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Auslandsfußball

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Auslandsfußball

die Degeneration Manchester Uniteds und Sir Alex Fergusons – Charlton Athletic, „Wunder im Südosten Londons“ (NZZ) – AC Milan, stark und gesund, siegt in Turin u.v.m.

Raphael Honigstein (Tsp 16.3.) teilt die Degeneration Manchester Uniteds und Alex Fergusons mit: „Es gibt im britischen Fußball den schönen Brauch, dass sich die Trainer unmittelbar nach dem Schlusspfiff die Hände schütteln. Manchmal werden dabei zwei freundliche Worte gemurmelt, oder der eine fasst den anderen am Ellbogen und deutet eine Umarmung an. Wenn das Verhältnis der Herren ein wenig gespannt ist, fällt die Zusammenkunft betont kurz und kühl aus. Doch in der überwiegenden Mehrheit aller Seitenlinien-Treffen verzieht keiner die Miene. Der Verlierer bemüht sich, Haltung zu bewahren; Fairplay verbietet dem Gewinner allzu grandiose Gesten. Auch am Sonntag wiederholte sich nach Manchester Uniteds denkwürdiger 1:4-Niederlage beim Stadtrivalen Manchester City zwischen Alex Ferguson und Kevin Keegan das Ritual, doch die Zuschauer wurden dabei Zeugen eines völlig unerhörten, in der Premier League einmaligen Vorgangs: während Keegans rechte Hand beglückt die des Schotten drückte, tätschelte seine linke Sir Alex sanft über die Wange. Bisher hatte in England noch nie ein Kollege den Drang verspürt, dem knorrigen Ritter mit dem roten, teigigen Gesicht Streicheleinheiten zukommen zu lassen, besonders nach einer United-Niederlage gingen Freund und Feind lieber in Deckung. Auch „King Keggy“, der seit seinen Trainer-Tagen beim FC Newcastle einer von Fergusons Lieblingsfeinden ist, hatte in der Stunde des Triumphes keineswegs den Sinn für feine Manieren verloren, sondern augenscheinlich vielmehr Mitgefühl mit seinem Gegenüber empfunden. Sympathy for the red devil? So schlimm ist es für Ferguson schon gekommen. Zwölf Punkte Rückstand hat United jetzt auf den FC Arsenal, der Titel ist verspielt. So mussten sich Uniteds Kicker wegen ihrer stümperhaften Abwehrfehler und des merkwürdig gefügigen Auftretens als „Derby-Esel“ in der „Sun“ verspotten lassen. Nur die Meldung, dass Ferguson seit kurzem einen Herzschrittmacher trägt, verhinderte scharfe Kritik am Trainer. Seltsam resigniert und ein wenig müde wirkte Sir Alex nach der schlimmsten Derby-Niederlage seit 1989 – anstatt wie gewohnt allerlei Verschwörungstheorien zu formulieren, sprach er emotionslos von „unrealistischer Abwehrarbeit“ (…) Die größten Probleme bereitet die Abwehr. Es ist kein Zufall, dass die Krise des Teams mit der Sperre von Rio Ferdinand zusammenfiel. Dass Ferguson es versäumte, im Winter einen Verteidiger einzukaufen, lässt sich schwerer erklären. „Vielleicht war er zu sehr mit den Besitzverhältnissen von Pferdesperma beschäftigt“, vermutet der „Guardian“ angesichts des juristischen Streits um Fergusons Preishengst Rock of Gibraltar.“

Die FR (16.3.) ergänzt: „Es drängt sich der Verdacht auf, dass sich in dieser Saison ein Machtwechsel vollzieht: Arsenal spielt den schönsten und erfolgreichsten Fußball, Chelsea hat das meiste Geld. Ferguson dagegen muss mit dem Standortnachteil und seinem Ruf als dogmatischer Dinosaurier (Sunday Herald) kämpfen: Wer will sich schon im Regen von einem autokratischen Choleriker zusammenfalten lassen, wenn in London die Läden teurer, die Frauen schöner und die Trainer kultivierter sind? Die Tage von Gold Trafford sind vorbei, prognostiziert der Mirror, zu dem amtsmüden Diktator gibt es jedoch noch keine ernsthafte Alternative. Ferguson möchte man bei aller Schadenfreude wünschen, dass er von sich aus rechtzeitig vom Thron steigt.“

Martin Pütter (NZZ 16.3.) beschreibt den Auftrieb Charlton Athletics: „Charlton am Ende der Saison in der Champions League? Das wäre ein besonderer Triumph für den Manager Alan Curbishley, die Spieler und den Klub. Im Januar war die Equipe mit einem 2.Platz 1936/37 sowie dem Gewinn des FA- Cups 1947 als grössten Erfolgen bereits einmal so weit vorne in der Tabelle aufgetaucht. Doch dann lockte Chelsea Scott Parker an die Stamford Bridge. Ohne den neuen englischen Nationalspieler, für den die „Blues“ eine Ablösesumme von zehn Millionen Pfund bezahlten, verlor Charlton die nächsten drei Spiele. Die Mehrheit der englischen Medien erkannte darin das Ende des Höhenfluges. Doch Curbishleys Mannschaft fing sich wieder, gewann gegen die Blackburn Rovers, nahm dem Leader Arsenal im Highbury beinahe einen Punkt ab und liess sich nun gegen Middlesbrough drei Punkte gutschreiben. Eine Champions-League-Qualifikation käme auch aus einem anderen Grund einem kleinen Wunder im Südosten Londons gleich. Vor zwanzig Jahren wären die 1905 gegründeten „Addicks“ fast vollständig von der Bildfläche verschwunden. Der Klub kämpfte mit immensen finanziellen Problemen und vermied die vollständige Auflösung quasi in letzter Minute durch ein Urteil des Londoner High Court, des höchsten Zivilgerichts Englands. Ein Jahr später, 1985, musste Charlton aus dem Stadion „The Valley“ ausziehen. Eine der Tribünen der Arena, die 1919 in einer stillgelegten Kiesgrube mit Hilfe von Fans gebaut worden war, entsprach nicht mehr den Sicherheitsvorschriften. Geld für den Umbau fehlte. Die folgenden Jahre spielte die Equipe im Selhurst Park von Crystal Palace und eine Saison im Upton Park von West Ham United. Eine Rückkehr ins Valley, das zuvor mit einem Klubrekord von 75031 Zuschauern (1938 im FA- Cup gegen Aston Villa) zu den grössten englischen Stadien gehört hatte, scheiterte am Greenwich Council. Die Behörde des Stadtteils verweigerte die Baubewilligungen für die Modernisierung des Stadions. 1990 hatten die Fans die Nase voll. Sie gründeten die „Valley-Partei“ und traten zu den Lokalwahlen an. Zwar schaffte kein Parteimitglied den Einzug in den Council, aber die Fans erreichten immerhin, dass jene Stadträte nicht wiedergewählt wurden, die stets die Erteilung der Baubewilligung verhindert hatten. 1992 zog der Verein ins eigene Stadion zurück.“

Birgit Schönau (SZ 16.3.) gratuliert dem AC Milan zum 3:1 in Turin: „Carlo Ancelotti sagt immer, es sei ein Spiel wie jedes andere. Aber mit dieser Ansicht steht er ziemlich allein da. Damals hatten sie in Turin gesagt, ein Schwein könne nicht die Juve trainieren, und das Schwein war er. 70 Punkte hatte er geholt und war zum zweiten Mal Zweiter geworden. Nur Zweiter. Juventus reichte das nicht, sie baten Marcello Lippi zurück und Ancelotti wechselte zum AC Mailand. Seither hat er die Champions League gewonnen. Gegen Lippis Juve, die wurde Zweiter. Nur Zweiter? „Unser Ziel, sagte Lippi am Sonntag, „ist jetzt der zweite Platz. Soeben hatte Ancelottis Milan die Gastgeber im Turiner Alpenstadion 3:1 besiegt und sie vorgeführt. Nicht einmal eine Halbzeit lang hielt die Juve dem intelligenten Ansturm des Tabellenführers stand, um nach der Pause unaufhaltsam zu zerbröseln. „Wir müssen nicht spektakulär spielen, nur klug, hatte Trainer Carlo Ancelotti seine Mannschaft angewiesen, die sich lange daran hielt. Abwarten, den richtigen Moment abpassen, kontern. Nach dem 1:0 durch einen wunderbar präzisen Kopfball durch Schewtschenko aber ließ sich Milan doch noch zum Spektakel hinreißen. Selbstbewusst zelebrierten sie jetzt ihren Spinnennetz-Fußball mit dem coolen Andrea Pirlo im Zentrum und den pfeilschnellen Brasilianern Cafù und Kakà, die die Fäden weit nach vorne zogen. So entzauberte Milan die schwerfällig erscheinende Alte Dame am Ende mühelos, und den Löwenanteil daran hatte der in Italien lange verkannte Holländer Clarence Seedorf.“

Peter Hartmann (NZZ 16.3.) erklärt den Mailänder Erfolg: „Milan wirkt unwiderstehlich gesund, jetzt, bei Frühlingsbeginn, wenn die Entscheidungen fallen und alle Ausreden und Entschuldigungen hinfällig werden. In der Königsliga blieb von den Italo-Klubs nur Milan übrig. Eine Erklärung der Leistungsbeständigkeit dieser Erfolgsmaschine ist die Einrichtung, die sich MilanLab nennt: eine Klinik, angegliedert an das Trainingszentrum Milanello, die nicht nur, wie bei andern Klubs, die akuten Fälle medizinisch behandelt, sondern zusätzlich über eine labortechnische Abteilung verfügt. Eine Datenbank gewährleistet eine genaue Form- und Gesundheitskontrolle der Spieler. Der Leiter des MilanLab, der belgische Arzt Jean-Pierre Meersseman, und der Verantwortliche für die physische Vorbereitung, Daniele Tognaccini, entwickeln aus den Computerdaten individuell abgestimmte Trainingspläne und liefern Trainer Ancelotti einen Raster für seine Personalentscheidungen. Wer übermüdet und verletzungsgefährdet ist, muss pausieren. „Wir haben mit dieser Methode vor allem mit älteren Spielern hervorragende Erfahrungen gemacht“, sagt Tognaccini: mit Costacurta, mit dem ewigen Jüngling Maldini, auch schon 36-jährig, der gerade wieder endgültig ein Comeback in der Nationalmannschaft ausgeschlossen hat, mit Redondo (34), dem fast schon vergessenen früheren Real-Regisseur, der nach schweren Unfällen und zwei Therapiejahren wieder auf die Beine kam, mit Inzaghi (30), der nach einer Serie von Verletzungen als „Strafraumschlange“ („Corriere della Sera“) zurückgekehrt ist. Die Spieler akzeptieren die Rotation klaglos, weil sie spüren, dass nichts sie so erfolgreich macht wie der Erfolg. Im Unterschied zur AS Roma: In Reggio di Calabria blieb der Meuterer Panucci vor laufender TV-Kamera einfach auf der Bank sitzen, als ihn Trainer Capello zum Aufwärmen aufforderte. Nach dem 0:0 liegen die Nerven bei der Roma blank, nächsten Sonntag erwartet sie das Derby gegen Lazio. In Italien wird das Thema Sportmedizin von Skandalen eingenebelt. Vermeintliche Gurus wie der Biochemiker Francesco Conconi und sein früherer Schüler Michele („Dottor Epo“) Ferrari wurden als Dopingmanipulatoren enttarnt. Juventus versucht einen lästigen Dopingprozess über die Verjährungsschwelle zu schleppen. Jahrelang verschwanden im IOK-akkreditierten Labor von Acquacetosa Urinproben von Fussballern ungeöffnet auf dem Müll. Vielleicht weist das Beispiel des MilanLab den Ausweg aus dem Dopingsumpf. Die Investition in die Wissenschaft hat sich mehr gelohnt als die übliche Geldverschwendung auf dem Transfermarkt.“

Fußball in Europas Ligen vom Wochenende: Ergebnisse – Torschützen – Tabellen NZZ

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