Ballschrank
Das Wesen des Fußballs
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| Donnerstag, 25. März 2004
Über das Wesen des Fußballs sinniert Dirk Schümer (FAZ 29.6.). „Fußball inszeniert eben keineswegs die Schönheit menschlicher Bewegungsabläufe und die Akrobatik von Ballkünstlern, sondern gestattet solche erhabenen Momente allerhöchstens hier und da, um dadurch das vorherrschende Gefüge von Taktik, Destruktivität und Opportunismus nur um so sichtbarer zu machen. Bestünde der Fußball aus einer Abfolge von Geistesblitzen und Jahrhundertschüssen, er wäre ebenso wenig bei voller Gesundheit zu ertragen wie ein neunzigminütiger Orgasmus. Gerade weil er so hässlich, ungerecht und gemein sein kann, wurde der britische Fußball – weit vor der amerikanisierten Popkultur – zum einzig relevanten globalen Massenspektakel. Im Kicken offenbaren sich die gesetzliche Fehlerhaftigkeit des Lebens und die Unwahrscheinlichkeit des Gelingens (…) Gerade das hässliche, das auf Abwehr basierende Brasilien ist nun der Beweis dafür, dass das deutsche Prinzip des errechneten Erfolgs gesiegt hat. Es treffen also nicht zwei Welten aufeinander, sondern die pragmatische Welt des globalen Kapitalismus begegnet sich selbst – hier in der an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit bolzenden und köpfenden Erscheinungsform Linke, dort in der weit unter ihren Möglichkeiten gebändigten Erscheinungsform Roberto Carlos.“
Mark Siemons (FAZ 29.6.) wagt einen Vergleich. „Es ist eine verblüffende Koinzidenz, dass diese machtvolle Manifestation des Postkolonialismus zeitlich mit der Documenta 11 zusammenfällt, die bekanntlich keine anderen Ziele verfolgt. Auch dort zeigte sich, dass der Glaube, dass die Welt sich adäquat nur aus dem Blickwinkel der westlichen Kultur verstehen lasse, anachronistisch geworden ist. Bisher glaubte man, mit einer gewissen gönnerhaften Geringschätzung auf die „interessanten“ Kulturen der „Dritten Welt“ blicken zu können, nicht ohne die stillschweigende Überzeugung, dort wiederholten sich im exotischen Gewand ja ohnehin bloß die westlichen Muster. Aber diese Vorstellung von reinen autochthonen Kulturen war eben auch nur ein westliches Phantasma; die Realität, die sich nun kraftvoll Bahn bricht, ist, dass man sich inmitten der vielfältig verflochtenen Mischungsverhältnisse der Gegenwart auf einmal gezwungen sieht, die Blickrichtung zu verändern, die Welt von der anderen Seite anzuschauen.“
Die Polarität der beiden Fußballstile relativiert Thomas Kistner (SZ 29.6.). „Hier das Land, das für höchste Effizienz und maschinelle Präzision geachtet und zuweilen beargwöhnt wird, und das einen Ballfänger als einzigen Heros der Gegenwart vorzeigt; dort ein Volk, das mit Klängen und Bewegung betört und alles was es tut, liebt, hasst mit Saudade unterlegt – diesem Lebensgefühl, das mit Sehnsucht unzureichend umschrieben ist. Hier Ramelow. Dort Denilson. Spricht das nicht für sich selbst? Es gibt längst innige Verschmelzungen. Die natürlichen Künstler haben sich alles Wichtige abgeguckt von den nüchternen Siegkonstrukteuren. Auch die Gabe ist angelegt in dem einzigartigen Ethno-Mix aus indianischen Ureinwohnern, versklavten Afrikanern und Portugiesen, der im zweiten Schritt von Einwandererströmen ergänzt wurde: Japaner, Italiener und Deutsche. Brasilien kann europäisch spielen. Dass sie es muss, um erfolgreich zu sein, hat die Seleçao aber erst in den letzten Jahren begriffen (…) Nun rätseln die Experten, worin das deutsche Erfolgsgeheimnis liegt. Aber es gibt keines, dies war ja vor allem die WM der verschlafenen Konkurrenten. Das deutsche Rezept ist das alte, und Völlers Vorgaben an seine tapferen 1:0-Fabrikanten blieben bis ins Finale dieselben.“
Der Essener Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz (NZZ 29.6.) sucht nach dem deutschen Erfolgsgeheimnis. „Wenn man sich nicht mit magischen Wegerklärungen wie Losglück, Fortuna und „typische Turniermannschaft“ begnügen will, muss man die entscheidende Information in dem suchen, was dem Geist des Feuilletons am fernsten ist: in der Kultur der Mittelmäßigkeit. Politisch ist sie uns ja schon längst vertraut. So wie die „Politik der Mitte“ unter ihrem Teamchef Gerhard Schröder uns alle entscheidenden Fragen erspart und „hot issues“ in Konturlosigkeit versinken lässt, so formiert sich offenbar auch im Fußball unter Teamchef Rudi Völler die gut organisierte, zu allem entschlossene Mittelmäßigkeit (…) Eine mittelmäßige Mannschaft, die das eigene Leistungsvermögen realistisch einschätzt, ist stärker als eine gute Equipe, die sich für eine sehr gute hält. Deutschland hatte während dieser Weltmeisterschaft den Vorteil, durch die unbarmherzige Kritik des In- und Auslandes gegen Selbstüberschätzung imprägniert zu sein. Dagegen tapsten Länder wie Portugal und Frankreich in die Success-Trap, in die Falle des (früheren) Erfolgs. Die WM 2002 war ein Triumph der Lernbereitschaft – auf Seiten der Spieler genauso wie auf Seiten der Beobachter. Nie zuvor sind Expertentipps so gründlich desavouiert worden; nie zuvor haben „exotische“ Mannschaften ein derartiges Chaos in der Hierarchie dieses Sports angerichtet. Rückblickend wird man kaum ein Spiel finden, dem eine Equipe ihren „Stempel aufgedrückt“ hätte. Und in fast jedem Spiel war jedes Ergebnis möglich. Mit anderen Worten, es gibt – zum Schrecken aller aggressiven Fußballästheten – keine „Dominanz“ mehr. Oder um Philosophen verständlich zu bleiben: Der Fußball hat in Korea und Japan endlich das Niveau der modernitätsspezifischen Kontingenz erreicht: Alles, was geschehen ist, hätte auch anders laufen können – aber nicht beliebig anders. Und damit haben wir eigentlich erst sachlich eingeholt, was institutionell schon lange Wirklichkeit ist: Weltfußball.“
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