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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ballschrank

International

Oliver Fritsch | Montag, 19. April 2004 Kommentare deaktiviert für International

Christian Vieri und inter Mailand, Scheidung auf italienisch (SZ) – „bei Otto Rehhagel in spielen nicht die elf Besten, es spielt die beste Elf“ (Spiegel) u.v.m.

Da wird dir schwindlig, und du könntest kotzen

Peter Burghardt (SZ 19.4.) berichtet den knappen Sieg Real Madrids im Stadtderby: „Wie üblich kann man nur hoffen, dass der dicke Mann trotz allem seinen Pulsschlag kontrollieren konnte. Jesús Gil y Gil, Besitzer, suspendierter Präsident und graue Eminenz des Fußballklubs Atlético de Madrid, hat es arg mit dem Herzen, und am Samstag gegen Mitternacht drohte es ihm mal wieder zu zerbrechen. 13 Minuten vor Abpfiff des Derbys gegen Real Madrid musste der geplagte Gil miterleben, wie seine Mannschaft vor 57 000 weiteren Zuschauern von zwei weißen und einem gelben Mann um einen kleinen Erfolg gebracht wurde. Erst schubste Raúl González, der Kapitän des ewigen Rivalen, im Luftkampf den Torwart Sergio Aragoneses. Das an sich war schon eine Frechheit, zumal Raúl aus dem Nachwuchs von Atlético stammt. Dann köpfelte Iván Helguera aus dem Abseits das 1:2. Schließlich erklärte der junge Schiedsrichter Moreno Delgado den regelwidrigen Treffer für korrekt. Der lebhafte Gil musste sich arg beherrschen ob der Unverschämtheit zugunsten der Macht. „Da wird dir schwindlig, und du könntest kotzen“, berichtete der Patron, dem Spaniens Staatsanwaltschaft sein Hobby wegen Betrugs und anderer Vergehen zumindest offiziell aus der Hand genommen hat. Es gab für ihn und die rotblauen Fans ja nichts Schlimmeres als die Vorstellung, „dass Real Madrid auf unsere Kosten wieder aufersteht“. Genau so ist es am Ende gekommen, dabei hatten die Gastgeber eine Zeitlang dazu beigetragen, den galaktischen Gegner noch tiefer in den Abgrund zu stürzen.“

Routine Moralzerfall

Georg Bucher (NZZ 20.4.) schaut Reals Trainer in die müden Augen: „Carlos Queiroz sind die Spuren der harten Zeit noch ins Gesicht geschrieben. Im Gespräch mit „Marca“ drückte der eloquente Sportlehrer seinen Unmut über die Gesellschaft im Allgemeinen und den Fussball im Besonderen aus. Scheinbar müsse man hier wie dort schlechte Gewohnheiten und Prinzipien akzeptieren. Unglücklicherweise sei der Moralzerfall zur Routine geworden, habe sich das Anormale in Normalität verwandelt. Deshalb gebe es im Fussball weder Gerechtigkeit noch Erinnerung, nur das Wort „gewinnen“ zähle. Erst recht im Bernabeu-Klub. Vor der Saison hatte die Direktion das Ziel vorgegeben, Champions League, Meisterschaft und Cup, das Triple, zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund meinte Queiroz, Real Madrid zu trainieren, sei, wie den Mount Everest zu besteigen. Ohr und Finger müssten geopfert werden, um den Gipfel zu erreichen. Doch magische Formeln seien im Fussball noch nicht erfunden worden. Haften bleibt aber auch der Eindruck, dass es Queiroz nicht verstanden hat, die Klubphilosophie zu interpretieren, aus Weltstars und Nachwuchstalenten, aus „Zidanes“ und „Pavones“ ein Erfolgsteam zu formen. Mit dem Meistertitel und der Abfindung in der Tasche könnte er Queiroz trotzdem guten Gewissens an seine frühere Arbeitsstelle als Assistenztrainer zurückkehren. In Manchester United stehen ihm die Türen offen.“

Bobo, geh’ uns nicht mehr auf den Sack!

Birgit Schönau (SZ 20.4.) protokolliert die Scheidung Christian Vieris von seinem Trainer – und seinem Verein Inter Mailand: „Von Inter Mailands bärenstarkem Stürmer Christian Vieri und seinem Trainer Alberto Zaccheroni wusste man sehr schnell, dass die Flitterwochen vorbei waren. Zu unterschiedlich sind der individualistische Vieri („Was mein Trainer mir am Mittwoch sagt, hab“ ich am Sonntag sowieso vergessen“) und der beharrlich auf Disziplin pochende Chefmelancholiker Zac. Das konnte nicht gut gehen. Zwar wurde der Torjäger noch am Dreikönigstag für seinen 100. Treffer im Inter-Trikot auf dem Spielfeld mit einer goldenen Krone ausgezeichnet. Aber die war aus Pappe, und schon eine Woche später sollte der 30- Jährige beim Auswärtsspiel gegen Udine auf die Bank. Vieri fuhr einfach nicht mit. Stillschweigend akzeptierte er eine Geldbuße, doch den Tifosi reichte das nicht. Kaum einer hatte wie Vieri Tore für Inter gemacht, mehr Tore als Spiele. Und doch, in letzter Zeit jubelte er noch nicht einmal nach einem Treffer, zeigte seine Distanz zum eigenen Klub allzu öffentlich. Währenddessen holte Zaccheroni den in Ungnade gefallenen Alvaro Recoba aus der Versenkung in die Stammformation. Der Serbe Dejan Stankovic kam von Lazio Rom, um den Sturm zu verstärken, aus Parma traf der Brasilianer Adriano ein. Von der Nummer eins war Vieri im Handumdrehen zur Nummer vier degradiert, überholt selbst von dem 20-Jährigen Nigerianer Obafemi Martins. Zaccheronis Inter schien seinen sperrigen Superstar auf einmal nicht mehr zu brauchen – und die Fans, die „Bobo“ Vieri bei jeder Gelegenheit vorwerfen, nur ein Söldner ohne echte Hingabe an die Internazionale zu sein, hatten offenbar nur darauf gewartet. Nie hatte der in Australien geborene Vieri, dessen erste Sprache immer noch Englisch ist, sich mit ihnen verbrüdern wollen. Jetzt zahlten sie es ihm heim. „Bobo, geh’ uns nicht mehr auf den Sack!“, stand während des Spiels gegen Bologna auf einem Spruchband. Ende Februar warfen Ultras Farbbeutel auf zwei Restaurants in Mailand, bei denen Christian Vieri Teilhaber ist. Am Sonntag der letzte Akt: Zaccheroni wollte ihn gegen Bologna wieder nur als Reserve aufbieten, doch Vieri weigerte sich. „Ich brauche eine ganze Stunde, um mich warm zu laufen, da trainiere ich lieber, als im Stadion zu sitzen“, sagte er. Und: „Zu Zaccheroni habe ich keine Beziehung.“ Inter gewann ohne ihn 4:2 und ergatterte den vierten Platz. Kurz vor Ende der ersten Halbzeit sah man Vieri auf der Tribüne. War wohl fertig mit trainieren.“

Lecce die Stadt, die von ihren Einwohnern am meisten geliebt wird

Peter Hartmann (NZZ 20.4.) entdeckt ein Talent in der Provinz Italiens: „„Wer ist der junge Mann mit der 19?“, fragte Hristo Stoitschkow die Sitznachbarn im Stadion Via al Mare von Lecce. „Der hat ein Repertoire wie ein grosser Champion.“ Der einstige bulgarische Weltklassemann, heute Nachwuchschef im FC Barcelona, hatte die Reise an den Stiefelabsatz eigentlich wegen des 18-jährigen Wunderknaben Valeri Boijnow unternommen, eines Landsmanns. Aber in die Augen gesprungen ist ihm Ernesto Javier Chevanton, der drahtige Ballvirtuose aus Uruguay mit dem Drei-Millimeter-Haarschnitt. Stars aus Uruguay haben derzeit keinen guten Ruf in Europa. Recoba, der Liebling des Inter-Präsidenten Massimo Moratti, tanzt seinem Arbeitgeber auf der Nase herum, und Nunez, der Rätselhafte im GC-Dress, scheint an einem ähnlichen Narziss-Syndrom zu leiden (Ich bin ein Star, holt mich hier raus). Chevanton war, wie Recoba und Nuñez, an der unglaublich anmutenden Schmach der 0:1-Niederlage gegen Venezuela beteiligt, aber er ist aus anderm Stoff: ein Artist, der auch Muskeln zeigt, und als Alphatier eines Provinzrudels läuft „Che“ dorthin, wo es schmerzt. Niemand kannte ihn, als er vor drei Jahren von Danubio Montevideo nach Lecce kam, in eine typische Liftmannschaft und in eine der schönsten Städte Italiens mit einer atemberaubenden Barockkulisse. Laut einer Erhebung der Römer Sapienza-Universität ist Lecce die Stadt, die von ihren (100 000) Einwohnern am meisten geliebt wird, eine Insel von erstaunlicher Lebensqualität in der Armut des Mezzogiorno. Aus Lecce stammt ein einziger berühmter Fussballer, Franco Causio, der mit Juventus 6-mal Meister wurde und 63-mal für Italien spielte, aber nun blüht dort auch ein richtiges kleines Fussballwunder. Vor drei Jahren wollte der alte Padrone und Regionalfürst Giovanni Semeraro die Aktienmehrheit am Klub für symbolische 100 000 Lire loswerden, überliess dann aber das Steuer seinem Sohn Ricco. Lecce stieg wieder einmal ab, doch der junge Semeraro widerstand dem Reflex, den Trainer Delio Rossi zu entlassen. Rossi ist ein Schüler Zdenek Zemans. Der Tscheche hatte, mit selbstmörderischen Folgen, bei Roma, Lazio und Neapel die Formel „Tempo & Spektakel“ eingeführt (mit Avellino liegt er derzeit an letzter Stelle der Serie B). Rossi kehrte mit Lecce in die Serie A zurück, mit der jüngsten Mannschaft.“

Ein Mann für die Provinz

Sehr lesenswert! Michael Wulzinger (Spiegel 19.4.) erklärt den Erfolg Otto Rehhagels in Griechenland: „Schon mit vergleichsweise geringem Aufwand weckt der gebürtige Essener große Gefühle bei den Hellenen. Seit er mit dem Nationalteam, bis zu Rehhagels Amtsantritt vor zweieinhalb Jahren eine zänkische und notorisch erfolglose Equipe, überraschend die Qualifikation für die Europameisterschaft in Portugal geschafft hat, wird der gelernte Maler wie ein Volksheld verehrt – und genießt, wo auch immer er in dem Land auftaucht, VIP-Status. Wenn Rehhagel, 65, etwa in seinem Lieblingscafé „Dionysos“ am Fuße der Akropolis bezahlen will, übernimmt natürlich das Haus die Rechnung. Genauso selbstverständlich beordert die Besitzerin des Athener Nobelhotels „Metropolitan“ weit nach Mitternacht noch einmal den Chefkoch an den Herd, weil der prominente Deutsche hungrig vom Länderspiel gegen Bulgarien aus dem Stadion gekommen ist. Selbst die sonst eher ruppigen Athener Verkehrspolizisten geben sich konziliant. „Wenn mich einer anhält, weil ich durch eine abgesperrte Straße gefahren bin“, spreizt sich Rehhagel, „bringe ich das mit einem Autogramm in Ordnung.“ In Deutschland war das zuletzt anders. Nach seinem unrühmlichen Abgang beim 1. FC Kaiserslautern im Herbst 2000 galt Rehhagel im Unterhaltungsbetrieb Bundesliga, den er als Spieler wie als Coach 35 Jahre lang mitgeprägt hat, als nicht mehr vermittelbar. Dabei war dem eigenwilligen Meistertrainer ausgerechnet in der Pfalz 1998 der größte Coup in der Geschichte des deutschen Profifußballs gelungen, als er mit dem Aufsteiger den Titel gewann. Nun kann „Otto Rehhakles“ („Bild“) es all jenen, die ihm in seiner Karriere im Weg standen, noch einmal zeigen – Franz Beckenbauer etwa, der den Coach 1995 als Präsident des FC Bayern erst von Bremen nach München gelockt hatte und ihn zehn Monate später beim Deutschen Rekordmeister abservierte. Für Rehhagel war der Rauswurf viel mehr als die vierte vorzeitige Entlassung: Sein Lebenstraum, zum Ende der Laufbahn Trainer der deutschen Nationalmannschaft zu werden, geriet mit der Schmach außer Reichweite. Und so sieht der Mann, der noch vom Mönchengladbacher Altmeister Hennes Weisweiler zum Fußball-Lehrer ausgebildet wurde, seine eigentliche Mission in Griechenland darin, sich mit dem Team für die WM 2006 zu qualifizieren. Das Turnier böte Rehhagel die wohl letzte Gelegenheit, in Deutschland, wo er sich trotz aller Meriten nicht mehr gebührend gewürdigt sieht, noch einmal auf die ganz große Bühne zurückzukehren. (…) Bis dahin galt als Naturgesetz, dass in Griechenland der Clubfußball einen ungleich höheren Stellenwert besitzt als die Nationalmannschaft. Im Umfeld der Verbandsauswahl herrschten deshalb lange Zeit reichlich chaotische Verhältnisse. Journalisten der täglich erscheinenden und einflussreichen Sportzeitungen, allesamt einem der Großvereine AEK und Panathinaikos Athen oder Olympiakos Piräus nahe stehend, diktierten Rehhagels Vorgängern meist die Aufstellung; die Bosse der wichtigsten Clubs, die zu den Wirtschaftsmagnaten des Landes zählen und die sich die Kicker wie teures Spielzeug leisten, legten bei Berufung ihrer wichtigsten Profis häufig ein Veto ein; und Verbandsfürsten aus der Provinz fuhren, gern in Begleitung ihrer Ehefrauen, regelmäßig als eine Reisegruppe von Nassauern mit zu Auswärtsspielen, wo sie im selben Hotel wie die Spieler logierten und genüsslich intrigierten. (…) Bei Rehhagel spielen nicht die elf Besten, es spielt die beste Elf. Kapriziöse Kräfte wie den Defensivmann Grigorios Georgatos, damals bei Inter Mailand, oder Akis Zikos vom Champions-League-Halbfinalisten AS Monaco vertrieb der Coach deshalb aus dem Kader: Sie hatten seine Autorität öffentlich angezweifelt. Dabei hat der Bergmannssohn, für den Fußball schon als Spieler immer Maloche war, durchaus eine Schwäche für Kreative am Ball. Sie müssen wie einst Mario Basler in Bremen nur die wichtigste Regel beachten: Der Chef ist der Trainer. So erklärt sich, dass selbst ein Star wie Demis Nikolaidis ausgerechnet unter Rehhagel zurück in die Nationalmannschaft fand. Der Stürmer von Atlético Madrid gilt als griechische Version David Beckhams. Er ist mit der hellenischen Popdiva Despina Vandi verheiratet, leistet sich Luxuskarossen in beachtlicher Zahl und pflegt politische Kontakte bis in Regierungskreise. Der Fußball-Pädagoge lässt den schillernden Profi gewähren, denn Nikolaidis erfüllt seine Aufgabe. Zeit seiner Karriere haftete Rehhagel der Ruf an, ein Mann für die Provinz zu sein. Noch heute fühlt er sich geschmeichelt, wenn man ihn als „Kind der Bundesliga“ bezeichnet. Er galt als Archetypus des Trainers, dem das Leben nur in geregelter deutscher Bürgerlichkeit behagte. Doch nun, bei seinem ersten Engagement im Ausland, zeigt sich Rehhagels Anpassungsfähigkeit. Das unübersichtliche Beziehungsgeflecht im griechischen Verbandswesen übt auf ihn einen ebenso großen Reiz aus wie das alltägliche Verkehrschaos Athens. So lässt sich der passionierte Autofahrer fast lustvoll stundenlang durch die Straßen der Metropole treiben. Es stört ihn nicht, dass er die Orientierung verliert, und es stört ihn nicht, dass Motorroller rechts und links wie wütende Wespen an ihm vorbeifliegen. Es ist ein Spiel: Irgendwann gelangt er auf eine Straße, die er kennt.“

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