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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

EM 2008

Entwurf von Perfektion

Oliver Fritsch | Samstag, 28. Juni 2008 Kommentare deaktiviert für Entwurf von Perfektion

Die Spanier verzücken die Beobachter – auf und neben dem Platz / Russland und Arschawin laufen ins Leere

Stilvoll in jeder Hinsicht – Ronald Reng (Berliner Zeitung) schwärmt von Spanien: „Mehr als jedes andere Nationalteam hat Spanien die klassischen Schönheiten des Fußballs, wie den anmutigen Pass, bewahrt und mit den modernen Anforderungen an Tempo und Taktik vereint. Sie machen die Klagen lächerlich, heute gebe es keine Spielmacher, keine Typen, keine Straßenfußballer mehr. Diese Elf beweist, dass es heute etwas viel Besseres gibt: Kinder aus den Fußball-Akademien wie Xavi, Cesc Fabregas oder David Villa, die technisch und strategisch mindestens auf dem Niveau all dieser Straßenfußballer sind und die ohne den Egoismus und das Ätzende der Maradonas, Effenbergs, Bernd Schusters auskommen. Sie sind ein Beweis: Sieger können wohl erzogen, unkompliziert sein; liebenswert. (…) Die zweite Halbzeit gegen Russland, als sie nicht aufhörten zu kombinieren und anzugreifen, war Spaniens Entwurf von Perfektion. Sie haben dem Fußball etwas Neues geschenkt: den Kombinationskonter. Selbst wenn sie schnell kontern, wie beim Tor zum 2:0, bauen sie noch ein paar Kombinationen mit Stoppen und Passen ein. Die Lehre des Fußball sagt, das gehe nicht: langsam zu kontern. Sie können es. Sie verbinden das Beste aus allen Welten. Sie haben zum Beispiel die beste Defensive der EM durch Offensivspiel.“

Flurin Clalüna (Neue Zürcher Zeitung) bemerkt alte und neue Stärken: „Manchmal gehen sie immer noch verschwenderisch mit ihren Pässen um, wenn der Ball wie ferngelenkt einen von Fuß nach dem anderen ansteuert. Es ist ein Präzisionsspiel, das niemand an der Euro 08 so konstant und schön beherrscht wie die Spanier. Aber all die Selbstverliebtheit aus früheren Jahrzehnten ist aus ihrem Spiel verschwunden. Und mit ihr auch die Erfolglosigkeit, die die Iberer an großen Turnieren seit dem letzten EM-Final 1984 so treu begleitet hat. Fußballspielen konnten sie schon immer. Aber an diesem Turnier machen sie mehr als das. Denn diese Spanier können auch anders. Sie haben gelernt, Siege zu erzwingen wie gegen Schweden, sie haben die Hinhaltetaktik der Italiener bis zur Selbstverleugnung ausgehalten und hässlich taktiert, wie es eigentlich nur erfolgsgewohnte Mannschaften können. Sie rennen manchmal weniger als andere; es wurde vor dem Halbfinal errechnet, dass die Spanier in den vier vorherigen Spielen insgesamt 100 Kilometer weniger weit gelaufen waren als die Russen. Auch die Deutschen werden ihnen physisch überlegen sein. Aber immer haben die Spanier das Spannungsmoment hochgehalten und vielleicht auch deshalb als einzige Mannschaft des Turniers alle bisherigen Spiele gewonnen. Sie waren die einzigen, die sich ohne echte Sinnkrisen durch das Turnier spielten, ausgerechnet sie, die dafür so anfällig schienen, ausgerechnet Spanien, das immer die schlechte Karikatur einer so genannten Turniermannschaft gewesen war.“

Von sich überzeugt

Roland Zorn (FAZ) blickt auf Äußeres und Inneres: „45 Minuten lang hielt das Team von Trainer Guus Hiddink die Partie offen, dann wurde es entzaubert und vom spanischen Kombinationsverwirrspiel überrollt. Fußball de Luxe bot Aragonés‘ Team in dieser denkwürdigen zweiten Halbzeit. Perfekter Konterfußball, ein perlendes Zusammenspiel kreativer Freigeister und dazu eine kunstvolle Zielstrebigkeit in den entscheidenden Momenten, die auch auf diesem Spitzenniveau Seltenheitswert hat. Spanien hatte ein Meisterstück schon vor dem Endspiel abgeliefert – und vielleicht ist das die Chance für die unberechenbaren Deutschen. Tatsächlich sind die jahrelang bei den großen Turnieren früh gescheiterten Iberer vollkommen von sich und ihren Siegerfähigkeiten überzeugt. Da ist kein Platz mehr für Gedanken an eine mögliche Niederlage. Das alte Verliererimage interessiert diese neue spanische Fußball-Generation nicht mehr. Seit nunmehr 21 Spielen ist die Mannschaft ungeschlagen.“

Vorschnell verliehener Lorbeer welkt rasch

Christian Eichler (FAZ) wendet sich ab von den gebremsten Russen: „Wer hätte das ahnen können? Dass ausgerechnet Russland einmal die Energie ausgeht. Die laufstärkste Mannschaft des Turniers hatte auf einmal schwere Beine und dünne Stimmen bekommen. Das zuvor so wunderbar verflochtene Pass- und Laufspiel war nach spätestens einer knappen in Einzelteile zerfallen. Am auffälligsten isoliert, ja am einsamsten wirkte der Mann, der nach seiner Schau gegen die Holländer noch als der ‚Magier’ dieser EM gefeiert worden war. Andrej Arschawin verfing sich ziellos im Netzwerk der spanischen Laufmuster und Tempo-Kombinationen. (…) Vielleicht war zu viel Eigensinn ins Spiel der zuvor kollektiv überzeugenden Russen gekommen. Wo sie bislang das selbstlose Spiel so weit getrieben, ja übertrieben hatten, dass sie den Ball mit immer noch einem Abspiel bis über die Linie zu kombinieren versuchten, suchten sie nun oft den eigensinnigen, verfrühten Abschluss. War es die Absicht, sich persönlich ins Schaufenster zu stellen, nachdem man plötzlich im Mittelpunkt des europäischen Interesses stand? Oder waren es einfach die Scheuklappen, die gerade junge Mannschaften oft bekommen, wenn ihnen ausgebuffte, clevere Gegner die gewohnten Wege verstellen?“

Frank Hellmann (FR) ergänzt: „Die spanische Kombinationsgabe ist noch effektiver als das russische Verwirrspiel, das Spielanalytiker wegen seiner komplexen Vernetzung als Pentagon-System titulieren. Doch die Verdrahtung in der Offensive gelingt nur, wenn als zentrale Figuren Roman Pawljutschenko und Andrej Arschawin im Spiel sind – beiden Überfliegern wurden aber alle versorgenden Verbindungen gekappt und kräftig die Flügel gestutzt. Vor allem der als vermeintlicher Superstar gefeierte Arschawin demonstrierte, dass vorschnell verliehener Lorbeer rasch welkt. Der mit einem Wechsel zum FC Barcelona kokettierende hatte im Spiel jeglichen Spaß verloren – und fand diesen erst bei Champagner und Wodka in der Feiernacht wieder. Der Freigeist hat sich auf dem Platz nicht gegen den drohenden Untergang gewehrt.“

BLZ: Russlands Mannschaft wertet die gewonnene Anerkennung als ihren größten Erfolg bei der EM

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