indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

WM 2006

Raubtierkäfig

Oliver Fritsch | Dienstag, 27. Juni 2006 Kommentare deaktiviert für Raubtierkäfig

Holland tritt Portugal, Portugal tritt Holland – Jens Weinreich (BLZ) hält sich die Augen zu: „Wer die Verantwortung allein beim Referee sucht, nimmt die Täter und deren Anstifter in Schutz. Ja, hier darf man ruhig von Tätern reden, denn einige Attacken waren reine Körperverletzung. Also: Hat sich etwa einer der Treter und Schauspieler anschließend entschuldigt? Oder einer der beiden Trainer? Nein. Nicht Schiedsrichter Walentin Iwanow allein ist schuld am üblen Treiben. Er war einfach nur überfordert in diesem Raubtierkäfig, in den man ihn eingesperrt hatte mit zwei Dutzend zähnefletschenden Bestien.“

Pulverfaß mit 20 Zündschnüren

Christian Eichler (FAZ) schildert den Funkenschlag zur Eskalation: „Es war die falsche Art von Fußballfeuer, und der größte Brandstifter von allen war ein Holländer mit einem Engelsgesicht und großen Kinderzähnen, einer, der in Abweichung vom Motto des Abends keinen Gegner, sondern nur den Ball getreten hatte. Heitinga hatte niemanden umgetreten, nicht mal eine Gelbe Karte erhalten, womit er einer bedrohten Minderheit angehörte. Was hatte Heitinga getan? Er war nur mit dem Ball zwanzig, dreißig Meter nach vorn gelaufen. Das war Mitte der zweiten Halbzeit, sie lagen 0:1 zurück, ein ganz normaler Angriff also. Nur daß in der Szene zuvor das Spiel unterbrochen worden war, um einen Portugiesen zu behandeln (was mit Fortdauer der Partie immer öfter geschah und den Spielfluß tötete). Ein ungeschriebenes Gesetz verlangt, daß danach der Ball zurückgeht an das Team, das ihn zuvor hatte. Heitinga aber gab ihn nicht her, er lief los, Tausende pfiffen, brüllten, Deco kam, senste ihn um, das Volk jubelte. Von da an war das Fußballspiel Portugal gegen die Niederlande kein Fußballspiel mehr. Sondern ein Pulverfaß mit 20 Zündschnüren.“

Streng strafen nach unten, streng gehorchen nach oben

Roland Zorn (FAZ) kritisiert die Schiedsrichterpolitik der Fifa: „Wer seine Schiedsrichter derart intensiv unter Druck setzt wie die Fifa, darf sich über die aus Versagensängsten rührenden Ergebnisse nicht wundern. So wie Iwanow seinen Pflichten im Zweifel autoritär nachzukommen versuchte und dann doch die schlimmsten Grobheiten nicht mit Roten, sondern nur Gelben Karten sanktionierte, hatte der Engländer Graham Poll, der es zunächst auf die nette Tour versuchte, den Überblick beim Spiel Australien gegen Kroatien verloren. Poll hielt dem Kroaten Simunic drei Gelbe Karten vor – auch ein Rekord für die Geschichtsbücher. Diese Momente verdeutlichten, daß die Schiedsrichter für eine Weltmeisterschaft besserer psychologischer Schulung bedürften und nicht einer von Mal zu Mal verschärften Regulierungssucht. Gerade Blatter hat sich immer wieder für den Profischiedsrichter eingesetzt. Voila, Poll geht diesem Beruf nach – und ist wie mancher Kollege, zum Beispiel auch der während dieser WM bei seinem zweiten Einsatz weit unter Bestform gebliebene Markus Merk, dem allseitigen Druck nicht gewachsen gewesen. Streng strafen nach unten, streng gehorchen nach oben – und am Ende von Meister Blatter abgekanzelt werden: Das ist etwas viel auf einmal, um auf Dauer die souveräne oberste Regelhüterinstanz bleiben zu können.“ Christoph Biermann (SZ) wirft ein: „Der Referee ging auch deshalb verloren, weil er auf zwei Teams traf, die sich für die Regeln nur soweit interessierten, wie man sie dehnen, umgehen oder unbemerkt brechen kann.“

Eichler weist auf die Mängel im holländischen Spiel hin: „Das Team, das Spiel, es zerfiel in seine Einzelteile. Robin van Persie und Arjen Robben, die beiden Außen, spielten ohnehin nur für sich selbst, ließen dann und wann mal ein, zwei Gegner stehen, aber nie so, daß ein Mitspieler davon profitierte. Und aus dem Mittelfeld wurde wild und blind aus der Distanz geschossen. Beinahe gelang trotzdem der Ausgleich, Cocu traf kurz nach der Pause die Latte. Doch dann galt mehr und mehr das archaische Gesetz des Nervenspiels, in dem das Stammhirn das Kommando übernimmt und das Großhirn Feierabend macht: Angst essen Fußball auf.“

SZ: Trotz chronischer Fehlentscheidungen der Schiedsrichter betreibt die Fifa nur Aktionismus

Gute Geschichte mit schlechtem Ende

Italien besiegt Australien 1:0 – Christian Zaschke (SZ) hätte sich ein Happy-End gewünscht: „Die Australier waren das aktivere Team, das den attraktiveren Fußball spielte. Es wäre eine schöne Geschichte gewesen, eine nahezu klassische Geschichte, vom Underdog, der getragen vom Glauben an sich selbst gegen den Meister des zynischen Spiels besteht und vielleicht sogar gewinnt. Nun aber wirkte es so, als habe jemand diese Geschichte sehr gut erzählt und auch die Fehler der Australier nicht verschwiegen, als habe jemand auf die richtige Dramaturgie beim Erzählen geachtet und dann, am Ende der Geschichte, einfach gepfuscht. Läse der Erzähler die Geschichte vom Blatt ab – jeder Zuhörer würde das Blatt haben wollen, um zu sehen, ob das wirklich so da steht. Es war eine dieser Situationen im Strafraum, in denen man Elfmeter pfeifen kann, aber nicht muss.“

Lieblingsfeind der internationalen Fußballkritik

England spielt, Roland Zorn (FAZ) gähnt: „Ecuador ließ sich zu keiner Sekunde von einem der selbsternannten Turnierfavoriten beeindrucken. Zwar rauschten auch die Südamerikaner nicht gerade im Eiltempo nach vorn, wenn sie im Ballbesitz waren, doch waren ihnen zumindest eine gewisse Spielkultur und auch taktisches Geschick zu eigen. Die Engländer aber agierten wie die Deutschen in der Spätphase des Teamchefs Rudi Völler. Langsam, ohne Witz, ohne Konzept, eigentlich ohne alles, was mit ihrem hohen Anspruch hätte verknüpft werden können. Weil auf dem Platz nichts passierte, machten sich die einheimischen Zuschauer einen Spaß daraus, nach ‚Deutschland, Deutschland‘ zu rufen. Die Engländer konterten ganz feierlich: durch Singen ihrer Nationalhymne. Als der Schiedsrichter zur Pause pfiff, war sich das Publikum aber wieder einig: So gut wie alle pfiffen auf dieses Stück WM-Sommerfußball. Dieses K.o.-Spiel hatte eher die Wirkung von K.o.-Tropfen.“ Wolfgang Hettfleisch (FR) beobachtet, wie der Schwarze Peter die Seite wechselt: „Die Mannschaft um Beckham, Rooney und Co. mausert sich zum Lieblingsfeind der internationalen Fußballkritik – eine Rolle, die zumindest in jüngerer Vergangenheit traditionell deutschen Teams vorbehalten war. Dass ausgerechnet die DFB-Elf die Welt nun mit ansehnlichem und schnellem Offensivspiel beeindruckt, entbehrt auch deshalb nicht einer gewissen Ironie, weil englische Zeitungen stets vorneweg marschieren, wenn es gilt, den geist- und ideenlosen teutonischen Rumpelfußball zu geißeln.“

Raphael Honigstein (SZ) über den Protagonisten: „Es fiel ausgerechnet dem unter einem kleinen Hitzschlag leidenden Beckham zu, seine Mannschaft zu erlösen. Beckham quälte sich relativ unauffällig durch die Partie, aber am Ende war er doch der Hauptdarsteller. Er traf, übergab sich auf den Rasen und blieb nach dem Schlusspfiff als Letzter im Stadion, um den Applaus entgegenzunehmen. Das Passionspielchen ‚Beckham bei Weltmeisterschaften‘ ist so wieder um ein Kapitel reicher.“

Der letzte weltumspannende Traum

Dirk Kurbjuweit (Spiegel) stellt Brasilien als eine Art Ableitung der Harlem Globetrotters vor: „Von niemandem wurde in dieser Zeit so viel erwartet wie von Ronaldo. Und niemand, der so oft enttäuscht hat, hat so oft begeistert. Erwartungen sind etwas Teuflisches. Das spürt gerade die gesamte brasilianische Mannschaft. Zur WM will die Welt erlöst werden. Sie baut über Jahre riesige Erwartungen auf an ein Fest der Schönheit [!], und diese Erwartungen sollen vor allem die brasilianischen Abenteurer erfüllen. Doch bis zum Donnerstag feierte die Welt in Deutschland ein fröhliches Fest, bei dem vieles glänzte und schillerte, nur Brasilien nicht. Über Brasilien hing ein Grauschleier. Brasilien hatte die Erwartungen bei den knappen Siegen über Kroatien und Australien enttäuscht. Zwar spielte die Mannschaft beim 4:1 gegen Japan verbessert, aber noch immer stellt sich die Frage, ob diese Brasilianer die Welt erlösen können. An der Mannschaft hängt ein Traum, vielleicht der letzte weltumspannende Traum, der nicht industriell gefertigt wurde, so wie die Träume, die aus Hollywood kommen. Ein paar Jungs, die dem Elend entronnen sind, deren Land der Welt politisch wenig zumutet, streifen sonnengelbe Trikots über und bezaubern die Welt mit herrlichem Spiel. Es ist der Traum vom Triumph des Guten. Es geht um soziale Gerechtigkeit, um Friedfertigkeit und um Schönheit, und das alles ist auch noch siegreich. Deshalb tragen Menschen in aller Welt gern Sonnengelb. Wer sich ein Trikot von Brasilien anzieht, ist zugleich Erfolgs- und Gutmensch, was sonst eher nicht zusammengeht. Im Trikot von Brasilien steckt die Vermutung von Lockerheit, Fröhlichkeit und unfassbarem Sex. (…) Arroganz ist ein Problem der gesamten Mannschaft geworden.“

Der Topfavorit zeigt Nerven

Axel Hunzinger (FR) ist enttäuscht von der Leistung der argentinischen Elf beim 2:1 gegen Mexiko: „Das merkwürdig fahrige und unpräzise Spiel der Argentinier allein an dem starken Kontrahenten festzumachen, wäre zu einfach. Der aufgrund der Leistungen der Vorrunde zum Topfavoriten aufgestiegene Weltmeister von 1978 und 1986 zeigte angesichts des Umstands, dass eine Niederlage erstmals im Turnier nicht mehr reparabel gewesen wäre, Nerven. Der Druck, als hoch gehandeltes Team bereits frühzeitig zu scheitern, ließ den bisher auf Hochtouren laufenden argentinischen Motor erstmals ein wenig stottern (…). Dass es dann mit Maxi Rodriguez einer der Vasallen der großen Stars richten musste, hätte logischer nicht sein können.“ Axel Kintzinger (FTD) hingegen schreibt die Leistung Argentiniens der starken Leistung der Mexikaner zu: „Traumwandlerisch sicher war Argentinien durch die Vorrunde marschiert und zum Top-Favoriten des Turniers avanciert – doch im ersten Spiel, in dem es um alles ging, war davon über weite Strecken nicht viel zu sehen. Allein die Entstehungsgeschichte des 0:1 offenbarte eine Schwäche des argentinischen Teams, die von schnellen deutschen Stürmern ausgenutzt werden könnte. Die Innenverteidigung mit Gabriel Heinze und Roberto Ayala ist klein und langsam. Da aber Mexiko über keine herausragenden Stürmer verfügt, hätte dieser Umstand allein den Favoriten nicht in Bedrängnis bringen müssen. Entscheidend für die Probleme waren die Härte und Hartnäckigkeit, mit der die Balldiebe aus Mexiko den Gauchos zusetzten. Nicht einmal Riquelme konnte verhindern, dass sie ihm den Taktstock aus der Hand rissen.“

Thomas Kistner (SZ) runzelt die Stirn über die Kollegen aus Mexiko: „Trainer La Volpes Problem ist das altbekannte: Mexiko Sportjournaille. Die reiste für alles gerüstet ins WM-Land, allein Fernsehsender Televisa, der Fifa traditionell eng verbunden, hat ein kleines Medienimperium in München installiert, doch gilt diese Sportpresse in Lateinamerika als eher unverdächtig, mit großer Fachkenntnis zu Werke zu gehen. Im Falle von Niederlagen wird ungeachtet der Begleitumstände die Feder schnell zum Seziermesser, weshalb La Volpe seit längerem eine herzliche Feindschaft mit den heimischen Medien pflegte, Presseboykott inklusive.“

Alte Garde, junge Garde

Michael Wulzinger (Spiegel) erwartet beim Spiel Frankreich gegen Spanien das Muster Alt gegen Jung, Vergangenheit gegen Gegenwart und Zukunft: „Wie fatal es ist, wenn ein Coach die Macht alternder Stars und Diven nicht brechen kann, zeigt das Beispiel der Franzosen. Der Weltmeister von 1998 und Europameister von 2000 scheint auf geradezu klassische Weise auf das Ende einer Epoche zuzusteuern – ein Imperium gerät ins Schwanken, weil es nicht in der Lage ist, sich von innen heraus zu erneuern. Bei der WM präsentierte sich die Équipe Tricolore bis zum 2:0 gegen Togo als notorisch zerstrittener Haufen, in dem Zinedine Zidane, Lilian Thuram und Claude Makelele den Ton angeben – drei Fußballhelden einer goldenen Generation, die sich von der Nationalmannschaft bereits verabschiedet hatten und deren Glanztaten Geschichte sind. Vor knapp einem Jahr kehrte das Trio, begleitet von einer Medienkampagne, zurück, und seither wirkt Trainer Raymond Domenech wie eine Marionette seiner Altstars. (…) Eifersüchteleien zwischen Spielern der beiden Erzrivalen Real Madrid und FC Barcelona prägten jahrzehntelang auch das Klima in Spaniens Auswahl. Die Mannschaft hatte keine Ausstrahlung, keinen Charakter, keine Identität. Ihr indifferentes Erscheinungsbild spiegelte die Unversöhnlichkeit der nach Autonomie strebenden Regionen und dem zentralistischen Staat mit seiner alles erdrückenden Kapitale Madrid. ‚Sie können sich in Spanien nicht entscheiden, ob sie sich am Stier oder am Torero orientieren sollen‘, stichelte einst der argentinische Fußball-Intellektuelle Cesár Luis Menotti. Vom Dualismus der rivalisierenden Großclubs ist nichts mehr zu spüren. Von den 23 Spielern kommen nur noch 4 von Real Madrid und 3 vom FC Barcelona. Der Rest rekrutiert sich aus den Kadern von Atlético Madrid, dem FC Valencia, dem FC Villarreal, dem FC Getafe und Betis Sevilla. Mit der jungen Garde haben die Spanier ihren Auftritten erstmals einen unverwechselbaren Stil verliehen. Das Mantra der Mannschaft lautet Ballbesitz, und das Team zelebriert ein Kurzpassspiel, das nach Möglichkeit immer den direkten Weg zum gegnerischen Tor sucht. Ein Spektakel.“

WamS: Spaniens junge Mannschaft hat endlich ihren eigenen, begeisternden Stil gefunden
taz: Als Spieler bekämpfte Nationaltrainer Luis Aragonés den radikalen Kombinationsfußball, den Spanien heute spielt

FR: Der Unsterbliche – eine Ode an Zinedine Zidane

BLZ: Frankreich kann noch nicht auf Zidane verzichten

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