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Leipzig ist deutscher Olympiabewerber!

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Leipzig ist deutscher Olympiabewerber!

Hans-Joachim Waldbröl (FAZ 14.4.). „Wenn Erich Honecker das noch erlebt hätte: Leipzig ist deutscher Olympiabewerber! Gewählt mit großer Mehrheit des früheren Klassenfeindes, den der ehemalige DDR-Staatschef kurz vor der Wende mit dem waghalsigen Vorschlag, die Jahrtausendspiele nach Sachsen zu holen, düpieren wollte. Der amerikanische Präsident Ronald Reagan hatte zuvor die sportpolitische Idee verbreitet, Sommerspiele im damals noch geteilten Berlin sollten die Mauer zwischen den Blöcken durchbrechen. Was im Westen Deutschlands zum schnellen Verzicht von Dortmund mit der Rhein-Ruhr-Region, Frankfurt, Hamburg und Stuttgart zugunsten der heutigen Hauptstädter führte, provozierte im Osten Berlins die letzte vergebliche Trotzreaktion der Leistungssport-Diktatur. Eine Ironie der deutschen Geschichte, daß Honecker doch noch seinen letzten Willen bekommen hat – allerdings neun Jahre nach seinem Tod im chilenischen Exil und mit einer politischen Pointe, die den gebürtigen Saarländer am Samstag zu der vielzitierten Umdrehung im Grabe veranlaßt haben dürfte (…) Die politischen Neider regen sich unter den sportpolitischen Verlierern. Gehen schon wieder Geldgeschenke in den Osten? Die Antwort an den Steuerzahler ist vielleicht nicht beruhigend, aber einfach: Auch jede andere Stadt und Region müßte sich Olympia im wesentlichen von Land und Bund bezahlen lassen. Eine ganz andere Frage ist, wie die von Begeisterung getragene innenpolitische Wahl außenpolitisch zu verkaufen ist. Im Internationalen Olympischen Komitee (IOC) sitzen Wähler aus aller Welt, denen man keinen Allerweltsbewerber schmackhaft machen kann. Leipzig ein ganz eigenes, alternatives Profil zu geben, dazu hat der weltläufige Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker die drei deutschen IOC-Mitglieder Roland Baar, Thomas Bach und Walther Tröger aufgefordert: ein geradezu imperatives Mandat der deutschen Innenpolitik an die olympische Außenpolitik.“

Thomas Kistner (SZ 14.4.) fordert. „Ein harmonischer Auftritt mit sentimentaler Entführung in die deutsche Vergangenheit war Leipzigs Erfolgsrezept gegen das Sport Stadien-Gerangel der Mitbewerber. Daran besteht kein Zweifel. Ebenso eindeutig lässt sich aber auch die Frage beantworten, ob dieses politische Motto kommenden Prüfungen vor dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) standhalten kann: Keinesfalls. Leipzig für Deutschland 2012 – die Formel muss mit neuen, packenden Inhalten gefüllt werden, und zwar in Windeseile. Das IOC verteilt keine Solidaritätszuschläge, dort waren Mauerfall und Montagsdemonstranten nie ein anrührendes Thema. Das verfing schon 1993 nicht mehr, als Berlin mit dem Vereinigungsmotiv eine Bruchlandung hinlegte. Wegweisendes muss her. Leipzig braucht ein Zukunftskonzept, das bei der Spielevergabe im Jahr 2005 durch das IOC nicht nur Weltmetropolen wie New York, Paris, Rio oder Madrid aussticht, sondern elektrisierend nach innen wirkt: drei Viertel der Bevölkerung muss sich hinter Sachsen versammeln. Auch das ist politische Vorgabe der Ringe- Herren, die zudem in Deutschland stets besonders gern ihre öffentliche Wirkung überprüfen. Mit Leipzig hat sich der deutsche Sport die teuerste Wahl geleistet. Die technisch schwierigste Bewerbung ist es überdies. Es muss nun in Rekordzeit ein Aufbau Ost hingelegt werden, wie er in den zwölf Jahren bisher nicht bewältigt worden ist. Die technische Überprüfung der internationalen Kandidaten durch das IOC beginnt schon im Januar 2004 – was schon mal leise die Frage aufwirft, ob diese Ost-Bewerbung nicht einfach zu früh kommt. In der Leere des Augenblicks allerdings liegt auch die Chance für Leipzig. Diese Bewerbung birgt andere Dimensionen als die der unterlegenen Konkurrenten, die allesamt nie ihr technokratisches Flachland verlassen haben: Wir Deutschen können das schon. Na und? Nur Leipzig lässt sich thematisch neu aufladen.“

Jörg Hahn (FAZ 14.4.). „Der Osten vermerkt stolz, daß Leipzig auch im Westen erste Wahl gewesen ist. Bei der Entscheidung über den deutschen Olympiabewerber für 2012 am Samstag in München setzte sich Leipzig zwar erst im letzten von vier nervenaufreibenden Wahlgängen gegen die favorisierten Hamburger durch, mit 81:51 Stimmen. Doch von Anfang an, das verrät die Statistik, hatten die Sachsen im Nationalen Olympischen Komitee (NOK) die Mehrheit für sich mobilisieren können. Stuttgart, Frankfurt und Düsseldorf, die in den ersten drei Durchgängen gescheiterten Städte, waren chancenlos. Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee als fesselnder Cellist und Conférencier, Altbundespräsident Richard von Weizsäcker und Stardirigent Kurt Masur als glaubwürdige Wahlhelfer, anrührende wie mitreißende Filmaufnahmen aus der Geschichte eines einst geteilten Landes – so sah am Samstag die Erfolgsmixtur aus, mit der Leipzig die Herzen der NOK-Delegierten eroberte. Sichtlich zufrieden, aber auch erhitzt, als hätte er selbst um den Sieg mitgekämpft, verkündete Bundeskanzler Gerhard Schröder den Gewinner eines Städte-Fünfkampfes, der am Ende etwas von einer zweiten deutschen Vereinigung hatte. Vertreter aus Politik, Sport und Wirtschaft lobten die richtige Wahl, forderten aber auch dazu auf, Leipzig nun mit der großen Aufgabe nicht allein zu lassen.“

Frank Ketterer (taz 14.4.). „In den Debattenzirkeln hatten sich nach Bekanntgabe des Ergebnisses die wichtigen Leute indes schnell darauf verständigt, dass es sich bei Leipzig in erster Linie um eine politische Wahl gehandelt habe; dass zuvor Rostock bereits im ersten Wahlgang mit 69 Stimmen den Zuschlag für die Segelwettbewerbe erhalten hatte, bestätigte diese Ahnung. Das ist gelebte Wiedervereinigung, formulierte es Hans-Georg Moldenhauer, Präsident des Nordostdeutschen Fußballverbandes und NOK-Mitglied. Ein kräftiger Schuss Sportpolitik wird bei dem Entscheid freilich schon auch dabei gewesen sein: Denn das Votum pro Leipzig dürfte zu gutem Maße auch eine Wahl gegen Hamburg und Düsseldorf gewesen sein; beide Kontrahenten hatten sich im Vorfeld der Wahl allzu öffentlich behakt. Vor allem Düsseldorf war mit seinem Wahlhelfer Ulrich Feldhoff zu sehr in die Negativschlagzeilen gerutscht. Feldhoffs oft dementierte Ankündigung, die Mehrheit der 32 Verbandsfürsten auf die Seite der Rhein-Ruhr-Bewerbung gezogen zu haben, ging ziemlich nach hinten los. Zwar versuchte der mächtige Kanu- und DSB-Vizepräsident mit Bekanntgabe seines Stimmverzichts am Freitag noch die Stimmung zu kippen, gelungen ist ihm das aber nicht mehr.“

Bernhard Honnigfort Ulrike Spitz (FR 14.4.). „An diesem Nachmittag ist Leipzig wieder die Heldenstadt. Wieder haben die Leipziger etwas geschafft, mit dem die wenigsten gerechnet haben. Durchgesetzt haben sie sich gegen die größeren und reicheren westdeutschen Städte. Leipzig, der ehrgeizige, aber arme kleine Vetter im Osten, geht für ganz Deutschland ins Rennen, nicht die wohlhabenden Westcousins. Das tut der Seele gut. Es ist etwas mit dem Vereinigungsprozess geschehen, sagt Altbundespräsident von Weizsäcker. Eine politische Entscheidung für den Osten, brummelt irgendwann ein ernüchterter Kommentator aus Hamburg, der großen Verliererstadt, von der Leinwand herunter, aber das stört niemanden mehr. Wenngleich es zur Wahrheit dieser wundersamen Geschichte gehört. Sie hat viel mit den Gefühlen zu tun, die Leipzig mit seiner an die Herzen gehenden Präsentation auch in München bei den Mitgliedern des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) weckt, die mehrheitlich aus dem Westen kommen. Ich habe in einige glasige Augen gesehen, sagt Klaus Steinbach, der Präsident des NOK, die Präsentation von Leipzig war die einzige, bei der man im Bauch was gespürt hat. Als hätten die Leipziger sich genau an seinen Worten orientiert. In der Präsentation liegt eine unglaubliche Power, hatte Steinbach stets beschworen, es kommen ganz sicher Kopf- und Bauchargumente zusammen. Schließlich übermannt es auch die Westler im Ballsaal des Hilton Hotels, als Tiefensee die letzte der fünf Präsentationen mit den Worten beginnt: Ich stünde nicht hier, wenn es die Mauer noch gäbe. Tiefensee setzt damit den Ton. Die Leipziger genießen das Gefühl, mal wieder Heldenstadt zu sein.“

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