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Nordsee-Archipel

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Nordsee-Archipel

“Was am Mittwoch auf einem zugigen Nordsee-Archipel zu sehen war, läßt über den deutschen Fußball kein freundliches Urteil mehr zu“, schreibt die FAZ über den dürftigen 2:0-Erfolg der DFB-Elf auf Färöer. Nahezu alle deutschen Tageszeitungen attestieren dem „vermeintlichen Fußball-Vizeweltmeister“ (offenbar möchte die taz dem Team nun diesen Titel rückwirkend aberkennen) eine „jammervolle und peinliche“ (SZ) Vorstellung. Zudem ärgern sich die Berichterstatter über mangelhafte Selbstkritik der Spieler. „Das Team präsentierte sich als Einheit, die deutschen Fußballer hielten eng zusammen: beim Schönreden hinterher. Es war erstaunlich, mit welchem Eifer die deutschen Spieler ihre Leistung rechtfertigten“, beschreibt der Tagesspiegel das „Prinzip Ausrede“.

Nur Jan Christian Müller (FR) wählt abwägende Worte, indem er die Negativschlagzeilen seiner Kollegen zurechtrückt. „Es ist ausgemachter Blödsinn, nach dem Spiel gegen die Färinger, das sich fast ausschließlich in deren Hälfte zutrug und bei dem mancher Deutscher bemüht, aber etwas tapsig zu Werke ging, von einer Schmach zu sprechen. Eine Schmach wäre es gewesen, wenn die Gastgeber die Partie ähnlich überlegen geführt hätten wie am Samstag die Schotten – oder wenn Kahn und Rost bei Kontern mehrfach Kopf und Kragen hätten riskieren müssen. Beides war nicht der Fall. So bleibt ein Schuss Ernüchterung, dass es so bleibt, wie es immer schon war: Die Deutschen hören auch im Frust nicht auf zu rennen, sind kräftiger und können höher springen als die meisten anderen.“

Die Tiefe des möglichen Scheiterns

Philipp Selldorf (SZ 13.6.) erklärt die Bedeutung des Siegs für Rudi Völler. „Hätte ihn Miroslav Klose nicht vor dem zum Greifen nahen, torlosen Desaster bewahrt, dann wäre Völler als der deutsche Josef Hickersberger in die Geschichte eingegangen. Dessen Schicksal als österreichischer Nationaltrainer hatte sich hier vor zehn Jahren durch ein 0:1 erfüllt – was auch im an Härten gewohnten Alpenstaat unvergesslich bleibt. Für Völler hätte ein Remis auf der Operetteninsel bedeutet: Verlust der fußballerischen Ehrenrechte, ein ewiger schwarzer Makel in der Biographie, der wenigstens gleichberechtigt neben den großen Titeln als Fußballer und den Erfolgen als Teamchef der Nationalelf aufgetaucht wäre. Vor seinesgleichen hätte Rudi Völler nicht den Kopf, aber das Gesicht verloren – so unbarmherzig und ungerecht ist der Kodex in der Welt der Fußballerlegenden, in der Völler zuhause ist. Deshalb hat Völler auf dieser Reise eine der riskantesten Prüfungen seiner Teamchef-Laufbahn überstanden: In Glasgow, wo ihn sein verfemter Vorvorgänger Berti Vogts zu überrumpeln versuchte, und bei den Dorfkickern in Torshavn, wo das Grauen der stolzesten Fußballer wohnt. Völlers Erleichterung nach dem Sieg verrät, dass ihm die Tiefe des möglichen Scheiterns bekannt war.“

Ein kurioser deutscher Fußball-Bildungsweg

Michael Horeni (FAZ 13.6.) sorgt sich um den Zustand des deutschen Fußballs. “Wenn die Fußball-Welt vor der Sommerpause von Ferne auf die Tabellen der Qualifikationsgruppen blickt, dann verflüchtigen sich tatsächlich all die bösen Holprigkeiten, wie taktische, technische und spielerische Mängel. Die Deutschen führen mit zwei Punkten Vorsprung die Tabelle an und können bei zwei Heim- und einem Auswärtsspiel der Endphase auf dem Weg zur Endrunde nach Portugal vergleichsweise gelassen entgegensehen. Anders etwa als ausgerechnet Holländer und Spanier, die bei den Testspielen in dieser Saison, den Deutschen nicht nur in den Ergebnissen mit 4:1 und 3:1, sondern auch in allen Feinheiten des Spiels voraus waren (…) Wer allerdings die Deutschen im Fernsehen oder im Stadion sieht und darauf besteht, daß diese Nah-Perspektive den Kern des Fußballs ausmacht, der kann schon von erlittenen Zumutungen sprechen. Träge Spieleröffnung aus der Abwehr, fahriges, konzeptionsloses Mittelfeldspiel, schlampige Chancenverwertung im Angriff – was schon in Schottland auf der Mängelliste stand, unterstrichen die WM-Finalisten auf den Färöern dann sogar noch gegen amateurhafte Nationalkicker. Play local, think global – seit dem WM-Finale gerieten diese beiden Perspektiven bei der deutschen Mannschaft nie stärker auseinander als auf den Färöern. In der Detailansicht wurde in dieser Saison von Spiel zu Spiel bis zum enttäuschenden Schlußpunkt immer klarer, daß auf das Meisterstück von Japan und Korea für die verjüngte Nationalmannschaft ein hartes Lehrjahr folgte. Ein kurioser deutscher Fußball-Bildungsweg – über seine Tragfähigkeit bis zur Abschlußprüfung 2006 wird aber erst die Zwischenprüfung 2004 in Portugal Aufschluß geben.“

Jan Christian Müller (FR 13.6.) blickt optimistisch nach vorne: „Immerhin bleibt die berechtigte Hoffnung, dass die Friedrich, Freier, Rau, Lauth, Hinkel und Kuranyi noch einen Sprung machen, Ballack und Hamann gesunden und die Kahn, Ramelow, Rehmer, Kehl, Neuville, Schneider, Klose, Frings und Jeremies im Jahr zwei nach dem größten Erfolg ihrer Karriere und einem Zwischenschritt zurück nun wieder einen Schritt nach vorne tun. So wie Fredi Bobic es geschafft hat.“

Einige derbe Flüche hallten durch den Raum

Gregor Derichs (FR 13.6.) resümiert die (voreiligen) Reaktionen auf das Spiel. „Auf der Pressetribüne waren die Schlagzeilen schon vorbereitet. Das Wort von einer Jahrhundert-Blamage wurde in ein Notebook getippt. Die Reporter einer großen Boulevard-Zeitung sprachen mit der Heimatredaktion ab, auf der Frontseite einen Schafskopf zu platzieren, der die Blödheit der deutschen Elf symbolisieren sollte. Als die deutsche Nationalmannschaft in Torshavn gegen die Auswahl der Färöer doch noch den verdienten Sieg schaffte, weil der eingewechselte Lauterer Miroslav Klose in der 89. Minute das 1:0 erzielte, war die Hektik bei den Medienmenschen groß. Einige derbe Flüche hallten durch den Raum, aus Ärger über den nun beginnenden Stress, in den mobilen Computern die Texte umzubauen. Zu Hause war es 22.30 Uhr, und der Druckbeginn der Zeitungen ließ sich nicht mehr verschieben. Fix waren die ersten Sätze geändert, als Fredi Bobic in der Nachspielzeit den Treffer zum 2:0-Endstand erzielt hatte. In den Bewertungen blieben Begriffe wie schwächste Leistung seit der Europameisterschaft 2000 stehen. Bild ließ das Wort Schande als Haupturteil unangetastet. Der niederländische Schiedsrichter Jan Wegereef pfiff ab, und der Sieg des WM-Zweiten aus einem Land, in dem gut sechs Millionen Menschen Fußball spielen, über einen Lilliput-Staat mit 47.000 Einwohnern war besiegelt. Inwieweit sind Beurteilungen eines sportlichen Auftritts davon abhängig, dass nach einer sehr enttäuschenden Leistung ganz am Ende zwei Tore zum Last-Minute-Sieg erzielt werden? Wie Sportler damit umgehen, konnten die Journalisten wenig später erfahren. Vor den Umkleidekabinen im Torsvöllur-Stadion trafen sie vornehmlich auf deutsche Akteure, die förmlich übersprudelten. Fredi Bobic war kaum zu stoppen. So ein Spiel habe ich noch nie erlebt, sagte er, das war ein Hammer. Daran werde ich mich in 20 Jahren noch erinnern und meinen Enkeln erzählen. Noch nie habe er in einer so klar dominierenden Mannschaft gestanden, für die das Tor wie zugenagelt war. Und Christian Wörns erklärte, ähnlich befreit wirkend wie Bobic: Die hatten einen Engel im Tor. So setzte sich das fort.“

Was für ein Trainer ist dieser Völler eigentlich?

Christof Kneer (BLZ 13.6.) zensiert unentschlossen Rudi Völlers Leistung. „Es war im Sommer 2000, als Völler den deutschen Fußball übernahm, und weil sein Lehrauftrag bis 2006 gilt, ist jetzt Zeit fürs Zwischenzeugnis. Der Lehrer kommt dabei besser weg als seine Schüler. Vom fröhlich strategiefreien Vorgänger Ribbeck übernahm er eine heruntergewirtschaftete Lerngruppe, die in Betragen und Mitarbeit längst auf Fünf minus stand. Es muss bis heute als Völlers größtes Verdienst gelten, dass er die Kopfnoten wieder in Ordnung brachte. Der Lehrer Völler hat es geschafft, dass die coole Generation ihre Sentimentalität entdeckt hat. Sie fand es geil, eine WM zu spielen. Sie fand es geil, wenn der Herr Lehrer wie Käpt‘n Blaubär seine Geschichten von früher erzählt hat. Sie fand es geil, dass der Herr Lehrer ein lustiges Treuepunktesystem entwarf – wer einmal etwas beitrug zum Wohle der Klasse, durfte immer wiederkommen. Völler hat seinen Schülern vertraut, und sie haben ihm vertraut, und am Ende kehrten sie als Zweiter von diesem Ausflug nach Asien zurück, obwohl es weit begabtere Klassen gab. Als Vertrauenslehrer hat Völler einen bemerkenswerten Job gemacht, aber jetzt ist die Zeit gekommen, da endlich der Sportlehrer gefragt ist. Zur Emotion muss nun der Fußball hinzukommen. Drei Jahre ist Völler nun im Amt, und bis zum heutigen Tag weiß keiner so recht, was für ein Trainer dieser Völler eigentlich ist. Lässt er gern offensiv spielen oder lieber defensiv? Welche Taktik mag er? Mag er überhaupt Taktik? Oder lässt er lieber seinen Skibbe die Taktik machen? Aber wenn das so ist, welche Taktik macht sein Skibbe dann? Kann man sich spontan an ein Spiel erinnern, das Deutschland gewann, weil es die bessere Taktik hatte?“

Gegner in Miniaturformat

Michael Horeni (FAZ 13.6.) ist enttäuscht. “Tatsächlich hätten Nostalgiker gut und gerne glauben können, daß auch im Jahr 2003 mit einem Stürmer Völler die Nationalmannschaft einer Blamage nicht so erschreckend nahe gekommen wäre wie mit den aktuellen Profis. Denn was die WM-Finalisten des vergangenen Sommers in der ersten Stunde auf ihrem diesjährigen Abschlußball zeigten, ließ nie Erinnerungen an das Endspiel gegen Ronaldo und Co. aufkommen, sondern vielmehr an die Uwe-Seeler-Traditionsmannschaft. Aber da Kloses die deutsche Fußball-Ehre rettender Kopfball sein Ziel doch noch gefunden hatte, mochten sich die gerade noch vor Schimpf und Schande davongekommen Super-Favoriten auch nicht mehr mit allzuviel Selbstkritik vor dem Urlaub aufhalten. Der zur Halbzeit ausgewechselte Kapitän Oliver Kahn, dem nicht die Leistung seiner Vorderleute, sondern eine Bindehautentzündung die Tränen in die Augen getrieben hatten, sprach gnädig von einem typischen Pokalspiel (…) Rudi Völler lehnte es ausdrücklich ab, ein kritisches Wort über seine am Ende immerhin mit wilder Entschlossenheit noch erfolgreich ins Ziel taumelnden Spieler zu verlieren. Ganz im Gegenteil. Der Teamchef hob sogar auf die höchsten deutschen Tugenden ab, die nun sogar schon gegen einen Gegner in Miniaturformat herhalten musste.“

Philipp Selldorf (SZ 13.6.) gratuliert Völler zur glücklichen Einwechslung Kloses. „Was immer Kritisches man über die Aufstellungs- und Wechselpolitik des Teamchefs vorbringen mag – und dazu gab es auch am Mittwoch Gelegenheit, als er allzu lange am schwachen Tobias Rau und dem im Grunde überflüssigen Jeremies festhielt –, zuletzt gelingt ihm doch immer wieder der entscheidende Clou.“

(11.6.)

Vor dem Spiel

Michael Horeni (FAZ 11.6.) diagnostiziert anschaulich eine deutsche Stürmermisere. “Carsten Jancker wird wunderbar freigespielt. Er hat freie Bahn, nur der Torwart der Färöer steht einem Treffer noch im Weg. Aber Jancker scheitert. Ein paar Minuten später ist die Sache für den Torjäger noch einfacher. Der Torwart hat schon aufgegeben, aber der Ball landet neben dem Tor. Es sind Momente wie diese, die dem Teamchef Rudi Völler in dieser Saison zu schaffen machen, die Entwicklung der Nationalmannschaft zu einem internationalen Spitzenteam verhindern und den WM-Zweiten dann sogar noch gegen die Färöer in Schwierigkeiten und Imageprobleme geraten lassen – und nebenbei einen Mann vom Fach wie Völler auch noch zusätzlich leiden lassen. Nach diesen beiden Szenen aber, die dem am Ende zittrig zuwege gebrachten 2:1 gegen die Färöer vorausgingen, war Völlers Langmut mit Jancker endgültig dahin. Ohne die bis dahin auch für ihn noch massive Bayern-Lobby wurde der nach Italien abgewanderte Stürmer ohne Torinstinkt nicht mehr bei der Nationalmannschaft gesehen (…) Miroslav Klose schien bei der Weltmeisterschaft nach seinem imponierenden Start mit fünf Toren in den ersten drei Spielen für die Experten die Fähigkeiten zu einem Stürmer der Sonderklasse in sich zu tragen. Kopfballstärke, Schnelligkeit und Schußtechnik nennt Völler auch vor der Partie auf dem Nordsee-Archipel noch immer als Qualitäten des Pfälzers. Allerdings: Von Torgefährlichkeit, wie bei der WM, spricht der Torjäger a. D. schon seit einiger Zeit nicht mehr (…) So heißt Deutschlands neuer Topstürmer in der Ahnenreihe von Uwe Seeler, Gerd Müller und Rudi Völler nun also Fredi Bobic. Auch der Teamchef mochte zunächst kaum glauben, daß aus dem Dortmunder Auslaufmodell über den englischen Umweg Bolton in Hannover noch etwas werden konnte. Zögerlich holte er ihn im November zum Test gegen die Niederlande zurück – und zum Glück brachte der von viel Sympathie begleitete Bobic bei seinem Comeback zumindest eine gewisse Treffsicherheit mit. Aber mit 33 Jahren ist der Aufsteiger des Jahres für die Rolle des Hoffnungsträgers über die EM 2004 in Portugal hinaus nicht gerade eine Traumbesetzung.“

Kein Gütesiegel für den deutschen Fußball

Dahingegen erzählt Christof Kneer (BLZ 11.6.) den Positionsgewinn Bobics. “Die Geschichte von Deutschland und den Färöer Inseln ist auch die Geschichte von Fredi Bobic. Zwischen Hin- und Rückspiel war genug Zeit für eine Renaissance, die keiner für möglich gehalten hat. In diesen acht Monaten ist aus Querulantenfredi, dem Auslaufmodell, ein Diplomatenfredi geworden. Im Herbst hat die Branche noch geschmunzelt, als Hannover 96 den Dortmundern diesen schwer Vermittelbaren abkaufte, und jetzt setzt ihn der DFB am Tag vor dem Schottland-Spiel aufs Pressepodium. Er darf dort die letzte Regierungserklärung sprechen, eine Ehre, die sonst nur Oliver Kahn oder Michael Ballack zuteil wird. Bobic gibt Interviews in schottischen Zeitungen, in fast perfektem English, wie der Interviewer vermerkt. Bobic verteidigt Vogts (Give him time). Bobic schießt das Tor. Bobic stellt sich nach dem Spiel der Presse. So viel Bobic war noch nie in Deutschland. Mit 31 Jahren ist der künftige Herthaner hinter Kahn und Ballack zur dritten Kraft im Lande aufgestiegen, und schon wird nur noch der Platz neben ihm verhandelt. Bis vor kurzem wurde noch landesweit nach einem tauglicher Nebenmann für Miroslav Klose gefahndet, jetzt muss Klose möglicherweise auf die Bank, weil er nicht zu Bobic passt. Es ist anzuerkennen, wie lässig Bobic zurzeit vor des Gegners Tor zur Tat schreitet. Aber klar ist auch, dass es kein Gütesiegel für den deutschen Fußball ist, wenn er sich abhängig macht von einem Stürmer, der seine Tauglichkeit auf höchstem internationalen Niveau noch nie bewiesen hat. Erst recht ist es kein Kompliment, wenn dieser Bobic nicht nur als Torjäger, sondern in erster Linie als Typ besetzt wird. Bobic gilt als tough, furchtlos und ausgebufft, und es scheint, als reiche das derzeit schon, um den verzagten Mitspielern eine Hilfe zu sein.“

Tsp-Interview mit Bernd Schneider

Philipp Selldorf (SZ 11.6.) kommentiert den Rüffel Ballacks an seine Mannschaftskollegen. „Ballack hat in Glasgow ungewöhnlich offen seine Sorgen geschildert. Dass er auf dem Platz die leitende Rolle übernimmt, ist das Ergebnis seiner beim FC Bayern um ein weiteres Stück gewachsenen Selbstsicherheit, entspricht aber auch zwangsläufig seinem herausragenden spielerischen Vermögen. Dass er aber neben dem Platz kraftvoll das Wort führt, ist ein neues Phänomen und sollte diejenigen von Lattek, Matthäus bis Beckenbauer beglücken, die all die Jahre so heftig nach dem „Führungsspieler“ verlangt hatten wie der Patient nach der Krankenschwester. Ballacks nicht unerheblichen Vorwürfe an die Mitspieler („Einige Spieler müssen sich mehr in die Pflicht nehmen und sich bewusst werden, dass sie auch Verantwortung tragen“) hätten für lebendige Debatten in der Mannschaft sorgen können. Aber davon war nichts zu hören und zu spüren. „Wir haben ’ne gewisse Kritik verdient, alle miteinander, da bin ich auch mit im Boot“, erklärte Teamchef Völler gestern und gab Ballack zwar recht – beendete aber auch den unliebsamen Fall. Völler liebt die Harmonie und schätzt die Unruhe nicht, und im ersten Moment hatte er deshalb auch leicht allergisch reagiert, als er mit Ballacks Vorhaltungen konfrontiert wurde. In den Tagen nach dem Match ging es also im gemütlichen „MacDonald Crutherland House“ um alles mögliche, einschließlich der Lederbluse der im Hause wohnenden Frau des DFB-Vorsitzenden und des weiterhin wachsenden Körperumfangs des ebenfalls anwesenden Reiner Calmund – aber bloß nicht um die Frage, wie die Verantwortlichkeit für die Qualität des deutschen Spiels besser verteilt werden kann. „Das war ja schon immer unser Problem, dass wir zu ruhig sind“, sagt Rudi Völler. Er meint: auf dem Platz. Doch eben nicht nur dort.“

Der gefühlte Tabellenplatz des Tabellenführers ist weitaus schlechter

Jan Christian Müller (FR 11.6.). “Dass sich Franz Beckenbauer am Dienstag via Kolumne in Bild meldete und grundsätzliche Kritik am deutschen Spieltrieb äußerte, darf getrost als erwartete Routinehandlung betrachtet werden, hat Rudi Völler aber nichtsdestotrotz geärgert und den bekannten Beschützerinstinkt im Teamchef herausgefordert. Rennen und kämpfen können sie inzwischen überall – aber wir können nicht Fußball spielen, zumindest keinen hochklassigen, hatte Beckenbauer gemaßregelt und wollte erkannt haben, dass die deutsche Mannschaft spielerisch wieder dort ist, wo wir vor der WM standen. Völler wies das Urteil des Kaisers als überzogen zurück: Wir haben zwar eine gewisse Kritik verdient, aber Fakt ist auch, dass wir bei unserem schärfsten Rivalen Schottland gepunktet haben und Tabellenführer sind. Komisch: Der gefühlte Tabellenplatz ist weitaus schlechter.“

Klischees und Vorurteile

Ein Leserbrief an die FR-Redaktion bezüglich der FR-Berichterstattung über das Remis in Glasgow. „Herzlichen Glückwunsch dem Sport- (besser: Spott-Redakteur) Müller! Sie haben mit Ihrem Artikel Ein typisch deutscher Behördengang – Wie beim Gang aufs Amt – deutscher Beamtenfußball …. Sicher die Aufnahmeprüfung für einen Job bei der Bild-Zeitung bestanden. Klischees und Vorurteile nach vorne – die Schlagzeile wird’s richten. Nach meinen Informationen haben nicht Beamte, sondern hochbezahlte Profis, Ich-AGs in Schottland gespielt. Manche meinen, es seien Millionäre. Ach ja, Beamte sind grundsätzlich unkündbar. Trifft dies auch für Sport-Redakteure zu?”

Vexierspiel aus Folklore und Realität

„Statistisch gesehen, ist kein Land der Welt so fußballverrückt wie die Färöer, wo auf jeden fünfzigsten der knapp fünfzigtausend Bewohner eine Mannschaft kommt“, schreibt Christian Eichler (FAZ 11.6.). „Für Wirtschaft und Tourismus der Färöer war es ein schlimmer Mai. Ein Generalstreik, mit dem die Gewerkschaften eine Lohnsteigerung von gut einem Euro pro Stunde durchsetzten, hatte die 18 Inseln in der nördlichen Nordsee lahmgelegt: Supermärkte standen leer, Fischkutter, Fähren, Busse fuhren nicht. Für den Fußball der Färöer waren es vielleicht vier gute Wochen. Denn die meisten Spieler der Nationalelf machen sich anders als die deutschen Fußballmillionäre, auf die sie diesen Mittwoch treffen, auch als Arbeitskräfte in Handwerk, Handel, Sozialsystem nützlich. Durch die ungewohnte Arbeitspause konnten sich viele der Amateure und Halbprofis zum ersten Mal richtig ungestört auf Fußballspiele vorbereiten (…) Färöers Fußball, das ist, stellvertretend für das Gesamtbild, das sich die Welt von den Inseln im Nordmeer macht, ein Vexierspiel aus Folklore und Realität. Wer so flüchtig vorbeischaut wie die deutsche Fußballdelegation, die keine 36 Stunden auf den Färöern verbringt und ihren eigenen Koch dabeithat, um auf dem Teller nicht von Walspeck oder gestopftem Papageientaucher überrascht zu werden, wird kaum durchblicken. Färöers Fußballfolklore rankt sich etwa um die Pudelmütze, die Torwart Knudsen beim Sieg gegen die Österreicher trug und deren Diebstahl 1997 einen nationalen Aufschrei auslöste, bis sie im Handgepäck zweier norwegischer Touristen wiedergefunden wurde. Noch so ein Mythos: die Zehnerkette, mit der die Färöer als nordatlantisches Verteidigungsbündnis einst Angreifer ärgerten. Die heutige Realität sieht banaler aus. Pudelmützen oder andere Schrulligkeiten stellt keiner mehr zur Schau. Und unter Nationaltrainer Henrik Larsen, einem dänischen Europameister von 1992, hat sich die Spielweise zu modernem Kurzpaßspiel entwickelt.“

Gregor Derichs (FR 11.6.) sah bei der Landung kabbeliges Waaser und lange Wellen schräg gegen den Strand treiben. „Graue Wolken hingen tief über der See, die wie Quecksilber glitzerte. Die steil abfallenden Felsklippen waren in Nebelschwaden gehüllt. Aber die Sicht beim Anflug auf den Flughafen Sonvágur, eine der komplizierte Einflugschneisen der Welt mit einer extrem kurzen Landebahn, war gerade noch gut genug. Um 12.03 Uhr Ortszeit landete gestern der kleine Lufthansa-Cityhopper auf Vágar, einer der 18 bewohnten Inseln der Färöer. Bei einem Wetter wie im November mit Wind und Temperaturen um 13 Grad begann für die deutsche Nationalmannschaft das absonderlichste Abenteuer seit vielen Jahren.“

Philipp Selldorf (SZ 11.6.) zeigt sich landeskundig. „Die Legenden erzählen, dass auf den 18 Färöer-Inseln im Nord-Atlantik alle fünf Minuten das Wetter grundlegend wechselt, dass außer 47.120 Menschen eine unbekannte Anzahl Elfen und Trolle dort lebt, und dass es kein einziges McDonald‘s-Lokal, dafür aber gegrillten Papageientaucher zum Abendessen gibt. Weitere Legenden handeln von der färöischen Fußball-Nationalmannschaft, einer Ansammlung von Fischfabrikarbeitern, Lehrern, Getränkehändlern und anderen Menschen mit ehrbaren Berufen, die heute Abend das deutsche Team im EM-Qualifikationsmatch das Fürchten lehren will. Deutschlands Kapitän und Torwart Oliver Kahn prophezeit deshalb vorsichtshalber: „Wir können unser blaues Wunder erleben.“ Gespielt wird um 19.45 Uhr (20.45 Uhr deutscher Zeit/live in der ARD) im Törsvöllur-Stadion, das allerdings nicht nach dem deutschen Teamchef benannt ist, der seine Tore zu Spielerzeiten gern als „Törchen“ verniedlicht hat. Die Umlaute sind eine Eigenheit der färöischen Sprache, die dem Altnorwegischen entstammt. Ein Flutlicht wird nicht benötigt für das blaue Wunder, das mindestens 7.000 Zuschauer live miterleben wollen. Zu dieser Jahreszeit wird es nachts nur zwei Stunden dunkel. Es ist also ein exotischer Trip.“

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