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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ball und Buchstabe

Zwischen Erklärung und Verklärung

Oliver Fritsch | Donnerstag, 15. Dezember 2005 Kommentare deaktiviert für Zwischen Erklärung und Verklärung

Sehr lesenswert! Henning Sußebach (Zeit) klagt über die Erhöhung des Fußballs durch Wissenschaftler, Feuilletonisten und andere Sterndeuter: „Der einstige Arbeiterklassensport Fußball – der aus seiner Randlage noch für Überraschungen wie 1954 sorgen konnte – ist spätestens in den neunziger Jahren zum Deutungsgut aller geworden (…) Der Fußball und seine Hauptdarsteller haben sich eine Menge aufgeladen, aufladen lassen, auch im Nachhinein. Wer heute im neu entstandenen fußballerischen Diskurs nicht alles mit wem gleichgesetzt wird! Der ‚Chef’ Sepp Herberger mit dem ebenso autoritären Konrad Adenauer, der langleinige Helmut Schön mit dem Mehr-Demokratie-Wager Willy Brandt, der reformunfreudige Jupp Derwall mit Helmut Kohl. Zufall? Niemals! Natürlich war der Hurra-Stil der Mönchengladbacher Borussia Ende der sechziger Jahre nicht bloß Offensivfußball, auch nicht nur das Gegenteil zum konservativen Besitzstandswahrungskick des FC Bayern, sondern das Pendant zu Willy Brandts Auf- und Umbruchpolitik. Mehr Fußball wagen! ‚Zwar sitzen immer noch Castor-Gegner auf Gorleben-Gleisen, aber die größere Aufmerksamkeit gilt Fußballfans, die mit Sitzblockaden die Mannschaftsbusse ihrer Vereine an der Heimfahrt hindern’, schreibt Klaus Theweleit, Professor für Kunst und Theorie, in seinem Buch Tor zur Welt, einer der vielen jüngeren Veröffentlichungen, die auf dem schmalen Grat zwischen Erklärung und Verklärung des Massenphänomens Fußball balancieren, ob sie nun Gott ist rund heißen oder Mehr als ein Spiel. Geschrieben haben sie Dauerkartenbesitzer und Sportjournalisten ebenso wie preisgekrönte Schriftsteller – etwa Javier Marías, der in seinem Buch Alle unsere frühen Schlachten von seiner Liebe zu Real Madrid erzählt. Das ist der Fußball von heute: Dichter und Denker kicken, Kicker dichten und denken. Der Zusatz ‚…und besucht in seiner Freizeit die Heimspiele der SpVgg Oer-Erkenschwick’ erdet mittlerweile die Biografie manches Professors, der seine Nase früher hoch über der Grasnarbe trug. Leitartikler hangeln sich an Fußballmetaphern von Argument zu Argument, die Zeit druckt Fußballgedichte, und die Bundesliga hat es bis in die Tagesschau geschafft. Dort hat sie sonntags ihren eigenen Moderator und zersetzt die einst um Unaufgeregtheit bemühte Nachrichtenbastion von innen, durch Reinhold Beckmanns Gefühlsduselei und Gerhard Dellings Satzgedrechsel.“

Südfrage

Sehr lesenswert! Birgit Schönau (Zeit) erforscht die Popularität Diego Maradonas in Neapel und Argentinien und berichtet eine bemerkenswerte Mutmaßung über seine Zukunft: „Maradona versteht sich als Fürsprecher des gedemütigten, entrechteten, ewig hungrigen Südens. Deshalb füllt er heute in Südamerika die Stadien mit politischen Parolen. 40000 lauschten ihm in der Arena im argentinischen Mar del Plata, als er gegen US-Präsident Bush wütete, der sei ‚menschlicher Müll’, den Amerika loswerden müsse. Süden gegen Norden, die Nummer kennt er aus Neapel, nun spielt er sie auf einer größeren Bühne. Maradona will in die Politik. Der ehemalige Fußballspieler George Weah hat es ihm in Liberia vorgemacht. Und Maradona hat bereits erfahren, wie leicht er die Massen beeinflussen kann. Als er 1990 zum WM-Halbfinale gegen Italien ausgerechnet in Neapel gegen die Auswahl der Gastgeber antrat, warb Maradona unverblümt um die Gunst seiner Tifosi: ‚Wollt ihr wirklich zur Squadra Azzurra halten? Sonst gehört ihr doch auch nicht zu Italien. Nur jetzt geben sie euch ausnahmsweise das Gefühl, dass ihr Neapolitaner auch Italiener seid.’ Im Stadio San Paolo war das Publikum auf Maradonas Seite. Es pfiff Italien aus. Der Fußballer hatte die Südfrage erfasst. Eine Südfrage, die im reichen Italien bis heute ungelöst ist. Arbeitslosigkeit, Armut und Schulschwänzerraten sind in Neapel dreimal so groß wie in Mailand. Im Jugendgefängnis auf der Insel Nisida sitzen 90 Prozent Einheimische, der Rest sind Ausländer. Im Norden ist es genau umgekehrt. ‚Wenn Maradona heute als Bürgermeister von Neapel kandidieren würde, bekäme er 105 Prozent der Stimmen’, sagt Lucio Caracciolo, der geopolitische Chefredakteur. ‚Aber es scheint, er habe Größeres vor: Präsident von Argentinien zu werden.’“

Zeit: Wer darf künftig die Bundesliga im Fernsehen zeigen? Die ARD hat beste Chancen

Welt: Karten aus dem Supermarkt – Hertha BSC kämpft um Fans

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