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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ballschrank

Alle in diesem Land denken nur an Fußball

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Alle in diesem Land denken nur an Fußball

sehr lesenswert! Holger Gertz (SZ) erklärt die Macht des Fußballs in der deutschen Gesellschaft – Buchbesprechungen über Dieter Kürtens Memoiren, Pierluigi Collinas Autobiografie und eine Betrachtung von Sepp Herbergers und Otto Nerz´ Diplomarbeiten – Portrait Sönke Wortmann, Regisseur des „Wunder von Berns“

Sehr lesenswert! Holger Gertz (SZ 4.10.) fragt sich: „Wie hat der Fußball seine Macht gewonnen über ein armes Volk, das früher bekannt dafür war, sich aufs Dichten und Denken zu verstehen? Jetzt denken alle nur an Fußball, die Politiker in diesem Land denken immer an Fußball, und gelegentlich spielen sie Fußball sogar. Es gibt allerlei Fotos des Altkanzlers Kohl, wie er auf eine Torwand schießt, die Zunge klemmt er dabei zwischen die Zahnreihen, wie Kinder es tun, wenn sie mit höchster Konzentration etwas bewerkstelligen wollen. Der amtierende Kanzler legt sich einen 96er-Schal um, wenn er in Hannover zu Gast ist; einen Energie-Schal in Cottbus und einen Borussen-Schal in Dortmund. Er glaubt, ein Mensch könne gleichzeitig Fan von drei Vereinen sein, und nichts beweist deutlicher, dass er vom Wesen des Fußballs nichts begriffen hat. Früher hat er für den TuS Talle gestürmt, irgendwo im Brachland zwischen Hannover und Bielefeld. Sie nannten ihn Acker, eine Umschreibung für einen unbegabten, aber wenigstens leidenschaftlichen Kicker. Heute ist sein Fansein Kalkül, sein Jubeln auf der Tribüne ist der Aufruf an die Fans in Hannover, Cottbus, Dortmund: Wählt mich, ich bin einer von euch! Der Kandidat Stoiber spricht ständig von der Champions-League, in der sein Land der Bayern spielt, und von der Abstiegszone in Europa, in die das schlecht trainierte Deutschland hinabgerutscht ist. Natürlich ist auch für Stoiber der Fußball ein Vehikel, mit dem er seine Botschaft unter die Menschen bringt. Sein wahres Verhältnis zum Fußball – dem Spielgerät, nicht dem Phänomen – trat hervor, als er bei einer Wahlveranstaltung in der Oberpfalz auf eine Torwand schoss, diese knapp verfehlte und so einer in der Nähe stehenden Passantin die Brille aus dem Gesicht räumte. Die blutende Frau musste ärztlich behandelt werden, versprach aber, Stoiber jetzt erst recht zu wählen. Mit Fußball kann man als Politiker nichts verkehrt machen. Er ist der größte, der einzige Aufreger in einer schläfrigen Gesellschaft oder, wie es FAZ-Kollege Dirk Schümer viel besser formuliert hat: „Fußball ist der Leitstern unserer Kultur, wenn Kultur bedeutet: worüber die meisten reden, worauf die meisten fiebern, was die meisten wichtig finden, in welcher sprachlichen Währung die meisten miteinander verkehren.“ Das Zitat – aus einem schönen Buch mit dem beziehungsreichen Titel „Gott ist rund“ – ist schon ein paar Jahre alt, aber inzwischen ist das Fiebern und Reden und Wichtigfinden nur noch schlimmer geworden, und zuletzt konnte man Schümers einschränkende Formulierung „die meisten“ durch das absolute „alle“ ersetzen. Als im Herbst 2003 die Krise im Land deutlicher sichtbar war als je zuvor; als die Arbeitslosen nicht weniger wurden; als in München eine Art Rote Armee Fraktion in braun ausgehoben wurde; als die CSU eine Zweidrittelmehrheit schaffte; als die Hälfte der Leute in Bayern nicht mehr zur Wahl ging; als die Regierung in Berlin schwankte und schleuderte – da redeten alle, alle, alle über einen Fußballtrainer, der im Fernsehen „Scheißdreck“ gesagt hatte. Die Debatte um Rudi Völler hat bewiesen, wie weit sich der Fußball schon vorgearbeitet hat, von den Herzen in die Hirne, von den Stammtischen in die Parteizentralen, von den Sportseiten in die so genannten Kernressorts. Dabei war die Wutrede von „Rudi Rambo“ (Bild) in Wahrheit keine Rede; sie bestand im wesentlichen aus den wiederholt ausgestoßenen Begriffen Scheißdreck und Käse und Weizenbier und stellte nichts anderes dar als die Reaktion eines braven Fußballtrainers der sich geärgert hatte über das Spiel im besonderen und die Kritiker im allgemeinen. So reden Fußballer untereinander an jedem Wochenende, nach jedem verlorenen Spiel, aber jetzt, wo das Gebrüll aus der Kabine in ein Fernsehstudio verlegt worden war, machte sich die deutungswütige Öffentlichkeit daran, aus Völler einen Kämpfer wider die Medienwillkür, für Zensur und Ordnung zu kneten. Es gab abenteuerliche Besprechungen in den Feuilletons; der Moderator Hartmann wurde für seine Gesprächführung belobigt, als habe er nicht mit einem etwas aus der Fassung geratenen Teamchef geredet, sondern sei aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. Die so genannte Rede, wieder und wieder zitiert und abgedruckt, gilt schon jetzt als Dokument der Zeitgeschichte.“

Stefan Kuss (FAS 5.10.) hat ein Buch über die Diplomarbeiten von Sepp Herberger und Otto Nerz gelesen: „Fußball anschauen macht keine Freude mehr. Bei Abpfiff geben Kritiker und Kommentatoren die Floskeln Arbeitssieg und Ergebnisfußball von sich. Wurde die Partie lebhaft begonnen, hören wir den Trainer ausführlich von den zwanzig Minuten der ersten Halbzeit schwärmen, in denen seine Schützlinge sogar Fußball gespielt hätten. Was, bitte schön, hat die Mannschaft in der übrigen Zeit getrieben? Fußball gearbeitet, vorgetäuscht, verweigert? Schlimmer. Es muß befürchtet werden, daß die Spieler versucht haben, theoretische Vorgaben umzusetzen – die Mannschaft hat sich womöglich zu ihrer rationalen natürlichen Äußerung eine Planung, Programmierung, Realisierung, Verifizierung und Bewertung vorgenommen. Fußball ist nämlich auch eine Wissenschaft. Die Verteidigung, doziert der Sportwissenschaftler Simone Mazzali (Die Raumdeckung im Fußball, Leer 2001), müsse dem Modell der japanischen Wirtschaft nacheifern. In der Theoriebildung des Fußball führend ist allerdings Italien, das Land, welches den Catenaccio und den Supercatenaccio eingeführt hat, jenes Zumauern und Abriegeln mit den Bunkersystemen 4:5:1, 5:3:2 und sogar 5:4:1. Emilio Cecchini und Giovanni Trapattoni (Konzeption und Entwicklung der Taktik im Fußball, Köln 1999) predigen den Gebrauch von Raumkonzepten, Raummodulen, vermischten Systemen, verlangen von den Spielern Opferbereitschaft und erheben das Kollektiv zum obersten Prinzip.Diese Töne sind für Deutsche einerseits vertraut, andererseits neu. In den fünfziger und sechziger Jahren wiesen die Fußballehrer Cramer und Weisweiler immer wieder darauf hin, daß nicht Systeme den Erfolg bestimmen, sondern Spielerpersönlichkeiten. Zwar hat auch Deutschland einen Anteil an der Verbreitung defensiver Spielstrategien. Professor Otto Nerz erkannte 1934 frühzeitig die Bedeutung der Defensivstrategie des Londoner Trainers Chapman, später als WM-System bekannt. Nerz machte aus dem Mittelstürmer eine Spitze und aus dem Mittelläufer einen Stopper. Die Halbstürmer ließ er etwas zurückhängen. Sie bildeten mit den vorgezogenen Außenläufern das sogenannte magische Viereck. Die Formation sah aus wie die Buchstaben W und M. Weil bei dieser Spielweise eine enge Manndeckung nötig wurde, unterzog Nerz seine Spieler einem Boxtraining, um sie an den Druck des gegnerischen Körpers zu gewöhnen. Weltmeister wurde Deutschland aber nicht unter dem Schleifer Nerz, sondern mit Sepp Herberger. Schon in seiner Diplomarbeit (Der Weg zur Höchstleistung im Fußballsport, 1930) plädierte er unter Beibehaltung des WM-Systems für den spielerischen Fußballtyp, für Kunst am Ball und immer wieder für Spielfreude, die ihm Vater allen Fortschrittes war. Forsches Spiel war ihm lieber als Zögern und Herumtändeln.“

Besprochenes Buch: Jürgen Buschmann, Karl Lennartz, Hans Günter Steinkemper (Hrsg.) Sepp Herberger und Otto Nerz. Die Chefdenker und ihre Theorien. Ihre Diplomarbeiten, Kassel 2003.

Schätzungsweise 40 Pils

Erik Eggers (FR 8.10.) rezensiert die Memoiren von Dieter Kürten: „Es gibt Bücher, die man schon mit düsteren Vorahnungen zu lesen beginnt, Dieter Kürtens Drei unten, drei oben gehört zu ihnen. Der langjährige Moderator des ZDF-Sportstudios kenne sie alle, heißt es im Pressetext, und das darf jeder getrost als Drohung verstehen. Denn wer alle zu kennen vorgibt, der kennt sie ja meistens nicht wirklich, schabt oft nur an Oberflächen. Einen Ruf als besonders kritischer Geist hat er sich nicht erworben. Der überzeugte Christ, der seine journalistische Laufbahn beim Düsseldorfer Mittag begann, gilt vielmehr als chronisch harmoniesüchtig (also, Ihr Lieben) – nicht umsonst gilt er als Förderer der oberflächlichen Generation eines Michael Steinbrecher, der sich gern um die Frisuren der Sportstars kümmert, unbequeme Dinge aber lieber ausspart. So ist ein langweiliges, antiseptisches Buch entstanden. Es erzählt von intimen Dingen, die keine sind, wie etwa von den sprichwörtlichen Alkoholeskapaden betagter Fußballtrainer. Beispiel: Als Kampftrinker war Udo Lattek, der bekennende Schluckspecht (‚Die großen Trainer haben doch alle gesoffen‘), unschlagbar. Bei einem seiner Auftritte versenkte er bis zum frühen Morgen schätzungsweise 40 Pils (…), fragte stereotyp in der Runde der schon vorzeitig zermürbten Tischgenossen, was denn los sei, warum er im Stich gelassen werde und wieder einmal alles allein austrinken müsse. (…) Selbst ein Ribbeck in Spitzenform konnte einem Lattek in Normalform nicht das Wasser reichen.“

Besprochenes Buch: Dieter Kürten. Drei unten, drei oben. Erinnerungen eines Sportjournalisten, Reinbek 2003.

Thomas Klemm (FAZ 8.10.) bespricht die Autobiografie von Pierluigi Collina: „Pierluigi Collina behauptet, sich immer neue Ziele zu setzen und nicht allzusehr mit Vergangenem zu beschäftigen. Dies schlägt sich auch in seinen Erinnerungen nieder, muten doch manche Beschreibungen seiner Tätigkeit, gerade für deutsche Fußballfreunde, allzu distanziert an. Daß er auch anders kann, zeigt er an den stärksten Stellen seines Buches: in der Wiedergabe der letzten dramatischen Minuten im Spiel Bayern gegen Manchester, in dem auch er bis aufs äußerste angespannt war; oder seine Darstellung der kritischen Anfangsphase im WM-Finale 2002, als er dem Brasilianer Roque Junior sowie Miroslav Klose Gelb zeigen mußte, um das Spiel in die Hand zu bekommen. Der Rest handelt von seinem Training, das er genauso professionell angeht wie die Profikicker, von seinen wenig spektakulären Dienstreisen, bei denen er stets seine Frau und seine beiden Töchter vermißt, und seiner Vorliebe für italienisches Essen. Wirklich interessant erscheint der Alltag des Schiedsrichters nicht, packend beschrieben ist er auch nicht. Nicht vorwerfen kann man Collina einige Fehler des Lektorats. Die Frage aber bleibt: Welche sind Collinas Regeln des Spiels? Eindeutig fällt seine Antwort nicht aus. Eine mutige, auffällige Leitung empfiehlt er den Kollegen, mahnt aber auch, sich nicht in den Vordergrund zu drängen, sondern eine dienende Rolle einzunehmen, um die Fertigkeiten der Spieler als Spezialisten des Events Fußball optimal zur Geltung zu bringen. Der Diener als Star, das ist wohl nur einer: Pierluigi Collina, wer sonst?“

Besprochenes Buch: Pierluigi Collina: Meine Regeln des Spiels. Was mich der Fußball über das Leben lehrte, Hoffmann und Campe, 2003.

Milan Pavlovic (SZ 6.10.) porträtiert den Regisseur des „Wunder von Berns“: “Sönke Wortmann gehörte zu den Wenigen in der deutschen Filmbranche, die nichts kannten als den Erfolg, er erklomm auf der Karriereleiter eine Stufe nach der anderen, bis er plötzlich herunterpurzelte. Es ist eine typisch deutsche Stargeschichte mit einer für deutsche Verhältnisse unüblichen Wendung: Am übernächsten Donnerstag kommt sein neuer Film in die Kinos, „Das Wunder von Bern“, und so ziemlich jeder Beobachter geht davon aus, dass dies nach „Good Bye, Lenin!“ der zweite große deutsche Kinoerfolg des Jahres wird (…) Im „Wunder von Bern“ geht es um nichts weniger als die Wiederauferstehung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1954, auf drei Ebenen aufwändig miteinander verwoben – mit einem Budget von 7,5 Millionen Euro zwar Welten entfernt von Petersens 140-Millionen-Dollar-Spektakel „Troja“, aber dennoch so teuer wie noch keiner von Wortmanns deutschen Filmen; ein Wagnis schon allein aus dem Grund, dass Fußball, Kino und Erfolg noch in keiner Gleichung aufgegangen sind. Bis jetzt. Vielleicht hat es einen wie Sönke Wortmann gebraucht, um den Fluch zu brechen. Einen Filmemacher, dessen Leben selbst voller Verbindungen zum Fußball ist. Einen, der selbst einmal Profi war. Wortmann hat die SpVgg Erkenschwick Anfang der Achtziger mit seinem einzigen Saisontor in die Zweite Liga geschossen. Er benutzt gerne Fußball-Vergleiche, und seine Filmkarriere scheint stets auf „Das Wunder von Bern“ zugesteuert zu haben. Insgesamt fünfzehn Jahre hat er an ihm gebastelt. In jedem Fall werden alle über „Das Wunder von Bern“ reden. Die Zeit ist richtig für Fußball, Rudi Völler hat ihn mit seiner Mist-und-Käse-Rede in eine noch breitere Öffentlichkeit gestellt, der Tod der WM-Legenden Helmut Rahn und Lothar Emmerich hat das Interesse für die Vergangenheit geweckt, und der Trailer für den Film kommt gerade bei jenen Zuschauern gut an, die gar nicht mehr miterlebt haben, wie Deutschland 1990 zum dritten Mal Fußball-Weltmeister wurde – geschweige denn zum ersten Mal, im Juli 1954.“

FR: „Die Qualifikationsrunde für die Fußball-EM geht am Wochenende in die entscheidende Runde. Derweil sind in Portugal, wo im kommenden Sommer der kontinentale Titel vergeben wird, die meisten Stadien noch nicht fertig, was der Gastgeber allerdings gelassen hinnimmt.“

Pressestimmen zum Finaleinzug des deutschen Frauen-Teams FR

FR-Portrait Kerstin Garefrekes, deutsche Nationalspielerin

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