehbehinderten Fans. „Mann Leute, das ist ein Grottenkick hier, das ist das Grauen“, muss er ihnen dieses Mal entnervt mitteilen. Doch die finden es klasse. Und sehen durch Wolf sogar mehr vom Spiel als der Rest des Stadions: „Eine unglaubliche Szene, Leute! Daniel Sager will den Ball weghauen, rutscht aus, und mit der Brust schon auf dem Rasen liegend, köpft er den Ball noch weg. Daniel Sager hat uns die Robbe gemacht!“ St. Pauli ist zwar nicht der erste Club, der so einen Service für sehbehinderte Fans anbietet – in der Regionalliga ist er aber der einzige. Die Idee stammt aus England: Ende 1999 konnten blinde Fans von Manchester United erstmals den Kommentar des Spiels über Kopfhörer verfolgen. (…) Nach dem Spiel treffen sich alle noch am Bier-Stand vor dem Club-Container. Und der Flachs blüht. „Na sowas“, lacht Alex plötzlich los. „So viele Blindfische wie heute haben die hier am Astra-Strand aber auch noch nicht gesehen … „

Karten für das Blindenprojekt:
sven.brux@fcstpauli.de
fon: 0 40/31 78 74 24

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