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Mittelpunkt des Interesses

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Mittelpunkt des Interesses

„Der FC Bayern ist wieder da, wo er immer war: im Mittelpunkt des Interesses.“ Diesem bissigen Schluss der FR muss man zustimmen. Mit dem frühzeitigen Ausscheiden der Münchner aus der Champions League beschäftigen sich derzeit nämlich nicht nur die Sportredaktionen, sondern auch Leitartikler und Feuilletonisten. Schließlich handelt es sich um ein offenbar epochales Ereignis, welches über die üblichen Gesprächszirkel der Fußballanhänger hinaus diskutiert wird.

Bayerns „Saisonende im Oktober“ (Die Welt) wird im Augenblick als Sensation wahrgenommen, doch: Wie wird die Fußballgeschichtsschreibung in fünf oder zehn Jahren auf die Ära Hitzfeld zurückblicken? Vermutlich wird man die vierjährige Boomphase (1998-2002), in der München ununterbrochen zu den ersten Adressen Europas zählte, eher als Überraschung zu deuten bereit sein als das diesjährige Scheitern in einer mit hochkarätigen und ambitionierten Teams besetzten Gruppe. Sprechen die Verantwortlichen nicht vielmehr deswegen von „Blamage“ und „Schande” (Vorstandsvorsitzender Rummenigge), weil sie selbst die Ansprüche vor der Saison – gemessen an der Qualität des Kaders – viel zu hoch schraubten?

Unter Beobachtung steht dabei Trainer Ottmar Hitzfeld bzw. das Verhältnis der Führungstroika Hoeneß/Rummenigge/Beckenbauer zu ihm. Dass sich seine Amtszeit dem Ende neigt, scheint jedenfalls absehbar. „Die Entfremdung zwischen den Vereinsgewaltigen und Hitzfeld nimmt rasant Fahrt auf“ berichtet die ortsansässige SZ. „Der apathische Zustand des Teams wirft zwangsläufig die Schuldfrage auf, und sie trifft vor allem Hitzfeld.“

Zu den Folgen der Geschehnisse meint Philipp Selldorf (SZ 31.10.). „Dass die Bayern nicht mehr in der Champions League spielen dürfen, ist ein Drama für den Verein; dass sie nicht mal mehr die Aussicht auf die Trostrunde im Uefa-Cup haben, ist eine Katastrophe, die Sachschaden in Millionenhöhe anrichtet. Aber wie die Bayern sich aus dem Europapokal verabschiedet haben, lächerlich chancenlos mit einem Punkt, das ist eine Demütigung – der schlimmste denkbare Reinfall also, ein Desaster fürs Prestige und fürs Selbstverständnis. Man kann sich vorstellen, mit welchen Empfindungen künftig der Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge zu den Sitzungen des Lobbyvereins G14 der europäischen Großklubs reisen wird und wie ihm dann die Herren von Real Madrid und Juventus Turin mitfühlend auf die Schultern klopfen werden. (Übrigens kann man sich auch vorstellen, wie sich die Herren von der Deutschen Telekom jetzt ärgern werden, wenn die Bayern nicht mehr in London oder Mailand, sondern in Bielefeld und Bremen für sie Reklame laufen – für zwanzig Millionen Euro im Jahr.)“

Joachim Mölter (FAZ 31.10.) blickt zurück und voraus. „Vielleicht ist das der Preis, den der FC Bayern München für die Erfolge der Vergangenheit zahlen muß. Irgendwo zwischen San Siro und St. Pauli, zwischen Sekt und Scampis scheinen die Spieler die Lust am Erfolg verloren zu haben, wie Mehmet Scholl unlängst meinte. Auch die Siegermentalität ist den Spielern abhanden gekommen, plötzlich halten sie dem Druck des Gewinnenmüssens nicht mehr stand. An den Zugängen allein kann es nicht liegen, es sind noch genug Profis aus der großen Zeit um die Jahrhundertwende dabei. Aber es war in dieser gesamten Champions-League-Vorrunde nie dieses Aufbäumen zu spüren, das den FC Bayern damals ausgezeichnet hat (…) Wie jeder andere Betrieb, der sein wirtschaftliches Ziel verfehlt, wird auch die FC Bayern AG Personal abbauen. Sie wird Spieler so bald wie möglich gehen lassen, Nationalstürmer Alexander Zickler, Pablo Thiam und Nico Kovac werden am häufigsten genannt. Natürlich wird jetzt auch wieder die Trainerfrage gestellt. Vielleicht hat sich die Autorität von Ottmar Hitzfeld ja tatsächlich abgenutzt. Die Vereinsführung hat ihm jedenfalls alle Spieler geholt, die er haben wollte. Bisher aber hat es Hitzfeld nicht geschafft, aus ihnen und den verbliebenen Profis eine Mannschaft von höchster Qualität zu formen. Es fehlt ihr jemand, der sie führt, der das Spiel bestimmt. Michael Ballack ist es momentan jedenfalls nicht. Ob irgendwann später, bleibt die spannende Frage.“

In der spanischen Tageszeitung El País (30.10.) lesen wir. „Einmal im Leben gehörte die letzte Minute nicht den Deutschen. So schlecht geht es den Bayern, dass sogar Glücksgöttin Fortuna sich entschied, sie in Momenten zu verlassen, in denen sie bisher nie im Stich gelassen wurden. In einer fußballlosen und leidensvollen Nacht herrschte eine lähmende Angst in zwei Mannschaften, die von Niederlagen umringt sind, bevor die Inspiration des holländischen Goalgetters Roy Makaay Depor aus seinem Alptraum rettete.“

Über die schwierige Aufgabe Hitzfelds schreibt Jan Christian Müller (FR 31.10.). „Es muss aber auch eine ungeheuere Kraft und Selbstdisziplin erfordern, eine derartige Aufgabe über Jahre hinweg zu meistern. Rudi Völler etwa war nach sechs Wochen WM mit den Nerven am Ende, was man verstehen kann. Dabei war er erfolgreich. Hitzfeld ist derzeit nicht erfolgreich, die öffentlich wiederholt bekundete Stallorder, die Bundesliga sei ohnehin wichtiger als die Champions League, war eine bloße Notlüge. Wenn das anders wäre, würden die Bayern-Bosse jetzt nicht so böse beleidigt sein. Hält Hitzfeld das aus? Und: Macht es Sinn, dass er das aushält? Die kommenden Wochen werden zeigen, wie Trainer, Vorstand und Mannschaft die Krise des Exportartikels Bayern München mittelfristig meistern. Dabei ist das derzeitige Tief genauso selbstverständlich wie das Auf und Nieder der Konjunktur. Aber es ist natürlich klar, dass es nun schwierig genug wird, sich auf dem heimischen Markt durchzusetzen. Es fehlt der psychologische Rückenwind aus Europa.”

Das Streiflicht (SZ 31.10.). „Es ist noch gar nicht lange her, da machten die wichtigen Männerbeim FC Bayern einen Plan. Sie würden, beschlossen sie, die besten Fußballspieler aus dem ganzen Land nach München holen. Würden ihnen das neue, weiße Anti-Schweiß-Trikot anziehen, das niemals nach Anstrengung aussieht, sondern immer nur nach Zauberei. Die Spieler würden dem Fußball, dieser unbezähmbaren Lederkugel, alles Unbezähmbare, Ledrige, Kugelige nehmen. Und schließlich, bei der WM 2006, würde eine ausschließlich aus Bayernspielern zusammengebastelte Mannschaft namens FC Bayern Deutschland auflaufen. Ach was, aufschweben würde sie, die Fußballer hätten sich längst Flügel antrainiert, weiße Flügel mit dem Werbelogo der Lufthansa. Und ihre Freistöße wären wie Blitze, ihre Flanken wie Regenbögen, die Netze der Tore müssten aus Titan sein, um nicht unter der Gewalt ihrer Schüsse zu zerbersten. Und während die Fußballer anderer Teams dauernd auf das Spielfeld rotzten, würden die deutschen Bayern oder bayrischen Deutschen goldenes Konfetti auf den Rasen rieseln lassen. Es war ein Plan, eine kühne Idee; der Versuch, aus der Wirklichkeit zu fliehen. Aber die Wirklichkeit hat den FC Bayern eingeholt, in der Champions League. Die Wirklichkeit war brutal und nass in La Coruña.“

Philipp Selldorf (SZ 31.10.) war beim Bankett nach dem Spiel. „Die Ansprache des Präsidenten an die Freunde und Förderer, im Beisein von Mannschaft und Trainer, ist eine beliebte Tradition beim FC Bayern, und sie ist ein Gradmesser der herrschenden Stimmung. Für Rummenigge war es die erste Rede von Bedeutung in seiner Eigenschaft als Vereinschef. Franz Beckenbauer, sein Vorgänger als Festredner, war berühmt für seinen nonchalanten Charme oder, je nach Lage, seinen vernichtenden Sarkasmus, mit dem er die Leute zum Lachen brachte. Rummenigges Beitrag nach dem 1:2 der Bayern in La Coruña, dem Ausscheiden aus der Champions League, blieb ernst und schnörkellos, niemand lachte. Aber sie zeigte Wirkung in seiner Umgebung. Hätte jemand die Temperatur gemessen, die nach seinen Worten an der geschmückten Tafel mit dem Tischkärtchen „Präsidium“ herrschte, hätte er erschreckende Werte tief unter Null festgestellt. Hier saßen unter anderen: Rummenigge, von den Spielern „Killer-Kalle” genannt, und neben ihm – im Zustand der Depression – Uli Hoeneß. Vis-à-vis Hitzfeld und dessen Assistent Michael Henke. Eine Art Showdown der handelnden Personen, ausgetragen, indem man aneinander vorbeischaute (…) Der Mann, den diese Äußerungen am meisten trafen, saß am selben Tisch. Trainer Ottmar Hitzfeld streckte den Rücken kerzengerade, sein Gesicht blieb starr wie eine Maske, und er war bereit, jedes einzelne harte Wort zu empfangen.“

Christian Thomas (FR 31.10.) liefert Charakterstudien. „Wie muss man sich den Fußballfan vorstellen, der vorgestern oder gestern erst wieder im Stadion oder vor dem Fernseher saß, wenn nicht als einen auch medizinisch hoffnungslosen Fall. Denn wo der Durchschnittbürger ein Herz hat, hat der Fußballfan ein Doppelherz. Einen solchen Muskel kennt nicht etwa nur der Anhang bestimmter Clubs. Ein solches Privileg genießt nicht allein der mit vielerlei Begünstigungen, mit Meisterschaften und Erfolgen verwöhnte Fan des FC Bayern München. Vielmehr darf man festhalten, dass auch dem gewöhnlichen, dem ganz normalen Fan ein solches Organ in der Brust klopft, dem die Hingebung genauso wie die Feindseligkeit die notwendigen Lebenssäfte zuführt – in beiden Fällen stets heißblütig. Will man das Ausscheiden des FC Bayern München aus der Champions League auch nur annähernd begreifen, so muss man auch diesen Kasus aus einer Doppelperspektive betrachten. Denn einem Bayern-Fan wird die Republik kaum ausreden können, dass es sich bei der Abdankung aus der europäischen Königsklasse um eine nationale Katastrophe gehandelt haben muss. Auf der anderen Seite wird kein Bayern-Anhänger Einfluss auf einen Bayern-Gegner nehmen können, der den sang- und klanglosen Abschied der Münchner vielleicht nicht gleich als einen Reformationstag für die Champions League begreifen, wohl aber als nationalen Feiertag begehen möchte (…) Wer in dieser Republik ein Fußball-Doppelherz hat, den konnten nicht einmal die größten Erfolge des FC Bayern darüber hinwegtäuschen, dass die Bayerngegnerschaft ihre Energien nicht allein aus dem Neid gegenüber einem sportlichen Riesen bezieht. Sondern vielmehr auf einer produktiven Skepsis gegenüber einem Verein basiert, der unter den Lauten am alldeutschen Fußball-Stammtisch der Aufdringlichste ist. Im Grunde bildet der Bayern-Stamm so etwas wie eine fundamentalistische Ethnie.“

Im Vorfeld des Spiels reflektierte auch die spanische Presse (El País 29.10.) über die Bedeutung des Hinspiels (2:3) und die Konsequenzen für beide Mannschaften. Das Spiel bilde im Nachhinein eine Symbiose aus Rationalität und Irrationationalität. Rational schien die Zerschlagung der bayrischen Mannschaft nach dieser schmerzlichen Niederlage. Die Entwicklung Depors nach dem ersten Sieg einer spanischen Mannschaft im Olympiastadion ließe sich nicht rational nachvollziehen. Seitdem sei Depor von einem bösen Geist verfolgt, Valerón verletzte sich beim nächsten Spiel, Molina wurde ein Tumor diagnostiziert, und die Mannschaft habe ähnliche spielerische Probleme wie Bayern. Es könne nur eine Hexenangelegenheit sein. Das wäre vielleicht ein guter Trost für bayrischen Funktionäre.

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