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Die Auswahl von Rudi Völler

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Die Auswahl von Rudi Völler

Michael Horeni (FAZ 12.6.) zum Spiel D-K (2:0). „Die Auswahl von Rudi Völler hat dagegen wenige Stunden nach dem französischen Abschied ein klassisches Meisterstück deutscher Willens- und Kampfkraft abgeliefert. Der Lohn für zehn nimmermüde Kämpferlein nach einem Platzverweis für Abwehrchef Ramelow in der ersten Halbzeit ließ am Ende einen Schlussstand in der Gruppe E aufleuchten, der imponierend auf die Konkurrenten wirken dürfte, die danach kommen können: zwei Siege, sieben Punkte, elf Treffer (…) Die individuelle Klasse der deutschen Kämpfertypen reichte zwar gegen Saudi-Arabien zu einem famosen Erfolg, aber sowohl gegen Iren als auch Kameruner waren spielerische Grenzen deutlich spürbar. Imponierend ist jedoch, wie beherzt die Mannschaft an die Herausforderung WM trotz aller Rückschläge herangeht. Der späte Ausgleich gegen Irland zeigte seine Wirkung, Kamerun dominierte bis zum Platzverweis von Ramelow. Aber an Aufgabe denkt diese Auswahl nicht – als spürte sie, was mit der Kraft, die aus der Vergangenheit kommt, zu erreichen ist.“

Philipp Selldorf (SZ 12.6.) zum selben Thema. „Zur Pause der Begegnung mit Kamerun war die Lage für Deutschlands Nationalmannschaft nicht schlecht. Sie war katastrophal. Ein zunehmend zerfallendes Ensemble voller Angst und Unsicherheit erwartete – nach Ramelows Hinausstellung – in Unterzahl einen Gegner auf dem Vormarsch. Mancher Reporter formulierte schon seine Abschiedsgrüße an Team und Trainertandem (…) Es war übrigens ein hitziges, aber keineswegs unfaires Spiel, das mit Shakehands und Trikottausch endete.“

Peter Heß (FAZ 12.6.) feiert die Renaissance deutscher Tugenden. „Der gute alte deutsche Fußball lebt! Das 2:0 über Kamerun, mit dem die Mannschaft von Teamchef Rudi Völler am Dienstag Abend den Einzug in das Achtelfinale der Weltmeisterschaft vollzogen hat, kann den Vergleich aufnehmen mit den meisten der großen Taten der Vergangenheit. Wie 1982 und 1986, als der Weg jeweils ins WM-Finale führte, sträubte sich eine Gemeinschaft von Fußballkämpfern dagegen, ihre Defizite zur Kenntnis zu nehmen, und entschied sich statt dessen dafür, ihre kleine Chance auf Erfolg beherzt zu suchen und zu nutzen (…) Alle für einen, einer für alle – wie die Musketiere standen die Spieler für den Erfolg ein. Aber längst sind nicht alle gleich. So langsam muss man sich an den Gedanken gewöhnen, dass nicht nur Torwart Oliver Kahn aus der Mannschaft herausragt. Die Art und Weise, wie Miroslav Klose das 1:0 vorbereitete und das 2:0 erzielte, sollte die letzten Zweifler – und zu denen zählt der seit vergangenen Sonntag 24 Jahre alte Kaiserslauterer sich selbst – bekehren: Die deutsche Nationalelf darf auf ihrem weiteren Weg auf die Unterstützung eines Weltklassestürmers setzen.“

Ludger Schulze (SZ 12.6.) über Teamchef Rudi Völler. „Für Rudi Völler ist dieser kleine Erfolg ein großer Schritt in seiner persönlichen Karriere als Teamchef. Sie wäre nämlich bei einem Misserfolg aller Voraussicht nach zum Stillstand gekommen. Mit dem Sieg von Shizuoka gegen Kamerun hat sich Rudi Völler die Arbeitserlaubnis für die nächsten vier Jahre abgeholt – und den Beweis erbracht, dass er auch in kritischen Situationen als Trainer bestehen kann.“

Martin Hägele (NZZ 12.6.) über dessen Taktik. „Völler muss sich schon den Vorwurf gefallen lassen, für seine Dickköpfigkeit im Falle Jancker ums Haar bestraft worden zu sein. Es kann wohl kaum der Sinn eines WM-Turniers sein, der ganzen Welt beweisen zu wollen, dass sich der zweite Ersatzstürmer des FC Bayern durch ständiges Üben im Nationaldress jenes Selbstbewusstsein und vor allem die Form aneignen kann, die auf diesem Level eigentlich Grundvoraussetzung sein sollten. Des Weiteren war es unverständlich, weshalb sich Ramelow so leichtfertig eine gelbe Karte einhandelte, nachdem sich schon in den ersten Minuten abgezeichnet hatte, dass Señor Nieto Lopez die Absicht hatte, eine Bestmarke mit gelben und roten Karten aufzustellen. Mit 16 Verwarnungen ist ihm das gelungen: Wahrscheinlich sieht der Facharbeiter mit den Hobbys Korbball, Musik und Lesen schon bald seine Gattin in Malaga wieder. Warum sich dieser in der Champions League erfahrene Unparteiische so schnell von Hektik und schwachem Niveau anstecken ließ, blieb ein Rätsel (…) Von Winfried Schäfer waren hinterher nur Konjunktive zu hören und vor allem viele Wenn. Auch an seinen früheren Arbeitsstätten, ob in Karlsruhe, Stuttgart oder bei Tennis Berlin, war der Fußballlehrer mit der Altrocker-Frisur genial im Erfinden von Ausreden.“

Jan Christian Müller (FR 12.6.) sieht das ähnlich. „Mitunter ist es ja so, dass Menschen zu ihrem Glück gezwungen werden müssen. Zum Beispiel im Fall Rudi Völler. In einer schwer nachvollziehbaren Nibelungentreue hatte der Teamchef der DFB-Auswahl auch gegen Kamerun an Mittelstürmer Carsten Jancker festgehalten. Kaum jemand unter den anwesenden Sportjournalisten konnte das verstehen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn Carsten Ramelow nicht kurz vor der Halbzeit die gelb-rote Karte gesehen hätte? Womöglich hätte die DFB-Elf taktisch so weiter gewurstelt wie vor dem Wechsel. So aber taten Völler und Bundestrainer Michael Skibbe das einzig Richtige: Sie nahmen Jancker vom Feld, den sie durch Marco Bode ersetzten, und lösten die Dreier-Abwehrkette auf, die ja in Wirklichkeit ein altmodischer Fünferverbund in der Defensive war. Und plötzlich, aber bestimmt nicht zufällig, kamen die Mittelfeldspieler viel besser in die Zweikämpfe.“

Frank Ketterer (taz 12.6.). „Es sah nicht gut aus für die fußballernden Burschen von Rudi Völler im letzten und entscheidenden Spiel der Gruppe E. Mehr noch: Es sah nach Heimreise aus, es roch nach dem Aus, dem schändlichen Aus bei dieser WM schon nach der Vorrunde, genau eine Halbzeit und fünf weitere Minuten lang. So lange hatte Kamerun nach einer zehnminütigen Eingewöhnungszeit das Spiel bestimmt und auch den Gegner, hatte die deutsche Abwehr schwindelig gespielt und sich ein paar Chancen erarbeitet.“

Alexander Steudel (Die Welt 12.6.). „45 Minuten lang bot die deutsche Nationalmannschaft gestern ein Bild des Schreckens. Die Abwehr stand sich permanent selbst im Weg, das Mittelfeld hatte seinen freien Tag, und im Sturm lief nichts. Man fühlte sich erinnert an das dritte Vorrundenspiel der vergangenen Europameisterschaft, als die Portugiesen mit einer B-Auswahl 3:0 gewannen und das DFB-Team heimschickten.“

Ronald Reng (SZ/FR 12.6.). „Es wäre Unsinn zu behaupten, Keane fehle der Mannschaft nicht; selbst gegen die geradezu zweikampfängstlichen Saudi-Arabier konnten die zentralen Mittelfeldspieler Matt Holland und Mark Kinsella die Dynamik, die Keane dort versprüht hat, nur zart andeuten. Doch es geht, irgendwie, auch so. Saudi-Arabien war die eigentlich leichteste Aufgabe der Vorrunde, aber bei Irland sieht jede Partie wie eine harte Prüfung aus.“

Peter B. Birrer (NZZ 12.6.). „Die große Kunst mit dem runden Ball ist in diesen Sphären nicht gefragt, sie würde auch nicht den Namen dieser Spieler, ihrer Reputation und ihrer Herkunft entsprechen. Die meisten arbeiten in Vereinen, die nicht zu den ersten Adressen der Premier League gehören, zum Teil sind sie dort, wie etwa Robbie Keane in Leeds, derzeit nicht einmal erste Wahl. Es werden kleinere Brötchen gebacken, und deswegen ist der Sprung unter die letzten sechzehn des Turniers auch als großer Erfolg zu werten.“

Der Guardian (London) titelt: „Die Deutschen spielen ihre Karten richtig.“ Paul McInnes berichtet in seinem Artikel – für englische Verhältnisse weiterhin überraschend wohlgesonnen: „Rudi Völlers Deutsche kamen mit einer Leistung in die zweite Runde, die alle Tugenden des deutschen Fußballs aufzeigte, von der Kunst, mit allen erlaubten Tricks zu gewinnen sowie Robustheit. Aber trotz ihrer besten Leistung und dem fünften Tor von Miroslav Klose, stahl ihnen der Schiedsrichter Lopez Nieto die Show, nachdem dieser einen neuen WM-Rekord von 16 gelben Karten in 90 Minuten aufstellte. Lopez hatte schlicht vergessen, dass Fußball ein Spiel mit Körperkontakt ist.“

Die kroatische Zeitung Vecernji List urteilt. „Die Deutschen waren nur ein Schatten der Mannschaft, die gegen Saudi Arabien acht Treffer erzielte. Immerhin war es die deutsche Tugend Hartnäckigkeit, die der Elf einen weiteren Sieg einbrachte. In einem äußerst spannenden Match reihten die Kameruner die Chancen aneinander, der Schiedsrichter Nieto hingegen Verwarnungen. Die Deutschen müssen sicherlich mehr zeigen, wenn sie auf diesem Turnier eine glänzendere Spur hinterlassen wollen.“

Die Irish Times kommentiert den deutschen Sieg ähnlich unspektakulär, wie es das Spiel selbst war: „Ein sauberer Abschluss von Marco Bode und ein unausweichlicher Kopfball von Miroslav Klose ermöglichten Deutschland ein 2:0 über Kamerun, das den dreimaligen Weltmeister in die zweite Runde des World Cup bringt.“ Da das Match auf einem solch hitzigen Niveau stattfand, hatte sicherlich nichts mit den schlechten Platzverhältnissen zu tun.“Aber Deutschland hatte auch sehr gute Momente. Klose zeigte sich als Vorbereiter, als er einen punktgenauen Pass auf Bode spielte, der seit der Halbzeit für den schlechten Carsten Jancker spielte und dieser den Ball flach an Torwart Boukar Alioum ins lange Eck schob.“

Guerric Poncet (Le Monde) über die Schiedsrichterleistung. „Der Schiedsrichter Lopez Nieto hat eine sehr gute Leistung gezeigt. Es ist ihm gelungen, seine Autorität unter äußerst schweren Umständen zu wahren.“

Zur Leistung des Schiedsrichters des bis dato kartenreichsten WM-Spiel urteilt die senegalesische Tageszeitung Le soleil. „Der Schiedsrichter, der schneller verwarnt als sein Schatten.“

Das Ausscheiden Frankreichs bewegt die Gemüter der Italiener ungleich mehr als der Sieg Deutschlands über Kamerun, der angesichts der alles andere als klammheimlichen Freude über den Misserfolg der „Coq de France“ weit auf die hinteren Sportseiten der Tageszeitungen rückt. „Mit den Torbrüdern Ballack und Klose fliegt Deutschland ins Achtelfinale“ heißt es im Corriere della Sera und: „Klose und Ballack spielen zwar nicht im selben Verein, sie haben aber eine Eigenschaft, die sie miteinander verbindet und vom Rest der Mannschaft unterscheidet: Sie verfügen über Fußballbewusstsein und Intelligenz, die sie in den Dienst des Kollektivs stellen.“ Unter der Überschrift „Deutschland unerbittlich – vorwärts mit Bode und Klose“ heißt es in La Repubblica: „Es ist immer eine Frage des Kopfes. Entweder man hat einen oder man hat keinen. Miroslav Klose zum Beispiel hat einen, und er hat mit ihm fünf der Tore geschossen, die aus ihm den Torschützenkönig der WM machen. (…) Kamerun dagegen hat schnelle Beine, kräftige Körper und bewegliche Füße, aber keinen Kopf.“ Ein paar Absätze später präzisiert der Korrespondent: „Um die Wahrheit zu sagen, Klose benutzt den Kopf nicht nur als Hammer: der Beweis dafür sind zwei erstklassige Torvorlagen für Ballack und Bode.“ Ansonsten spiele Deutschland wieder sehr deutsch: „solide, tetragonal, weise. Nicht brillant.“

„Vor diesen Kamerunern muss sich die deutsche Fußball-Nationalelf nicht fürchten“, schreibt Peter Heß (FAZ 7.6.) nach dem deren dürftigem 1:0-Sieg gegen Saudi-Arabien. „In einem Boxkampf hätten sich die beiden Mannschaften nie gegenübergestanden – unterschiedliche Gewichtsklassen. Ihre überlegene Physis verführte die Kameruner zu Einzelaktionen und zu Lässigkeiten. Die Stürmer waren oft zu träge, sich aus dem Abseits zu bewegen, die Verteidiger rückten im Schleichtempo aus dem eigenen Strafraum, wenn der Ball abgewehrt war. Trainer Schäfer lebte dagegen am Spielfeldrand Einsatzbereitschaft vor. Sein Kopf glühte vor Anstrengung und Anteilnahme.“

Ob kamerunischer Stärken ist auch Martin Hägele (SZ 7.6.) äußerst skeptisch. „Interessant wird sein, was die Begegnung für Schäfer bringt, den Mann, der sich auf dem Umweg über den schwarzen Kontinent in seiner Heimat wieder ins Gespräch gebracht hat. Möglicherweise verliert er am Dienstag seinen Zauber. Denn von Ordnung und einer klaren Struktur, wie sie für gehobene internationale Ansprüche unabdingbar ist, ließ sich im Spiel von Afrikas Champions gegen Saudi-Arabien wenig erkennen.“

Über die gelungene Rehabilitation der Saudis urteilt Peter B. Birrer (NZZ 7.6.). „Diese Entzauberung, dieses auf seine Weise denkwürdige 0:8 gegen Deutschland im Sapporo- Dom muss eine Majestätsbeleidigung sondergleichen gewesen sein. Die Fußballer des 18-Millionen-Wüstenstaats Saudi-Arabien entschuldigten sich auch Tage danach noch nach allen Regeln der Kunst, vor den Offiziellen, vor den Anhängern, vor dem ganzen Staat und nicht zuletzt vor Allah. Gut zu wissen, dass das Trauma der unzähligen Gegentore im zweiten Spiel gegen Kamerun nicht seinen Fortgang nahm. Der Match endete zwar 0:1, aber jeder, jede und selbst der Fußball-Allmächtige haben gesehen, dass die Saudi im Spiel mit dem Ball auf der Weltbühne nicht so schlecht sind, wie dies gemeinhin kommentiert und belächelt worden ist. Die Abwehr ähnelte keinem Haufen wirrer Hühner mehr, der Gegner aus Kamerun hatte nur einen Torschuss – und dass die Spieler kein Tor erzielten, war nur dem fehlenden Glück zuzuschreiben.“

Frank Ketterer (taz 6.6.) über die veränderte Spielweise der deutschen Elf beim 1:1 gegen Irland. „Wo sie gegen die Saudis noch torhungrig nachgesetzt und den Gegner einfach an die Wand gespielt hatte, versuchte sie sich nun in Pragmatismus. Zur gepflegten Ergebniskontrolle aber, das machte dieser Mittwochabend deutlich, fehlt dieser Mannschaft die spielerische Souveränität. Und so schalteten die Deutschen nicht nur einen Gang zurück, sondern drosselten den Motor ihres Spiels so sehr, dass er zu stottern anfing und gegen Ende tatsächlich noch abwürgte (…) Die deutsche Defensive um Abwehrchef Carsten Ramelow, das war die vielleicht ernüchterndste Erkenntnis dieses Abends in Kashima, ist, das hatte man schon vermutet, alles andere als eine Festung; vor allem Thomas Linke auf der rechten Abwehrseite entwickelte sich immer mehr zum Krisenherd. Da es sich bei der irischen Offensivabteilung kaum um wirkliche Klassestürmer im eigentlichen Sinne handelte, dürfte Völler durchaus den ein oder anderen Kopfschmerz davongetragen haben.“

Martin Hägele (NZZ 6.6.) zum selben Thema. „Ein Punkt muss halt noch her, aber auch diese Rechenübungen kennt man aus der jüngeren Vergangenheit dieser deutschen Nationalelf. Hat sie nicht gerade unter solchen Vorzeichen versagt, wenn es darum ging, nur ein einziges Törchen vorzulegen oder den einen wichtigen Punkt festzuhalten, wie das in den Qualifikationsspielen mit Finnland und England der Fall gewesen war? Die Frage nach dem Charakter der Mannschaft und auch nach deren Klasse wird nun wieder einmal gestellt. Viele Kritiker fühlen sich jedenfalls bestätigt, dass das Schützenfest beim 8:0 gegen Saudi-Arabien nicht mehr als ein Muster ohne Wert war. Sobald sich die Deutschen in der Favoritenrolle befinden und ein Spiel selbst bestimmen müssen, geraten sie schnell auf gefährliches Terrain (…) Das deutsche Drama ist noch nicht perfekt. Allerdings können die Deutschen jetzt ihre Nachbarn und Fußballfreunde aus Holland besser verstehen, die wegen ebendieser Iren den sportlichen Notstand ausrufen mussten.“

Über die neue WM-Realität schreibt Jan Christian Müller (FR 6.6.). „Auf dem Platz zeigte sich dann aber ganz schnell, dass der „Irländer“ (O-Ton Rudi Völler) sich weniger genügsam verhält als der Saudi. Allein in den ersten fünf Minuten verloren die Deutschen mehr Zweikämpfe als im ersten Spiel während der gesamten ersten Halbzeit. Es schien, als sei die DFB-Elf überrascht, wie offensiv die unerschrockenen Iren sich ihr entgegenstellten. Völler hatte jedenfalls einen destruktiveren Gegner erwartet.“

Ludger Schulze (SZ 6.6.) entdeckt psychologische Vorteile. „Raketenartig war das anfangs eher unterschätzte DFB-Team von einigen Experten, Medien und Fans wieder zurück in den Orbit der Favoriten geschossen worden – zum Missfallen Völlers. Das hat sich glücklicherweise erledigt. Denn die Bürde des Favoriten wiegt wie ein Rucksack auf dem Buckel. Jedenfalls zu schwer für eine bei allen guten Ansätzen doch limitierte Mannschaft.“

Philipp Selldorf (SZ 6.6.) lässt seiner Spielanalyse einen Ratschlag folgen. „stand die Partie unter dem Bann der frühen Führung. Sie hatte keine Längen, aber bei mäßigem Tempo wenige Höhepunkte. Den Deutschen stand nicht mehr der Sinn nach Spaßfußball wie zuletztgegen die Spielkameraden aus Österreich oder vom arabischen Golf. Sie ließen die Iren kommen, zogen sich oft tief in ihre Hälfte zurück. Auf Konter zu spekulieren, lag vielleicht in der Logik der ersten Möglichkeit – mutig war es nicht. Und es war riskant (…) Die Deutschen sollten nun alles tun, nur eines nicht: ein ungnädiges Schicksal beklagen, das ihnen in der zweiten Minute der Nachspielzeit den Ausgleich durch den jungen Angreifer Keane bescherte. Den Sieg hatten sie selbst in der Hand, doch sie ließen sich im Vertrauen auf ihren überragenden Torwart Kahn so weit nach hinten treiben, dass sie der Willkür des Spiels ausgeliefert blieben.“

Mit der Frage nach den Folgen der bisherigen Ereignisse beschäftigt sich auch Michael Horeni (FAZ 6.6.). „Abgesehen von der sportlichen Dramatik befindet sich die deutsche Elf in einer Lage, die vor fünf Tagen noch als normal empfunden worden wäre. Ein Sieg gegen die Araber, ein Unentschieden gegen die Iren – diese Ergebnisse spiegeln ziemlich exakt die Leistungsstärke der deutschen Auswahl der vergangenen Monaten wieder. Doch durch die beiden unerwarteten Ereignisse – acht Tore gegen Saudi-Arabien, der Rückschlag gegen Irland – spielt auf einmal die Psychologie eine tragende Rolle. Ob sich die Leverkusener Krankheit, große Ziele kurz vor Schluss nach imponierenden Leistungen doch noch zu verspielen, auf die Nationalelf überträgt, lautet nun die entscheidende Frage vor dem Duell gegen die angeblich unbezähmbaren Löwen von Winfried Schäfer.“

Andreas Lorenz (Die Welt 6.6.) rät ebenfalls zu Gelassenheit. „Dabei ist doch nach wie vor alles so, wie es war. Die Nationalelf schießt kleine Gegner ab. Die deutsche Abwehr ist in jeder Sekunde des Spiels für ein Gegentor gut. Deutschland hat gute Feldspieler, aber keinen wirklich überragenden Antreiber. Oliver Kahn pariert regelmäßig Unmögliche, kann aber unmöglich alles parieren.“

Die „Entdeckung Amerikas“ (Corriere della Sera) verdrängt Deutschland aus den Schlagzeilen der italienische Tageszeitungen. Auch La Repubblica eröffnet ihren Sportteil mit den „Bush-Boys“ und setzt die Kommentare zum Spiel Deutschland gegen Irland auf S. 7 des Sportteils. Irland habe „mit Herz und Hartnäckigkeit“ gespielt, titelt sie, während Deutschland sich auf seinen acht Toren gegen Saudi Arabien ausgeruht habe. „Deutschland war von der italienischen Krankheit befallen, ohne allerdings italienische Medikamente zur Verfügung zu haben: Es wurde auf den Vorsprung und die Qualifikation spekuliert. Deutschland hat elegantes Angriffsspiel versprochen und faule Beine und Köpfe geliefert.“ Ähnlich der Tenor im Corriere della Sera. Unter der Überschrift „Eine Minute vor Spielende beginnt Deutschland zu pausieren“ heißt es: „Die irische Mannschaft spielt mit einer Leidenschaft, die umgekehrt proportional ist zu ihren eigentlichen offensiven Fähigkeiten. Die Deutschen, deren lahme Abwehr die Rückkehr Rehmers dringend nötig hätte, praktizieren außer Ballack ihren üblichen zusammenhanglosen, kraftstrotzenden Fußball von geringer Qualität und mit monotoner Steuerung.“

„Der irische Gegner, sehr ernsthaft agierend“, schreibt die französische Zeitung Libération (6.6.), „hat im deutschen Team einen gewissen Mangel an Realismus und Inspiration offen gelegt. Als problematisch entpuppt sich das Fehlen eines Leaders im Spiel der Deutschen insofern, als dass es einer Mannschaft sehr selten gelungen ist ohne Leitfigur, weit in die Finalspiele vorzudringen.Die Iren haben ihr hervorragendes Auftreten in der WM-Qualifikation bestätigt bei der sie die Niederlande scheitern ließen, um in einem Ausscheidungsspiel den Iran zu eliminieren. Die Iren entwickelten gegen Deutschland eine teambezogene, technikbetonte Spielweise und schienen den Rauswurf ihres charismatischen Teamleaders Roy Keane überwunden zu haben, der seinen Coach Mick McCarthy als „english cunt“ [neben der Beleidigung des irischen Nationalen als Engländer, bezeichnet letzteres in der angelsächsischen Vulgärsprache das weibliche Geschlechtsorgan] tituliert hatte. Gleichwohl wird der nächste Gegner Irlands – Saudi-Arabien – nicht ebenso schwach sein wie gegen Deutschland. Die Qualitäten, die die Saudis in ihren WM-Vorbereitungsspielen gezeigt haben, können sich gegen die deutschen Eisenschädel nicht auf einmal völlig verflüchtigt haben. “

Die französische Tageszeitung Le Monde (6.6.) zum Deutschland-Spiel. „Das mutige Irland hält Deutschland in Schach. Nach dem überwältigenden Sieg gegen das äußerst schwache Saudi-Arabien, musste sich Deutschland nun mit einem wirklichen Konkurrenten messen, der ein starkes Remis gegen Kamerun erreicht hatte. Der junge deutsche Angreifer Miroslav Klose machte, nach seinem Versuch einen Elfmeter zu schinden, diesmal mit einem schönen Kopfball den entscheidenden Schritt nach einer millimetergenauen Flanke von Michael Ballack. Die Deutschen überließen von nun an den Iren die Initiative, die gegen die Defensive der „Mannschaft“ immer wieder auf Granit beißen. In der letzten Viertelstunde, sammelten die Iren ihre letzten Kräfte, um ein Unentschieden zu erreichen, das ihnen alle Möglichkeiten für den Achtelfinaleinzug gewahrt hätte. Aber die deutsche Abwehr schien unnachgiebig zu sein. Letztlich profitierte Robbie Keane vom ersten Fehler der Defensive, um Oliver Kahn in der verbliebenen Minute der Nachspielzeit zu überwinden. Die Deutschen, die während des Spiels zu defensiv agierten, hielten bis zuletzt ihre Fahrkarte für das Achtelfinale in Händen. Sie müssen nun ein schweres Spiel gegen Kamerun bestreiten, um dieses Ziel zu realisieren.“

Die englische Boulevardzeitung Sun (6.6.) wollte in ihrem Artikel mit Häme nicht zurückstecken: „Die Deutschen hatten Spieler des ehemaligen Europa-Cup-Siegers Bayern München, des amtierenden Deutschen Meisters Borussia Dortmund und des Europacup-Finalisten Bayer Leverkusen in ihren Reihen. Und nun betrachte man sich einige der irischen Spieler. Verteidiger Gary Breen hat gar keinen Verein, Gary Kelly und Robbie Keane dürfen sich nicht Stammspieler nennen, und Kevin Kilbane wird von seinen eigenen Fans in Sunderland ausgebuht. Die Iren hielten gegen die Deutschen nicht nur dagegen, sie waren sogar besser.“

Ronald Reng (FR 6.6.) über den Gegner. „Wenn sich viele, etwa die deutschen Spieler, irritiert fragen, was um Himmelswillen diese irische Elf so Spezielles hat, finden sie eine einfache Antwort: Nicht viel hat diese Elf. Aber sie macht alles aus diesem Wenigen. Sie sind Steher. Spieler, die sich weigern, aufzugeben. Das Tor in letzter Minute war glücklich, und wenn das Spiel verloren gegangen wäre, hätte man auch ganz andere Sachen über Spieler wie den ziemlich überforderten Linksverteidiger Ian Harte oder den ideenlosen Mittelfeldmotor Mark Kinsella sagen können. Aber das Tor in letzter Minute war auch verdient; es entsprang nicht dem Glück der Tüchtigen. Es war das Glück der Berserker.“

Der Guardian (6.6.) rechnet wieder mit den Iren. „Die Iren schienen schon geschlagen, als die Deutschen, wenigstens in den Köpfen, sich schon in der zweiten Runde wähnten. Nun kann ganz Irland, mit großer Erleichterung und wachsender Anteilnahme wieder nach vorne blicken.

Ronald Reng (FR 6.6.) über das Image eines Fußballstars. „Beckham verweigert sich den Normen der Macho-Welt Profifußball, trinkt nicht, geht nicht in die Disco und findet es „großartig, dass ich eine Schwulen-Ikone bin, weil es schön ist, geliebt zu werden, egal ob von Männern oder Frauen“. Zu solchen Aussagen braucht es Courage. Er hat genug Selbstironie, den Spott zu ertragen. Neulich wurden in einer Fernsehsendung Beckham-Witze erzählt, die auf seine vermeintliche Dummheit zielten. Es war Beckham, der sie erzählte.“

Peter Heß (FAZ 3.6.) über den Aussagewert eines Ergebnisses aus „der Urzeit des Fußballs“. „Spätestens seit Kamerun 1990 Weltmeister Argentinien im Eröffnungsspiel der WM in Italien 1:0 besiegte, gilt das Motto: Es gibt keine Schwächlinge mehr im Weltfußball. Seitdem bestätigen afrikanische und asiatische Mannschaften regelmäßig diese These. Früchte der Globalisierung, die auch vor dem Fußball nicht halt macht. Europäische und südamerikanische Trainer haben so gute Entwicklungsarbeit geleistet, dass die Besten aus den exotischen Ländern längst in die besten Ligen importiert werden. Spieler aus Saudi-Arabien haben zwar noch nicht den Weg nach Europa gefunden, dennoch zählt ihre Nationalmannschaft nicht zur belächelten Landkundschaft. Seit 1988 erreichten die Saudis stets das Finale der Asienmeisterschaft gegen Konkurrenz wie Iran, Japan und Korea.“

Philipp Selldorf (SZ 3.6.) sieht sich nicht dazu in der Lage, die Aussagekraft des deutschen Siegs einzuschätzen. „Von den Trainern hören wir ständig, es gäbe in der zivilisierten Fußballwelt keine leichten Gegner mehr – Monsieur Lemerre wird’s bestätigen –, aber die Nationalspieler des DFB machen sich mittlerweile einen Spaß daraus, das Gegenteil zu demonstrieren. Und während man sich früher immer darüber ärgerte, wie sich die Deutschen gegen zweitklassige Widersacher mit Freistoßtreffern in der 89. Minute zum knappen Sieg quälten, so wird es einem heute fast peinlich zu sehen, wie sie hemmungslos Gegner deklassieren, die sie längst bezwungen haben. Ein 8:0 zum Einstand der WM, das ist zu schön, um wahr zu sein. Oder auch: Dieses monströse Resultat ist so irreal, dass man versucht ist, dessen Ernsthaftigkeit in Frage zu stellen.“

Die entscheidenden deutschen Stilmittel referiert Ludger Schulze (SZ 3.6.). „Wie Verteidiger Thomas Linke nach wenigen Sekunden mit einem Tackling das Signal zum Aufbruch gab; wie der zuletzt geschmähte Carsten Jancker als Abrissbirne die saudische Abwehr rammte, bis sie nach 20 Minuten in einem Meer von Staub versank; wie Dietmar Hamann (Völler: „Was die Zahl der Ballkontakte betrifft, hat er wahrscheinlich alle Rekorde gebrochen“) als zentraler Spieler vor der Abwehr den Gegnern die Bälle mit größter Beiläufigkeit wegnahm und sie im selben Augenblick in kreative Aufbauaktionen umsetzte; wie Michael Ballack und Bernd Schneider die Kugel mit einer Noblesse vorlegten wie der Oberkellner im Grandhotel die Seezunge; und wie sich Miroslav Klose läuferisch, technisch und von seiner Sprungkraft her an die stärksten internationalen Stürmer heranpirscht.“

Uwe Marx (FAS 2.6.) sieht in dem gestrigen Auftritt der Deutschen Anlass zu Hoffnung. „Zwei gute Nachrichten vorneweg. Die erste: Deutschland kann Fußball spielen. Die zweite: Saudi-Arabien auch. Das sah (…) zwar nicht so aus, dürfte aber als gesichert gelten (…) Den kleingewachsenen Saudis, speziell jenen, die gegen den deutschen Hünen Jancker verteidigen mussten, mochte man zwischen durch zurufen: Der beißt nicht! Die körperliche Überlegenheit der deutschen Mannschaft war gewaltig; ansonsten wären fünf Kopfballtore nicht möglich gewesen. Und doch garantiert sie allein nichts – wie mancher gestrauchelte Fußball-Goliath weiß (Deutschland zum Beispiel). Eine WM-Partie so aussehen zu lassen, als ob Erwachsene gegen A-Jugendliche spielten, ist keine Selbstverständlichkeit.“

Die NZZ (2.6.) über das Remis zwischen Kamerun und Irland. „5675 Kilometer Luftlinie trennen die irische Hauptstadt Dublin von der Kapitale Kameruns Yaoundé – noch mehr Distanz liegt allerdings zwischen den Fußballkulturen, welche die beiden nationalen Auswahlen repräsentieren: Wenngleich sich die die Grenzen zunehmend verwischen, die zu Stereotypen stilisierte Ausrichtung der Spielsysteme blieb gleichwohl jederzeit erkennbar. Hier der technisch versierte, leichtfüßige Gewinner des diesjährigen Afrika-Cups, dort der hemdsärmlige, von Leidenschaft getriebene Kraftakt der Iren.“

Die Irish Times (1.6.) wertet das Unentschieden gegen Kamerun als Erfolg: „Irlands Weltmeisterschaftsfeldzug begann heute beherzt, als sie nach einem Rückstand noch ein 1:1-Unentschieden gegen Kamerun erreichten. Die Männer von Mick McCarthy erfuhren in der Kabine anscheinend eine Metamorphose. Als sie zur zweiten Halbzeit mit Steve Finnan anstatt mit Jason McAteer aufliefen, erhöhten sie das Tempo und drücken vermehrt nach vorne. Als der japanische Unparteiische abpfiff, war es der amtierende Afrikameister und Olympiasieger, der erleichterter dreinschaute.“

Das 1:1-Remis gegen Kamerun hatte für die Iren eine ganz besondere Bedeutung. Ronald Reng (FR 3.6.) dazu. „Dass acht Tage vor WM-Beginn Irlands einziger Weltklassespieler Roy Keane nach seinen Ausfällen gegen Trainer Mick McCarthy nach Hause geschickt wurde, schien das selbstbereitete Ende einer hoffnungsvollen Mannschaft, noch bevor das WM-Turnier begann. Seit Samstag aber gibt es ein Leben nach Roy Keane. Das 1:1 gegen das hoch geschätzte Kamerun in Irlands Auftaktspiel war kein Unentschieden. Es war ein großer Sieg für eine liebenswerte Mannschaft, die unverschuldet ihre Vorbereitung auf die WM von der Aufregung um Keane zerstört sah (…) Andere Teams haben Weltklasse-Verteidiger, klasse Freistoßtricks oder eine raffinierte Abseitsfalle; Irland hat nur dieses Gefühl: den Irish Spirit. Er verwandelte schon 1990 und 1994, als sie erstmals bei einer WM dabei waren, einen Haufen ordentlicher Fußballer in ein außergewöhnliches Team (…) Vielleicht werden sie am Ende der Vorrunde reuevoll daran zurückdenken, dass sie Kamerun davonkommen ließen. Aber so wie die Iren sind, ist das unwahrscheinlich. Gut gespielt zu haben, ist in der Fußballkultur der angelsächsischen Länder noch immer etwas, worauf man unabhängig vom Resultat stolz ist.“

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