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Zum Wunder von Bern, Interview mit Magath, Interview mit Beckenbauer

Oliver Fritsch | Samstag, 5. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Zum Wunder von Bern, Interview mit Magath, Interview mit Beckenbauer

SZ-Interview mit Felix Magath – Medien-Flut zur WM 1954 u.v.m.

Ich habe immer versucht, freundlich zu sein und Autogramme zu schreiben

Tagesspiegel-Interview mit Franz Beckenbauer (Tsp 5.6.):
Tsp: Herr Beckenbauer, wer wird Fußball-Europameister?
FB: Oh Gott, da wollen Sie was wissen. Bei der WM vor zwei Jahren waren Frankreich und Argentinien meine Favoriten. Die flogen in der Vorrunde raus. Für Prognosen fragen Sie einen anderen.
Tsp: Gut, dann…
FB: Warten Sie. Die Franzosen gewinnen. Statistisch sind die am stärksten.
Tsp: Und die Deutschen?
FB: Wenn wir die Vorrunde überstehen, können wir ins Endspiel kommen. Wir werden nicht erdrückt von Spielwitz. Aber unser Spiel ist anders: einfach, schnell. Nehmen Sie Christian Ziege auf der linken Seite. Der spielt nicht attraktiv, hat nicht mal einen Verein. Aber was soll’s, in der Abwehr brauchst du keine Ideen, da musst du den Laden zusammenhalten.
Tsp: Mit dem ängstlichen Oliver Kahn im Tor?
FB: Es kam viel zusammen für ihn. Er sagt, er kann trennen zwischen Beruf und Privatem. Aber das geht nicht. Wenn du privat schwere Entscheidungen triffst…
Tsp: …und dich von deiner Freundin trennst, deretwegen du deine Frau verlassen hast…
FB: … ja, wenn du so was erlebst, verfolgt dich das auch, wenn du im Tor stehst. Kahn hat einige Fehler gemacht. Das fällt auf, weil er sonst nie Fehler macht.
Tsp: Oliver Kahn ist ein Vorbild für viele. Gefallen Sie sich in Ihrer Rolle als Vorbild?
FB: Als Vorbild habe ich mich nie gesehen. Ich habe immer versucht, freundlich zu sein und Autogramme zu schreiben.
Tsp: Wie viele Autogramme waren das?
FB: Es geht wohl in die Millionen. Ich schreibe seit 40 Jahren nur Autogramme.
Tsp: Haben Sie sich mal verschrieben?
FB: Nie. Die Unterschrift hat sich verändert. Früher war sie eckiger, da brauchte ich Zeit. Jetzt habe ich eine Schnellschrift.
Tsp: Warum tun Sie sich das an?
FB: Weil sich die Leute freuen. Mitte der 70er lande ich als Spieler mit dem Team auf einem Flughafen. Ein Mann kommt, will Autogramme. Ich schreibe, das dauert drei Sekunden. Als Paul Breitner dran ist, erklärt er dem Mann eine Viertelstunde, warum er keine Autogramme gibt. Ich habe Paul gefragt: Spinnst du?
Tsp: Wie ist das, wenn man alle 15 Jahre auf neuen Autogrammkarten unterschreibt?
FB: 15 Jahre? Alle drei Jahre wechselt das Foto auf meiner Karte. Manchmal senden mir die Leute meine gesammelten Werke. Von damals, als ich 18 war, bis heute.
Tsp: Herr Beckenbauer, lassen Sie uns über Ihre vielen Rollen reden. Sie waren Fußballprofi und Teamchef des Nationalteams, jetzt sind Sie Aufsichtsratschef des FC Bayern, Cheforganisator der WM 2006 und Werbeträger. Als was gefallen Sie sich am besten?
FB: Es gibt eine Autogrammkarte von mir, die mir gut gefällt. Eine, als ich als Spieler aufhörte und Teamchef wurde. Da war ich schön athletisch.
Tsp: War Teamchef Ihr Lieblingsjob?
FB: Es war wunderbar. Anfangs wollte ich alles werden, nur nicht Trainer. Denn ich wusste, dass der Trainer immer der Erste ist, der entlassen wird.

Wer weiß, wo der wilde Pannen-Olli nächste Saison hängenbleibt

Evi Simeoni (FAZ 5.6.) bekommt Bauchschmerzen vom Bundesliga-Transferkarussel: „Es gibt jugendliche Fußballfans, denen ist jetzt schon schlecht – bevor die Europameisterschaft überhaupt angefangen hat. Das liegt aber weniger an den therapeutischen Aufbauspielen der deutschen Elf als an den vielen Schokoladenriegeln, die sie gegessen haben, um an die Sticker von ihren Helden zu kommen. Aber mal ehrlich: Würden die kleinen Leckermäuler sich beim Transfer ihrer Tauschobjekte ähnlich dilettantisch verhalten wie die Profis der Branche, sie brächten niemals eine Mannschaft zusammen. Dieses Ankündigen und Dementieren, das Anbieten und wieder Zurückziehen, das Fristennennen und das Nicht-Einhalten, das unterliefe doch jede Schulhof-Moral. Kahn jedenfalls klebt man im Moment am besten nirgendwo auf. Wer weiß, wo der wilde Pannen-Olli nächste Saison hängenbleibt. (…) A propos: Welcher Trainer befindet sich eigentlich nach dem jüngsten Ringelreihen noch an alter Wirkungsstätte? Auch wenn es schwerfällt, das zuzugeben: Felix Magath, diesem Mann mit dem Mickey-Mouse-Haarschnitt, waren wir auf den Leim gegangen, so glaubwürdig hat er seine Leidenschaft für das Stuttgarter Jugendprojekt herübergebracht; so echt schien seine Freude über die herzerfrischenden Auftritte seiner Elf in der ersten Saisonhälfte; so väterlich wirkte sein Blick auf seine Spieler von Kuranyi bis Hildebrand. Er selbst warnte im vergangenen Jahr immer wieder vor der charakterverderbenden und karriereschädlichen Wirkung des Geldes. Nun lernen wir: Das war ein Fall von taktischem Emotionalisieren, weil er seinen Jungs das Gehalt nicht erhöhen wollte. Magaths von Liebeserklärungen an seine Mannschaft begleitetes Wirken im Schwäbischen war nur ein Intermezzo in seinem Leben. In Stuttgart übte er nur für seine wahre Liebe, und die heißt Bayern München. Die Lederhosenträger mußten nur mit den Fingern schnippen, und schon packte er seine Sachen und löste eine Fahrkarte in Richtung weißblaues Establishment.“

Die Bundesrepublik der fünfziger Jahre war keine Rumpel-, sondern eine Wunderkammer

Andreas Platthaus (FAZ 4.6.) reibt sich die viereckigen Augen: „Wunder gibt es nimmer wieder, vor allem nicht im Fernsehen. Die Flut multimedialer Aufbereitung eines Fußballweltmeisterschaftsfinales, das heute vor fünfzig Jahren mit aus deutscher Sicht erfreulichem (und aus fußballästhetischer Sicht eher weniger erfreulichem) Ergebnis endete, wird nun noch durch ein Bilderrinnsal weiter verstärkt, das der Bayerische Rundfunk für die ARD in Auftrag gegeben hat. Man kann die gefällige Aneinanderreihung von Werbefilmchen, frühen Fernsehbeiträgen, Kinoausschnitten und sonstigen Archivalien mit etwas gutem Willen wohl als Dokumentation durchgehen lassen, und da bewährt sich denn endlich einmal die zwangsläufige Programmierung von Beiträgen dieses Genres auf späteren Sendeplätzen. Wobei es getrost ein Skandal genannt werden darf, daß ein Film wie „Amok in der Schule“ unter der Woche um 23 Uhr versendet wird und die gleichfalls neunzig Minuten lange „Wunderrepublik“ am Freitag abend immerhin eine ganze Dreiviertelstunde früher beginnen darf. Können wir heute noch verstehen, warum die Leute sich 1954 so aufgeregt haben? Wenn man die von Markus Brauckmann verantwortete „Wunderrepublik“ zum Maßstab nimmt, ist das unbegreiflich. Dem Titel entsprechend reiht er Wundersames im Dutzend billiger aneinander: Die Bundesrepublik der fünfziger Jahre war keine Rumpel-, sondern eine Wunderkammer. Wen hätte da Bern noch verwundern können, wo sich das Finale doch nahtlos einfügt in die Reihe von Wirtschaft, Fräuleins, Filmen, Urlaubsreisen und manchem mehr. So wird in einzelnen Kapiteln eine Epoche besichtigt, die von 1945 bis 1960 reicht, und irgendwie werden auch immer wieder Bilder aus dem Finale im Wankdorf-Stadion eingeschnitten, gerne auch in Farbe, denn die Produktionsgesellschaft von „Wunderrepublik“ ist die gleiche, die uns vor Jahresfrist schon mit den ersten Farbaufnahmen des „Wunders von Bern“ beglückte. Damals wurden diese privaten Aufnahmen von Waldemar Hartmann präsentiert, und die Zusammenarbeit verlief offenbar so harmonisch, daß man den gestandenen Sportmoderator auch für die neue Produktion verpflichtete. So reiste Hartmann nach Budapest, um ein wenig an den Gestaden der Donau entlangzuspazieren, an den Thuner See, um am Uferhang von Spiez erkennbar außer Atem zu geraten, nach Bern natürlich, wo das Wankdorf-Stadion leider zu früh abgerissen worden war, und an etliche weitere Stationen, die die Optik der fünfziger Jahre evozieren sollen. Leider ist das einzige, was in den neunzig Minuten an Gewicht gewinnt, Waldemar Hartmann selbst. Die Dreharbeiten müssen lang gewesen sein.“

Deutscher Fußball-Katechismus

„Die deutschen Fußballtugenden entstanden nicht am 4. Juli 1954, sondern Jahrzehnte früher.“ Ein Rückblick und eine Aufklärung von Per Leo (SZ/Feuilleton 5.6.): “Die Fußballexperten waren sich einig. Gegen diese Ungarn hat die deutsche Auswahl keine Chance. „Selbst der stärksten deutschen Vertretung konnte man kaum große Aussichten gegen diese Mannschaft der absoluten Weltklasse einräumen“, mit dieser nüchternen Feststellung leitete der bekannte Sportjournalist Carl Koppehel seinen Spielbericht ein. Und tatsächlich, es kam wie es kommen musste: „Die Ungarn beginnen in ganz großem Stil und zeigen Fußball in bester Art.“ Die deutsche Mannschaft wirkt überfordert vom leichten und flüssigen Spiel der Ungarn, die schnell in Führung gehen und ihre Tore „mit einer Selbstverständlichkeit erzielen, die in Länderspielen nur selten zu sehen ist – eines schöner als das andere“. Bei den Zuschauern macht sich Panik breit, man befürchtet nun Schlimmeres als die erwartbare Niederlage: „Eine Katastrophe ist zum Greifen nahe“. Doch das Wunder geschieht: „Ein fast unglaublicher Wechsel setzt ein. Die deutsche Mannschaft beginnt, gegen das Schicksal anzukämpfen. Sie ficht mit wilder Energie. Was niemand erwartet hatte, trifft ein, die Ungarn werden überrannt.“ Das Fazit des Experten: Nicht größere Spielkunst, sondern „fanatischer Siegeswille“ und „äußerste Hingabe bis zur vollkommenen Erschöpfung“ haben der deutschen Mannschaft den Erfolg beschert. Oder mit den Worten eines anderen Spielbeobachters: „die Fähigkeit, sich mit dem Unfassbaren nicht abzufinden“. Lange ist das her. An der Bereitschaft, es mit dem Schicksal aufzunehmen, hat sich im deutschen Fußball dagegen bis heute nichts geändert. Wenn ein Torwart wie Oliver Kahn von sich verlangt, notfalls auch alleine gegen die beste Mannschaft der Welt zu gewinnen, wäre das in jedem anderen Land ein Fall für den Psychologen. In Deutschland heißt es, der Mann besinne sich auf unsere Tugenden. Und dies scheint besonders wichtig zu sein, wenn es gegen Mannschaften geht, die genauso poetisch heißen wie sie spielen – Les Bleus, Selecao, Squadra Azzura oder Die Königlichen. Die deutsche Mannschaft hat keinen Namen, sie heißt auch in Deutschland meist einfach nur Deutschland. Einig ist sich die Fachwelt darüber, dass diese deutsche Art, Fußball zu spielen, eine genau benennbare Geburtsstunde hat: den 4. Juli 1954. Die eingangs zitierten Passagen berichten indes von einem Spiel, das mehr als zwei Jahrzehnte früher stattgefunden hat. Am 28. September 1930 schlug die deutsche Auswahlmannschaft Ungarn in Dresden nach einem schnellen 0:3-Rückstand mit 5:3. Es waren Spiele wie dieses, in denen Beobachter erstmals eine Art des Fußballspielens ausmachten, die sie für unverwechselbar „deutsch“ hielten. In Dresden bestätigte sich nämlich, was man schon einige Monate zuvor beim 3:3 gegen England bemerkt hatte. Gerade gegen übermächtige Gegner offenbarte die deutsche Mannschaft neuerdings ihre Qualitäten. „Das Spiel der Engländer“, so ein Berichterstatter, „war großartig, zweckmäßig, durchdacht, ausgeklügelt, durchsetzt mit technischen Feinheiten“. Anders die deutsche Mannschaft: „In ihr hat ein Stück dieser ,primitiven’ Spielfreude, die letzte hinreißende Begeisterung gesteckt, eben jene Art des Spiels, die aus einem Spieler einen von der Begeisterung am Spiel Besessenen macht“. Der euphorische Bericht schließt mit dem Bekenntnis des Autors, dass „mir dieser deutsche Fußballkatechismus mehr imponiert hat als der englische. Hurra! Hurra! Hurra!“ Aus diesen Berichten von 1930 klingt neben der Freude über unerwartete Ergebnisse noch etwas anderes durch: Erleichterung. Denn endlich, so schien es, gab es nicht nur Fußball in Deutschland, sondern – deutschen Fußball. Das war nicht unerheblich zu einer Zeit, in der Fußball der einzige echte Massensport war und seriöse Stimmen zunehmend auch im Sport einen „nationalen Kulturfaktor“ sahen. Und es war neu. Noch 1925 hatte der Versuch, in den nationalen Spielweisen Äußerungen des „Volkscharakters“ zu finden, einen deutschen Fußballjournalisten in Verlegenheit gebracht. Fiel es ihm leicht, den Engländern „Überlegung“ und „mathematische Genauigkeit“ nachzuweisen, den Spaniern und Italienern „Temperament“ und „Elan“ sowie den Österreichern und Ungarn „Leichtigkeit“ und „Wiener Eleganz“, so konnte er am deutschen Fußball keine prägnanten Merkmale ausmachen. Deutschland sei eben nicht nur geographisch, sondern auch im Fußball „das Volk der Mitte“, stellte er lakonisch bis resigniert fest. Charakteristische, den anderen Völkern vergleichbare Stile fänden sich hier nur in den Regionen. Während man in der „Fußballhochburg“ Nürnberg-Fürth und in Westdeutschland die „reine Kombination“ pflege, werde im Norden und in Berlin eher „urwüchsig und kräftig“ gespielt und in Mitteldeutschland eine Mischung aus beidem. (…) Das „Wunder von Bern“ hat eine lange Vorgeschichte. Mit dem 4. Juli 1954 hat die Entstehung deutscher Fußballtugend wenig zu tun.“

Meistens schlägt Marcel Reif nur diese halbhohen Bälle, die so verdammt schwer zu nehmen sind

Helmut Böttiger (Zeit 3.6.) schreibt eine Sammelrezension: „Am 4. Juli ist alles vorbei. Da jährt sich zum fünfzigsten Mal das „Wunder von Bern“, aber vermutlich wird sich jeder entnervt die Ohren zuhalten, wenn dann noch davon die Rede ist. Alles Pulver ist verschossen worden, der Film von Sönke Wortmann hat bereits letztes Jahr die Zeichen gesetzt. Die Fernsehanstalten lieferten sich ein Wettrennen darum, ein paar vergessene Quadratzentimeter Zelluloid des Jahrhundertereignisses vom Wankdorfstadion aufzutreiben, und Herbert Zimmermanns Endspiel-Reportage drang verstärkt aus den Kanälen wie eine Zimmerflak: „Wankdorfstadion, keiner wankt!“ Ja, wir haben gewonnen. Auch im Bruttosozialprodukt sind wir schnell an den vermeintlichen Siegermächten des Zweiten Weltkriegs vorbeigezogen, und im Fußball waren wir eine Macht, noch 1990. Aber danach ging es rapide abwärts, irgendwie mussten wir doch noch die Rechnung für den Zweiten Weltkrieg bezahlen. Zwischen den demütigenden Ergebnissen der Fußball-Nationalmannschaft und denjenigen der Pisa-Studie gibt es einen Zusammenhang. Die deutsche Wohlstandsverwahrlosung zeigt sich im Bildungssystem genauso wie in der Taktik der Nationalmannschaft: Ballorientiertes Spiel, variable Raumaufteilung und das ständige Wechseln der Position verträgt sich nicht mit der Ästhetik der Flächentarifverträge. Und so, wie plötzlich für Computerspezialisten aus Indien die Einwanderungsbestimmungen gelockert werden sollten, erhob sich auch die Klage darüber, dass wir nicht wie die Franzosen oder Holländer von Kolonien in wärmeren Gefilden zehren: Dort können sie einfach besser mit dem Ball umgehen. Die deutschen Buchverlage sind in dieser Situation nicht zu beneiden. Da lockt zum einen das „Wunder von Bern“, aber da droht zum anderen die Fußball-Europameisterschaft im Juni. Der Glanz der Vergangenheit, das Elend der Gegenwart (…) Marcel Reif ist einer der Besten, aber leider unterscheidet sich sein Werk nur in Ansätzen von den üblichen Fußballstarbüchern. Offensichtlich hat Reif sein Leben einfach mündlich heruntererzählt, und das merkt man der Schriftform deutlich an. Ein paar reflektiertere Passagen, vor allem gegen Ende, sind durchaus lesenswert, doch meistens schlägt er nur diese halbhohen Bälle, die so verdammt schwer zu nehmen sind. Über Netzer schreiben, das heißt: über die Bedeutung schreiben, die einem Fußballspieler zuwachsen kann, auch wenn ihm das gar nicht so recht klar ist. Da wäre auch Ironie am Platz, soweit das geht. Aber dann hat das Ganze doch wieder Netzer selbst geschrieben, beziehungsweise: er hat es schreiben lassen. Glückt Klaus Theweleit der Befreiungsschlag? Aber ach, er lehnt Befreiungsschläge von vornherein ab. Theweleit bastelt ein bisschen systemtheoretisch herum, macht die Räume eng und findet heraus, dass heute alles taktisch so raffiniert abläuft, dass oft nur noch kleine Zufälle über den Ausgang eines Spiels entscheiden. So wie er damals bei seinen Männerphantasien irgendwo bei Seite 453 den Antiödipus von Deleuze/Guattari entdeckt hat und plötzlich wusste, wo es langgeht, ist er jetzt auf die Viererabwehrkette gestoßen und auf das Pressing. Da ist er jedoch, wie ganz Deutschland, ein bisschen spät dran. Theweleit ist manchmal durchaus witzig – aber er hat keinen Humor. Verbissen will er immer nur nachweisen, dass wir uns nicht mehr in der Zeit der Männerfantasien befinden, dass es jetzt ums Kurzpassspiel geht. Deutschland hat seiner Meinung nach das Endspiel 2002 gegen Brasilien deswegen verloren, weil kurz vor dem 1:0 Hamann den Ball hatte und ihn zuerst zu Metzelder und dann zu Ziege spielen wollte – doch jedes Mal stand ihm dabei Schiedsrichter Collina im Weg. Auf die wirklich interessanten Fragen geht Theweleit dabei überhaupt nicht ein: Die Deutschen hatten während des Turniers fast immer miserabel gespielt und trotzdem gewonnen, im Endspiel waren sie großartig und besser als die Brasilianer – aber verloren. Ein Nachdenken über derlei existenzielle Befunde wäre weitaus ergiebiger als Theweleits Power-Point-Essayistik.“

Ich habe kein Problem, über Fußball mit diesen Fachleuten zu diskutieren
SZ-Interview mit Felix Magath (SZ5.6.)

SZ: Sie sind passionierter Schachspieler. Wie erleben Sie Ihre momentane Situation?
FM: Als die eines Wartenden.
SZ: Und was leiten Sie vom Schach für die Aufstellung des FC Bayern ab?
FM: Ich habe übers Schachspiel fast alles für die Fußball-Theorie gelernt. Und Fußball ist kein Spiel für Theoretiker. Ich kenne auch kein Buch, das das Fußballspiel erklären kann, zu schwierig, zu kompliziert. Fußballspieler lernen ja nicht aus Büchern, sie lernen nur in der Praxis. Leider bin ich erst, als ich 1978 mit Hepatitis im Bett lag und Kortschnoi gegen Karpow auf den Philippinen gesehen habe, dem Hamburger Schach-Klub beigetreten. Da habe ich einen Privatlehrer genommen, der hat mir etwas die Theorie erklärt – und es zeigte sich, dass die Spiele ähnlich sind. Auch Schach findet in einem abgegrenzten Feld statt; beim Schach ist der König im Zentrum, der gefangen werden muss – beim Fußball ist es das Tor, das in der Mitte steht. Daraus ergeben sich gemeinsame Strategien. Die Abwehr muss stimmen. Sie können im Hurra nach vorn marschieren, dann gewinnen sie kein Spiel.
SZ: Wie wichtig ist Ihnen bei dieser anspruchsvollen Titeljagd, dass Ihre Handschrift als Trainer klar zu erkennen ist?
FM: Ich bestimme ja nicht, was gespielt wird, das bestimmen die Spieler mit ihren Fähigkeiten. Dabei gibt es keinen Spieler, auf den man nicht verzichten kann. Jeder ist ersetzbar. Das ist doch die Erfahrung aus der vergangenen Saison: Der FC Valencia ist Uefa-Cup-Sieger geworden, der FC Porto hat die Champions League gewonnen. Zwei Mannschaften, in denen alle gemeinsam gearbeitet haben. Auch wenn inzwischen viel Show dabei ist, so ist das Fußballspiel immer noch ein Sport. Das ist in Deutschland lange außer Acht gelassen worden. Auch bei Bayern ist der eine vom anderen abhängig, es müssen sich alle ein- und unterordnen.
SZ: Nimmt man das grandiose Scheitern von Real Madrid dazu, scheint es eine klare Abkehr vom Starkult zu geben.
FM: Das habe ich auf unserer letzten Trainertagung auch gesagt: Wir betrachten Fußball als Selbstverständlichkeit. Nach dem Motto: und Fußball spielen wir auch noch. Alles ist wichtiger: Werbetermine sind wichtig, Marketing, die Fans sind wichtig, die Medien, die Mineralgetränke, das Essen – alle und alles. Fußball, das Training, die Ausbildung, das ist in den Hintergrund geraten.
SZ: Sie waren früher als Quälix bekannt. Damit wollen Sie nichts mehr zu tun haben. Aber diese Strenge ist es, die der FC Bayern von Ihnen erwartet.
FM: Der Quälix stört mich ja nicht so sehr, den fand ich eher lustig. Ich bin ja auch Asterix-Freund . . .
SZ: . . . den aber die anderen Attribute wie ,Schleifer“ oder ,Diktator“ stören.
FM: Bei den Bayern hieß es jetzt schon: Die müssen wir wieder ins Laufen bringen! Und schon ging’s los: Schleifer! Quälix! Da werden die Dinge völlig schief beurteilt. Es kann ja hierzulande kaum noch jemand einschätzen, was einer als Profifußballer trainieren oder leisten muss. Vor zwei, drei Jahren las ich einen Artikel über den Zehnkampf, in dem der Bundestrainer sagte: Ein junger Zehnkämpfer muss sich jeden Tag quälen. Jeden Tag! Das macht doch eines deutlich: Ohne Arbeit geht’s nicht. Und dass dann einer wie ich hingestellt wird als Schleifer oder Quälix, obwohl er nur versucht, junge Spieler nach vorne zu bringen, und das auch geschafft hat – mit Hasan Salihamidzic zum Beispiel, der aus der Jugend des Hamburger SV zum FC Bayern kam. Und der auch Erfolg hat, ohne größere Verletzungsprobleme. Das wird immer unter den Teppich gekehrt: Ich habe beim VfB Stuttgart keine größeren Verletzungsprobleme. Dortmund zum Beispiel quält sich mit Verletzungen. Wenn ich mit meiner Arbeitsweise 17 Verletzte hätte, dann könnte man sagen: Der trainiert zu hart, zu viel. Aber das ist nicht der Fall, und dann muss ja meine Trainingsarbeit gut sein. Doch bei mir wird die Schublade aufgemacht: Schleifer! Damit wird Stimmung gemacht. Und das macht mir das Arbeiten schwer.
SZ: Einige Jahre galten Sie in der Bundesliga nur als der Prototyp des Feuerwehrmannes. Welche Wandlung hat sich bei Ihnen vollzogen?
FM: Ich stehe nach wie vor zu dem, was ich am Anfang meiner Trainerlaufbahn gesagt habe: Ordnung, Disziplin und körperliche Fitness sind Grundvoraussetzungen, um Erfolg zu haben. Trotzdem habe ich mich in Stuttgart reifer gezeigt. Wobei keiner ermessen kann, was Abstiegskampf ist, wenn er nie da drin war. In Frankfurt war es mein schlimmster Job. Überlebenskampf jeden Tag, jedes Spiel auf Messers Schneide. Möchte den mal sehen, der mit so einer Situation locker-flockig umgeht. Am Anfang war’s ja auch in Stuttgart so ein haariges Ding. Dann habe ich gesagt: Das mache ich nicht mehr, ich will das nicht mehr. Ich will auch mal auf einer anderen Höhe leben und arbeiten.
SZ: In München sitzen aber auch künftig welche weiter oben, die ihre Kommentierungen von der Ehrentribüne aus geben. Die werden den Fußballverstand nicht zu Hause lassen.
FM: Das habe ich schon mitgekriegt. Ich habe kein Problem, über Fußball mit diesen Fachleuten zu diskutieren. Im Gegenteil: Das kann doch nur zum Segen des FC Bayern ausgehen. Bei dieser hohen Kompetenz erwarte ich klare Analysen, Bestandsaufnahmen.
SZ: Sie kennen sich ja schon lange.
FM: Mit Uli Hoeneß habe ich bisher von den Bayern-Verantwortlichen am wenigsten zu tun gehabt. Ich habe 1976 angefangen, wir haben nur noch ein, zwei Jahre gegeneinander gespielt. Mit Rummenigge war ich 1982 und 1986 bei den Weltmeisterschaften. Ein guter, kein enger Kontakt, die Bayern hatten dort schon einen eigenen Tisch.
SZ: Auf Franz Beckenbauer waren Sie lange nicht so gut zu sprechen. 1986, damals war er Teamchef, hat er Sie im verlorenen Finale gegen Argentinien ausgewechselt. Ausgerechnet Sie, einen der wenigen, der damals neben 47 Vorstoppern richtig Fußball gespielt hat.
FM: Kurz nach der Halbzeit musste ich raus. Es war ja mein letztes Spiel, das Ende meiner Karriere. Im Finale in die Kabine geschickt zu werden – ich war ziemlich angefressen.
SZ: Haben Sie darüber geredet?
FM: Eigentlich nie. Er hat mich ja kurz darauf noch einmal mitgenommen. Drei Wochen später war ein Spiel in Los Angeles, Europa gegen Amerika, da war er der Europa-Coach. Da ging’s dann schon wieder. Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man ja. Aber für mich war’s ein bitteres Ereignis.
SZ: Künftig wird also nach römischem Prinzip gearbeitet: Teile und herrsche?
FM: Meine Verantwortung wird weniger, aber das wollte ich ja. In Stuttgart war ich Teamchef, jetzt darf ich nur noch Trainer sein. In einer für mich völlig neuen Situation, in der mir der Verein sagt: Willst du noch einen Spieler? Willst du nur einen, willst du zwei, drei, willst du vier? Sonst hieß es: Lieber Herr Magath, wir haben leider kein Geld.

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