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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

EM 2008

An der ersten Kreuzung falsch abgebogen

Oliver Fritsch | Freitag, 13. Juni 2008 Kommentare deaktiviert für An der ersten Kreuzung falsch abgebogen

Ihrer Mannschaft mangelt es an Widerstandskräften, doch die Schweiz wird trotz des Ausscheidens ein guter Gastgeber bleiben / Portugals Deco glänzt im Schatten Ronaldos

Flurin Clalüna (Neue Zürcher Zeitung) macht das mangelhafte Immunsystem für das Schweizer Ausscheiden verantwortlich: „Die Schweizer Fußballer sind wieder dort, wo sie in der Vergangenheit so oft schon waren. Es ist ein Rückfall in ein Raster, aus dem der Ausbruch gelungen schien: An dieser Euro blieben sie gefangen in ehrenvollen Niederlagen. Die bloßen Resultate gegen Tschechien und die Türkei spiegeln zwar den ‚worst case’, doch jedes Ergebnis hat seine Geschichte, und darin übernahmen die Schweizer eine achtbare Rolle. Sie spielten gut, so gut es angesichts der nachteiligen Begleitumstände eben ging. Sie mussten wiederholt erfahren, dass Details entscheiden und dass sie Unerwartetes viel schlechter abfedern können als andere, deren Fundament breiter ist. Die Pufferzone zur Dämpfung unvorhergesehener Zwischenfälle ist bei den Schweizern schmal. Wenn vieles gegen sie und wenig für sie läuft, können sie nicht angemessen reagieren. In anderen Teams lassen sich Baugruben zuschütten. In der Schweiz nicht.“

Boris Herrmann (Berliner Zeitung) stellt klar: „Es stimmt, dass die Schweizer Mannschaft bei ihrem Heimspiel ein wenig vom Schicksal im Stich gelassen wurde. Erst erkrankte die Frau von Köbi Kuhn, dann riss das Innenband von Kapitän Alexander Frei, dann übersah der Schiedsrichter ein Handspiel des Tschechen Ujfalusi. Es stimmt aber auch, dass dieses Pech nicht über die spielerischen Unzulänglichkeiten hinwegtäuschen kann. (…) Die schweizerische Mannschaft der EM 2008 war nie so gut wie sie sich selbst gesehen hat.“

Claudio Catuogno (SZ) ergänzt: „Wahrscheinlich hat sich die Schweiz auch deshalb als erstes Team aus ihrem eigenen Turnier verabschiedet, weil alles einen Tick zu rührend geriet in ihren Bemühungen um internationale Konkurrenzfähigkeit. Jetzt, wo sie vorzeitig vorbei ist, wirkt Kuhns Mission wie ein misslungener Familienausflug in eine große Stadt: Man hat eine Landkarte dabei und sich die vermeintlich beste Route angestrichen, aber dann ist man gleich an der ersten Kreuzung falsch abgebogen.“

Sie werden gute Gastgeber sein

Felix Meininghaus (Financial Times Deutschland) berichtet von der Schweizer Selbstbeherrschung: „Wer nach dem 1:2 gegen die Türken auf der Suche nach dramatischen Bildern von vor Verzweiflung hemmungslos schluchzenden Menschen war, wurde enttäuscht. Fußball ist und bleibt für die Schweizer ein rein sportlich besetztes Vergnügen, zum großen Theater mit epischer Inszenierung taugen die Eidgenossen nicht. Schon gar nicht zu einem zur Schau getragenen Nationalismus mit chauvinistischen Zügen, wie er bei anderen Nationen immer wieder durchbricht. Der Schweizer pflegt zu viel Distanz zum Geschehen, um sich von solchen Emotionen mitreißen zu lassen. Ab sofort kann die Schweiz die EM mit der Haltung beobachten, die sie am besten beherrscht: neutral.“

Christian Kamp (FAZ) stimmt goutierend ein: „Man darf nicht glauben, dass ein ganzes Land in Depression verfällt, nur weil seine Fußballmannschaft aus einem großen Turnier ausgeschieden ist – auf welch schicksalhafte Art auch immer. In der Gelassenheit auch in der Niederlage unterscheiden sich die Schweizer wohltuend von den Nachbarn, die sie umgeben. Sie werden, daran gibt es keinen Zweifel, bis zum Ende gute Gastgeber sein.“

Über das Spiel gegen die Türken heißt es bei ihm: „Es waren nicht die schweizerisch-türkischen Fußball-Ressentiments infolge der Prügeleien von Istanbul im November 2005, die diesem Abend sein unvergleichliches Gesicht gaben – im Gegenteil, es ging angesichts der Bedingungen sogar ausgesprochen fair und respektvoll zu. Die speziellen Bedingungen, das waren vor allem die gewaltigen Regenschauer, die ein kontrolliertes Spiel fast die ganze erste Halbzeit lang unmöglich machten. Ein Spielabbruch schien jederzeit möglich. Und die Entscheidung des erfahrenen Schiedsrichters Lubos Michel, das Spiel fortzusetzen, wäre mit Sicherheit ein Thema geworden, hätte die Schweiz den Platz als Sieger verlassen.“

Meisterwerk

Christian Eichler (FAZ) richtet den Schweinwerfer auf Portugals Deco: „Ronaldo ist die große optische Täuschung des Teams von Portugal. Denn wer zu lange auf ihn schaut, und das tun viele, übersieht einen anderen, übersieht Deco. Ronaldo tut die Dinge, die man von ihm kennt, sie sind oft vorhersehbar und trotzdem meist nicht zu verhindern. Deco ist das Gegenteil von Ronaldo. Was er tut, sieht immer so aus, als wäre es zu verhindern. Aber es ist fast nie vorhersehbar. Deco wirkt stets etwas lauffaul, doch die Statistik zeigt etwas anderes, mit über elf Kilometern hatte Deco das größte Pensum seiner Elf – kaum Spurts, aber eine kontinuierliche Beweglichkeit, die ihn anspielbar macht. Und so hatte er sich in der entscheidenden Spielszene am rechten Flügel freigejoggt, erhielt den Ball, kontrollierte ihn augenblicklich, ohne hinschauen zu müssen, taxierte die Spielsituation – und spielte dann mit dem Außenrist einen Pass zwischen vier Tschechen hindurch auf den heranjagenden Ronaldo, nein: auf den Innenspann des rechten Fußes des heranjagenden Ronaldo, einen Pass, der nur exakt mit dieser Richtung, diesem Tempo, diesem Timing und dieser perfekt flachen Bahn gespielt werden konnte, um zum Treffer zu führen. Ein Meisterwerk. Ein Pass wie ein Putt über fünfzehn Meter mitten ins Loch – nur dass er anders als beim Golf unter Zeitdruck binnen Sekundenbruchteilen ausgedacht und ausgeführt werden musste.“

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